Tonyar - Kapitel 9.2
Tonyar war alleine unterwegs, um nach den verschollenen Gefährten zu suchen. Sie hatte ihre Kleidung in einer Spalte bei einem Felsen gelassen und huschte, mal als Maus, mal als Fledermaus, mal als Fuchs oder Wolf über den Schnee. Als Letzteres roch sie alle Nuance ihrer Umgebung und hoffte etwas Ungewöhnliches, zu wittern, um auf die Spur der Vermissten zu kommen. Manchmal kam sie in die Nähe ihrer Gefährten und wandelte ihre Form jedes Mal in ein winziges Lebewesen, damit sie nicht versehentlich für Beute oder gar einen Feind gehalten wurde. Schließlich beobachtete sie Faniso, der etwas vor sich her murmelte und dann aufgeregt in eine Richtung eilte. Sie huschte ihm hinterher: es war nur ein totes Tier, das er fand. Eine Bergziege, wie es schien.
„Die Fläche ist zu groß, Oranos. Bei Lawinen ist es wichtig, die Verschütteten wegen der Kälte und des Luftmangels so schnell wie möglich zu finden. Aber ich weiß nicht wie ich sie finden soll? Sie könnten wirklich überall sein. Vielleicht sind sie gar nicht auf dieser Seite des Berges. Oben haben wir doch gesehen, dass eine kleinere Lawine den anderen Steilhang hinunter ging. Wenn sie nun dort runtergestürzt sind, dann..." Er ließ den Satz unvollendet.
„Du bist der Magier, Faniso. Was soll ich dir schon raten", antwortete der Krieger.
„Es geht bei Magie nicht nur um ein paar Formeln, Oranos. Das weißt du doch. Es geht vor allem um Köpfchen und darum so wenig Energie wie möglich für einen Zauber zu brauchen. Am besten ist gar kein Zauber nötig", erklärte Faniso. Er sah sich verzweifelt um. „Wenn ich doch wenigstens eine Spur hätte."
„Nützt kein Jammern, Ärmel hoch und los geht's. Du weißt, dass wir Nassia und Semio finden werden. Die Chancen stehen gut, dass Josuan bei ihnen ist. Vielleicht solltest du das Mädchen um Hilfe bitten", schlug Oranos praktisch vor. Faniso sah den Krieger zuerst aufgebracht an, beruhigte sich jedoch wieder schnell.
Der Magier schaute nachdenklich und nickte dann: „Du hast ja Recht." Er sah sich um. „Der Schnee muss weg. Aber so viel Kraft hab ich nicht." Er beäugte grübelnd eine Wolke. „Ich kann es wirklich nicht alleine und ich hätte sogar schon eine Idee, wie sie uns helfen könnte."
„Kannst du vielleicht meine Sinne schärfen?", erkundigte sich Tonyar und trat zu den beiden völlig überraschten Männern. Sie hatte sich eine Decke umgewickelt, die sie bei nicht weit entfernten Sachen gefunden hatte. Oranos sprang auf und zückte seine Waffe. Aber als er sie erkannte, grinste er zu Faniso: „Da ist sie ja auch schon! Mal wieder halbnackt, wie man sieht."
„Was soll das heißen? Bin ich etwa das Mädchen?", wollte Tonyar wissen.
Faniso sah sie aufmerksam an. „Tja, meine Liebe. Massua und auch Josuan seit dem Kerker, hatten den starken Verdacht, dass du eine Formwandlerin bist. Aber ich bin entsetzt. Ihr lauscht", kommentierte er.
Tonyar sah ihn hochmütig an. „Ich bin euch gefolgt, weil ihr ganz aufgeregt wart wegen des toten Tiers da vorne. Ich konnte ja nicht ahnen, dass euch ein Ziege so aus dem Häuschen bringt. Was ist nun? Kannst du meine Sinne schärfen?", erkundigte sie sich erneut.
„Das kann ich auch bei mir machen, Tonyar. Das bringt also nichts. Was willst du unter dem Schnee schon wittern", antwortete Faniso betreten.
„Vielleicht habe ich ja Glück, und es kostet mich auch keine Energie", erwiderte Tonyar hoffnungsvoll.
Faniso lächelte und erklärte: „Doch, aber es ist anders bei dir. Wenn du dich zu oft verwandelst, dann bist du doch abends müde, oder nicht? Du bündelst deine Energie nur einmal kurz und bleibst dann in dem Zustand, während ich für längere Zeit einen Zauber aufrechterhalten muss. Bei mir ist der Einsatz eben höher und ich werde deshalb schneller müde. Wenn ich deine Sinne schärfe, müsste ich über einen längeren Zeitraum diesen Zauber aufrechterhalten. Bringt also nichts." Er sah sie nachdenklich an und wollte dann wissen: „Du kannst aber fliegen, oder? Für mich wäre das viel zu anstrengend."
„Natürlich kann ich fliegen! Aber das hab ich schon versucht und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Allerdings ist die Fläche schir zu groß. Ihr habt gerade von einem anderen Steilhang gesprochen, wo ist der?", fragte Tonyar.
Oranos sah sie aufmerksam an. „Auf der anderen Seite. Aber die Fläche dort ist auch gigantisch", erwiderte er missmutig.
Faniso nickte und meinte: „Ich habe aber eine andere Idee. Es gibt ein Tier, das heißt Gasino-Mäuschen. Es lebt im Gestein und kann quasi durch den Stein sehen und sich dann mit seinen scharfen Krallen durch bestimmte Schwachstellen hindurch bohren. Kannst du seine Augen annehmen und dich dann in einen Vogel verwandeln?"
„Leider nur, wenn ich das Tier kenne und gesehen habe, um seinen Blickwinkel zu bekommen muss ich es sehr lange beobachtet haben", erwiderte Tonyar resigniert.
Tief einatmend hob Faniso seine Hände konzentriert. „Vielleicht reicht ja auch schon eine genaue Vorstellung?", versuchte er es mit einer anderen Lösung. Vor den Augen der Drei entstand zuerst eine flackernde Projektion eines Tieres in seiner natürlichen Umgebung, langsam wurde das Bild immer deutlicher. Das Mäuschen kroch durch Gänge und war furchtbar beschäftigt. Da änderte sich die Perspektive und man sah jetzt alles durch die Augen der Maus. Das Tier nahm nicht nur die Oberfläche der Dinge wahr – nein, es sah in die Tiefe. Es unterschied zwar Farben, jedoch nur, um die Ebenen seiner Welt zu staffeln.
„Faszinierend", hauchte Tonyar. Sie fasste nach dem Bild, aber bei der Berührung verschwand es.
„Versuch es mal. Es dürfte sogar im Dunkeln funktionieren", beharrte Faniso. Die Formwandlerin konzentrierte sich und schloss die Augen. Nach dem Öffnen war die Welt verändert. Sie schaute durch die zwei Körper, durch das Pferd und durch den Schnee in den Berg. Jede Schicht hatte eine eigene Farbnuance, die, je weiter sie weg lag, immer dunkler wurde, bis die Ebenen ineinanderflossen. „Wow. Das ist ja wahnsinn", jubelte sie.
„Sie hat ja lila Augen", kommentierte Oranos überrascht. Faniso meinte: „Na dann würde ich jetzt einen Flug vorschlagen. Ruf uns, wenn du etwas gefunden hast. Wir gehen zurück ins Lager. Wenn du sie nicht findest, dann niemand."
Tonyar ließ sich das nicht zweimal sagen. Die anderen warteten auf Hilfe. Als Falke erhob sie sich in die Lüfte mit den Augen dieser Gasinomaus. Sobald sie höher als zehn Schritte flog, sah sie nicht weit in den Boden hinein. Deshalb hielt sie sich in größer werdenden Kreisen direkt über der Oberfläche und bewegte sich dabei von ihrem Ausgangspunkt weg. Dieser neue Blickwinkel war fantastisch, sie erkannte selbst die kleinsten Steine unter dem Schnee. Sie kam am Lager vorbei und sah, wie sich alle versammelten und anfingen, zu essen.
Nach einigen Stunden überkam sie die Müdigkeit, denn der Tag forderte schlussendlich doch seinen Tribut. Sie hatte sich nie zuvor so oft verwandelt. Seufzend ließ sie sich auf einem Baum nieder, um sich ein bisschen auszuruhen. Mit ihrem neuen Blick bemerkte sie, dass in dem Gehölz unglaublich viele kleine Käfer und Maden hausten. Fasziniert sah sie diesem Treiben zu. Sie hatte verdrängt, dass ein einzelner Baum solche Unmengen an Nahrung für ein Tier wie sie beherbergte. Sie pickte etwas an dem Holz und aß sich satt. Es war nicht ihre bevorzugte Art, an Wegzehrung zu kommen. Früher hatte es Zeiten gegeben, da hatte sie sich nur von Gewürm ernährt.
Nachdem sie satt war, schwang sie sich wieder in die Lüfte. Immer weiter trieb es sie. Als sie die Hoffnung langsam verließ, sah sie eine Spalte unter dem Schnee. Fast fünfzig Schritte führte ein Riss quer durch das Gebiet. Er war nicht weit unterhalb der Stelle, an der die Lawine über den Hang gestürzt war. Die Reiter hatten Glück, dass sie nördlicher am Berg ihren Abstieg antraten, sonst wären sie allesamt in den Spalt gefallen.
Sie flog runter. Je näher sie kam, desto mehr sah sie. Ein sich bewegender Körper tauchte zwischen dem Geröll auf und sie blieb in der Luft stehen. Oh beim großen Wustu, wer war das?
Ihre Starre abschüttelnd, stürzte sie zum Spalt. Dort verwandelte sie sich zurück in einen Menschen mit Gasino-Mäuschen-Augen und fing an, panisch zu graben. Sie hatte nur ein bisschen gescharrt, als der zusammengepresste Schnee unter ihr nachgab und in die Höhle fiel. Der Umriss dort in der Tiefe erschrack und sprang aufgeregt zur Seite. Sie selber hatte sich mit einer Verwandlung in einen Falken an die Schneekante gerettet.
Es war ein riesiges Loch entstanden und sie hörte einen panischen Ausruf. Dann war wieder Stille. Sie hatten Glück, dass die Landschaft hier eher flach abfiel, sonst wäre sicher mehr Schnee von oben nachgerutscht. Als sie bemerkte, dass unten Ruhe einkehrte, rief sie: „Alles in Ordnung?"
Ein paar Augenblicke herrschte gespenstische Stille, dann krähte Semio: „Tonyar? Bist du das?"
„Ja, tut mir Leid wegen des Schnees", rief sie zurück.
„Schon gut, das hast du ja nicht mit Absicht gemacht", beruhigte der Tierhüter sie. Sie überlegte kurz, dann verwandelte sie sich in einen Falken und flog zu Semio hinunter. Gleich neben ihm transformierte sie sich zurück.
„Tonyar, so kannst du hier nicht bleiben! Du holst dir ja den tot!", rief ihr Freund erschrocken. Man erkannte mit menschlichen Augen alles – das silberne Mondlicht sorgte dafür.
„Geht es dir denn gut?", fragte sie, ohne auf seine Sorgen zu achten, die ohnehin unbegründet waren.
„Ja, ich hatte wirklich Glück. Jetzt wo ich wieder den Himmel über mir sehe, fühle ich mich auch etwas besser. Ich hatte schon Sorge, dass ich bei lebendigem Leib begraben worden sei. Jetzt weiß ich, dass ihr mich hier wieder rausholt", beschwichtigte er.
Tonyar nickte nur. „Ich muss zurück und Hilfe holen, alleine schaffe ich das nicht. Kein Tier käme hier, ohne zu fliegen, wieder raus. Hältst du noch durch?", erkundigte sie sich.
„Natürlich! Wie gesagt, jetzt weiß ich ja, dass ihr kommt", bestätigte er zuversichtlich.
„Gut – dann – bis gleich!", rief sie und verwandelte sich zurück in einen Falken.
Semio ergriff sie, um ihr den Start zu erleichtern, aber bevor er sie nach oben warf, flüsterte er leise: „Danke!" Da überraschte sie der Wurf, sie fing sich dennoch gleich und flog ohne Umweg zu ihren Sachen zurück, nahm ihre Menschengestalt an und lief zum Lager.
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