Tonyar - Kapitel 9.6
Versteckt wartete sie darauf, dass es dunkel wurde. Aber es schien hell zu bleiben. Irgendwann hörte sie, wie ein Pferd sich näherte. Jemand stieg ab und dann vernahm sie Semios Ruf: „Tonyar? Willst du nicht endlich raus kommen?"
Sie schlängelte sich zum Ausgang und schaute Semio direkt in die Augen, der davor stehen geblieben war. Als sie ihren Kopf aus dem Eingang steckte, bemerkte sie sofort, dass inzwischen eine helle Mondnacht hereingebrochen war. Verdutzt sah sie Semio an. Sie hatte in der Höhle nicht erkannt, dass es draußen dunkel geworden war. Das Licht hatte sich zwar verändert, aber die Bedeutung dahinter hatte sich ihr nicht erschlossen.
Semio sah sie kopfschüttelnd an. „Komm", seufzte er.
Sie setzten sich in Bewegung und trafen auf der nächsten Lichtung auf Gindo, Faniso und Massua.
Der Magier lief sofort auf sie zu. „Tonyar, da bist du ja endlich", rief er überschwänglich. Er fasste nach ihren Schuppen und der Drache fauchte ihn wütend an. Faniso grinste und beschwichtigte: „Schon gut. Ich dachte, ich könnte dir vielleicht helfen?" Tonyar setzte sich demonstrativ in einige Entfernung auf den Boden. Niemand konnte andere verwandeln. Sie hatte ihre Kräfte verloren und das würde sie alleine klären.
„Gut, ich verstehe, dass du misstrauisch bist. Ich habe noch nie von so etwas gehört. Vielleicht ist es eine Gestalt, für die man viel Energie braucht? Und du hast mit deiner Verwandlung alles verbraucht? Wenn du etwas wartest und ordentlich geschlafen hast, dann geht es vielleicht", schlug er vor. Aufmunternd sah er sie an. Tonyar lauschte in sich hinein, sie war weder müde noch kraftlos. Im Gegenteil, sie fühlte sich eher, als ob sie ohne jede Mühe ganze Bäume ausreißen könnte. Sie glaubte nicht an seine Zuversicht, deshalb schnaubte sie empört.
Gindo hatte sie staunend beobachtet. Als er endlich seine Sprache wiederfand, sagte er bedächtig: „Sie ist es. Sie ist der Drache aus dem Traum."
Massua sah nachdenklich das Geschöpf an, das wiederum ungläubig zurückstarrte.
„Dann wäre das jedenfalls geklärt. Wollt ihr Tonyar dann nicht langsam erzählen was ihr mir erzählt habt?", fragte Semio spitz. Er schaute spöttisch zwischen Faniso, Gindo und Massua hin und her und fuhr zynisch in die Richtung des Drachen fort: „Wir hatten nämlich gar keine Wahl, als hier her zu kommen. Es ist alles vorherbestimmt. Sogar, wie es scheint, dass du verwandelt wurdest und dass wir Nassia und Josuan gesund und munter in Sendari wiedertreffen. Deshalb suchen wir auch nicht mehr nach ihnen, immerhin ist das Schicksal auf unserer Seite." Tonyar sah fragend zu dem wütenden Tierhüter. Langsam war sie gespannt auf die Erklärung.
Massua steuerte beschwichtigend auf Semio zu und fragte milde: „Bitte. Kann ich das übernehmen?"
Der vollführte eine einladende Bewegung in ihre Richtung. „Natürlich, die Bühne gehört dir", erklärte er zynisch.
Massua lächelte und erzählte von Josuans und Gindos Traum, der sie auf eine Mission schickte, um elf Gefährten zu versammeln, die sich gegen Risotatus erheben würden. Semio war der Dieb, Suaso der Assassine, Nassia die Stammeskämpferin der Katas, Faniso der Magier und Oranos der Krieger. Sie selber war der Drache, es ergab demnach tatsächlich Sinn, dass sie sich verwandelt hatte. Wenn Tonyar noch ein Mensch – eine Formwandlerin – gewesen wäre, hätte sie wie Semio reagiert. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Massua die Wahrheit erzählte. Wie sonst war es möglich, dass Gindo von ihr träumte? Er glaubte an das, was er sagte.
Sie legte ihren Kopf auf ihre Pfote und hörte geduldig zu. Als Massua fertig war, applaudierte Semio ihm. „So Tonyar und jetzt hätte ich gerne deine Meinung zu dem Ganzen. Diese Farce wird nämlich im Desaster enden und sie möchten, dass wir uns darauf einlassen. Was sagst du dazu?" Er grinste selbstsicher. Die Drachendame sah ihn traurig an. Sie würde mit den Gefährten ziehen. Sie wusste, dass sie dann die beste Chance hatte, etwas über ihren Zustand zu erfahren. Ohnehin konnte sie als Drache eher nicht nach Zinoka zurück.
Semios Lächeln erlosch. „Du glaubst ihnen?", fragte er fassungslos. Ungläubig starrte er sie an und legte den Kopf schräg. „Du glaubst, dass sie dir helfen können?", wollte er argwöhnisch wissen. Tonyar lächelte, sie war immer erstaunt, wie gut sich Semio in andere hineinversetzte. Selbst, wenn ihr die Worte fehlten, wusste er, was sie dachte. Sie nickte.
Er schaute seufzend zu Tonyar und sagte resigniert in Massuas Richtung: „Dann ist es entschieden. Wir kommen mit. Immerhin kann ich mich überzeugen, dass es Nassia gut geht. Aber ihr müsst mir noch beweisen, dass eure Geschichte stimmt."
Massua nickte zufrieden und meinte: „Danke. Ich bin froh über eure Entscheidung." Faniso lächelte und bemerkte: „Aber wir müssen noch klären, ob wir den anderen von Tonyar erzählen und ob wir alle in die Mission einweihen?"
Gindo fragte vorsichtig: „ Willst du wirklich alle einweihen? Ist das nicht gefährlich? Naraso und Huti schienen zuerst auch vertrauenswürdig."
„Schon, aber jeder sollte wissen auf was er sich einlässt", erklärte Faniso. „Josuan wollte das so, weil er nicht glaubte, dass wir auf Hilfe verzichten können."
Massua schüttelte unwillig seinen Kopf und meinte: „Also ich sehe das anders. Je weniger sie alle wissen, um so besser für sie. Wir sollten zumindest keine Informationen weitergeben, von denen der Feind nicht auch schon gehört hat. Deine Verwandlung, Tonyar, sollten wir auch erst einmal geheim halten."
Gindo nickte bestätigend und erklärte: „Ja genau. Wir haben schon schlechte Erfahrungen gemacht. Das sollten wir besser nicht wiederholen."
Semio starrte sie alle ungläubig an. „Darf ich erfahren, wie ihr erklären wollt, dass wir Tonyar zurücklassen?", erkundigte er sich zynisch.
„Wir erzählen einfach, dass wir sie auf eine besondere Mission geschickt haben", bestimmte Massua. Semio schüttelte den Kopf und brummte: „Es hört einfach nie auf." Tonyar war im Gegensatz zu dem ehemaligen Tierhüter, jetzt Dieb, froh darüber, dass sie sich nicht der Gruppe offenbaren musste.
„Wir werden allen so viel wie notwendig erzählen, aber nicht mehr. Dass du hier im Verborgenen auf uns Acht gibst, kann eigentlich nur von Vorteil sein", kommentierte Massua und schaute zu Semio. Dann meinte er: „Du kannst dich ja heimlich mit Tonyar treffen. Das du mit der Entscheidung sie wegzuschicken nicht einverstanden bist, kann dir ja zur Tarnung dienen."
Semio nickte grimmig und erwiderte zynisch: „Super, niemand wird auf die Idee kommen, dass ich euch über den Weg traue. Keine Angst, das muss ich gar nicht vorspielen." Er schaute zu Tonyar und rief: „Komm, wir verziehen uns. Ich kann noch eine Weile so tun, als ob ich nach dir suchen würde. Bei euch sieht das aber komisch aus." Damit entließ er die Drei. Die Drachendame bemerkte den kritischen Blick, der zwischen ihnen hin und her ging, doch sie schwieg.
Tonyar nickte den Männern zu und folgte ihrem Freund, der wütend durch den Schnee stapfte. Sein Pferd trottete in respektvollem Abstand hinterher.
Unverhofft blieb der Dieb stehen und drosch auf einen umgeknickten Baum ein. Im Grunde passte die Bezeichnung zu ihm. Niemand würde bestreiten, dass er clever war, geschickt und flink. Sein Einfühlungsvermögen verschaffte ihm anderen gegenüber einen Vorteil. Jedoch sollte er lernen, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Sie trat interessiert näher. Die arme Pflanze konnte doch nichts für ihre merkwürdige Situation, aber Semio beruhigte sich nach einer Weile.
„Tonyar, was mach ich hier bloß. Alles ist schief gegangen", murmelte er und sie blies ihm aufmunternd heiße Luft entgegen. Er hatte Recht, die Mission war bisher anders gelaufen, als geplant. Aber die Gnomlinge waren ein Glücksfall gewesen.
„Und Nassia ist auch weg. Ich hätte mich doch um sie kümmern sollen! Stattdessen rennt sie jetzt mit diesem Josuan durch die Gegend. Sie kennt die Welt nicht, Tonyar. Was wenn Josuan das ausnutzt? Oder noch schlimmer, was wenn sie es nicht geschafft hat?", rief er verzweifelt. Da schien ihm etwas einzufallen und er erklärte: „Oh, den Teil kennst du ja noch gar nicht. Als ich vor der Lawine geflohen bin, habe ich gesehen, wie Josuan in eine Höhle getreten ist. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Nassia dort war. Jedenfalls hat sich diese Höhle wie von Zauberhand geschlossen, bevor die Lawine bei uns war. Ich hätte auch die rettende Stelle erreichen können, wo die Pferde standen, aber durch diesen Vorfall bin ich aufgehalten worden. Nur Gindo, Waf und Massua habe ich noch gesehen. Unser neuer Nasikanführer half den beiden, weil sie wohl etwas zu langsam geflüchtet sind." Gedankenverloren sah Semio in die Nacht.
Dann zuckte er die Schultern und beschied: „Nützt nichts. Ich vermute den beiden ist nichts passiert. Ich verstehe nur nicht, wohin sie verschwunden sind. Das ist schon eine ganz schön seltsame Geschichte." Tonyar atmete erleichtert aus, so hatte sie nicht mehr das Problem, dass sie ihm von ihrer Entdeckung berichten musste. Sie verstand zwar Semios Erzählung nicht, doch die Hinweise verdichteten sich, dass Nassia und Josuan es unbeschadet geschafft hatten.
„Wenn stimmt, was Massua sagt, dann sehen wir sie ja in Sendari wieder. Aber ich weiß nicht, ob ich das alles glauben kann und überhaupt will. Wieso fällt dir das so leicht?", wollte Semio wissen.
Tonyar sah ihn mit großen Augen an. Sie spürte, dass Massua glaubte, was er ihnen erzählt hatte. Aber was, wenn er sich irrte? Sie würden es schon erfahren. Semio rieb bibbernd die Hände aneinander. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er fror, weil ihre Hitze unermesslich zu sein schien. Sie kuschelte sich an ihn.
„Danke, Tonyar. Du bist wirklich schön warm. Kann ich heute bei dir schlafen? Ich habe keine Lust zurückzugehen. Eigentlich war es sogar besser, nicht so viel zu wissen. Da war alles noch einfacher", erklärte er seufzend und die Drachendame gluckste. So wie sie ihn kennengelernt hatte, würde er diese Einstellung schon bald vergessen haben.
Er sackte gegen sie und sie spürte, wie seine Atmung gleichmäßiger wurde. Kurz darauf war er eingeschlafen. Sie fragte sich, ob er in den letzten Stunden seit der Lawine überhaupt geschlafen hatte.
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