Tonyar die Formwandlerin - Kapitel 2.8
Alle verteilten sich auf Ateras Anweisung hin in die Gänge. Tonyar schwirrte durch das Schloss, aber entdeckte nichts Ungewöhnliches, außer dass das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte und viele Fremde durchs Türmchenschloss streiften. Ihre Kleidung hatte ihr Anführer an sich genommen und würde sie beim Treffpunkt verstecken. Dort fand sie alles, als sie ergebnislos ankam. Katu, Gomil, Suaso und der Elb warteten bereits. „Wo ist Semio??", fragte sie als Erstes, denn er fehlte mal wieder. Ateras schwenkte eine kurze Notiz und sah sie aufgebracht an: „Er hat was Besseres vor."
Tonyar stutzte: „Wie bitte?"
„Hier." Ateras hielt ihr die Notiz hin:
Bin draußen. Habe einen Tipp bekommen. Suche den Bunker. Bin zum 1. Gong in der Oase. S. PS In den Herrschergemächern ist niemand.
Tonyar las die Nachricht mehrmals, sie glaubte kaum, dass Semio den Elben überging.
„Du hast also auch nichts davon gewusst", schnaubte der Nachtelb.
„Wir können jetzt nichts ändern, Ateras", Suaso schien trotz allem unbeeindruckt. „Lass uns überlegen, wo sie noch sein können. Weder in den Kellern, noch im Geheimgang, noch im Bedienstetenteil. Genauso wenig wie im Bereich der Herrscherfamilie. Was gibt es noch für Möglichkeiten?"
Keiner hatte eine Antwort. Tonyar schaute zur Stadt und hoffte, dass Semio einer besseren Spur folgte. In der Notiz von Baniras hatte dieser klar gesagt, dass die Gefangenen unten eingeschlossen seien. Warum waren sie jetzt nicht dort? Waren sie in den Bunker gebracht worden, so wie Semio vermutete? Wo immer das war.
„Vielleicht ist Semios Alleingang unsere beste Chance", sagte Suaso. „Auch wenn es dir nicht passt, Ateras." Der Angesprochene starrte düster vor sich hin und lenkte dann mit einem knappen Nicken ein.
„Ich habe vielleicht noch eine letzte Idee, aber sie ist wirklich gefährlich", bemerkte Suaso wie nebenbei. Er hob gerade an, um mehr zu seiner Eingebung zu erklären, da tauchte ein weiterer Mann auf und fragte schroff: „Was ist passiert? Ihr solltet doch vor uns draußen sein."
Katu und Gomil sahen ihn überrascht an. Suaso erklärte: „Es war abgemacht, dass wir uns hier treffen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Sie sind nicht im Keller. Wir haben überall gesucht."
Der Neuankömmling, der die Thronerbin rausbringen sollte, meinte nachdenklich: „Also deswegen ist das Mädel – diese Nassia – verschwunden. Sie hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen und ich habe sie ziehen lassen. Sie ist wohl nicht mehr im Schloss. Ich hoffe aber, dass sie zur verabredeten Zeit zur Oase kommt."
„Wie bitte?", rief Ateras aufgebracht. „Läuft denn hier gar nichts so, wie es soll? Macht hier denn jeder, was er will?" Mit einem Seitenblick auf Katu und Bennoli zügelte er sich und sagte nur: „Semio hat das Schloss bereits verlassen und sucht außerhalb der Mauern."
„Suaso, was ist nun? Hast du noch eine Idee oder nicht?", fragte Tonyar und stellte damit die dringende Frage wieder in den Raum.
Ihr Gegenüber sah nachdenklich die Formwandlerin an. „Vielleicht könntest du mitkommen?", erkundigte er sich bei ihr. Sie schaute erstaunt den unnahbaren Mann an, nickte dann ergeben.
„Ihr solltet zur Oase vorgehen", sagte Suaso. Der Elb wollte protestieren, aber Blick seines Gegenübers, ließ ihm die Worte im Hals stecken bleiben. „Ateras. Nur Tonyar geht mit mir", bestimmte der Andere. Die Augen des Nachtelbs verfinsterten sich, dann rief er schroff ein paar Befehle für den Aufbruch. Die kleine Gruppe entfernten sich rasch.
„Wieso ich? Du weißt schon, dass ich diese Aufmerksamkeit nicht will", herrschte Tonyar Suaso an, als sie alleine waren.
Der überging ihren Einwand ungerührt und führte sie zu einem Geheimgang. Sie schüttelte wütend ihren Kopf und wechselte aufgebracht das Thema: „Wohin gehen wir jetzt?"
Abermals bekam sie nur einen abschätzigen Seitenblick und keine Antwort.
Tonyar zögerte einen Moment, dann stellte sie sich ihm geradewegs in den Weg und erklärte: „Ich bin dir heute gefolgt als du die Notiz abgefangen hast. Baniras hatte die Informationen wahrscheinlich von Riktu." Suaso sah sie aus unergründlichen Augen an. Dann wollte er wissen: „Hast du Tsato mit dem doppelten Spiel von Baniras konfrontiert?"
Tonyar schüttelte den Kopf und antwortet: „Ich traue beiden nicht. Jetzt ist die Zeit abgelaufen und wir haben niemanden, dem wir davon erzählen können."
Suaso nickte knapp, dann rief er: „Komm jetzt."
Resignierend folgte Tonyar ihm. Er führte sie weiter durch Geheimgänge und nahm eine Abzweigung, die sie nie bemerkt hatte. Sie kamen in einen dunklen Flur mitten in den Bereichen der Herrscherfamilie des Schlosses heraus. Hier war sie schon ein paar Mal gewesen, um aus einer geheimen Bibliothek von Risotatus etwas herauszuschmuggeln. Sie wusste, dass vor allem Semio in diesem Areal eingesetzt wurde und hatte daher immer angenommen, dass er sich in diesen Teilen des Schlosses am besten auskannte, aber scheinbar hatte Suaso ebenfalls hervorragende Kenntnisse über das Areal.
Unvermittelt hörten sie Stimmen. „Schnell zur Seite", zischte ihr Begleiter. Sie sprangen hinter einen Vorhang und eine Statue. Zwei Männer schritten flink an ihnen vorbei – sie waren in ein Gespräch vertieft.
„Ihr habt sehr knapp gehandelt, Herr. Niemand wird die beiden in euren Gemächern entdecken", sagte eine Stimme. „Die anderen sind auch weggebracht worden?", fragte der Zweite. „Ja, ihren Aufenthaltsort wurde an die Einge...", leider war nicht mehr von der Antwort zu hören, weil die Gestalten um eine Ecke bogen.
Suaso sah ihnen aufmerksam nach. Einer von beiden war unverwechselbar Riktu – er tauchte an diesem Tag ungewöhnlich oft auf. Den zweiten Mann glaubte sie, als einen unbedeutenden Beamten am Hof zu erkennen. Wenn er mit dem Zwergengnom unterwegs war, konnte er ebenfalls ein Verräter sein. Sie versuchte sich, an seinen Namen zu erinnern, aber es war zwecklos. Resignierend beschloss sie, später Suaso danach zu fragen.
Tonyar folgte ihrem Führer bis zum Ende des Flures, wo ein einsames Bild an der Wand hing. Verblüfft fragte sie sich, ob er sie in eine Sackgasse geschleppt hatte?
Suaso fackelte nicht lange, schob das Gemälde zur Seite und sie krochen durch ein Loch in der Mauer. Dahinter lag eine Treppe, die nach oben führte. Im Anschluss folgte ein Gang, der vor einer Tür abrupt endete. Tonyar hatte sich immer gefragt, was in der blauen Kuppel über den Gemächern der Wüstenlöwen lag, endlich wusste sie es: ein Geheimraum. Suaso drückte gegen die Tür, aber sie gab keinen Spalt nach. „Sie ist magisch verschlossen und kann nur von innen geöffnet werden", flüsterte er. „Kommst du trotzdem durch?", fragte er.
Tonyar nickte.
„Dann mach gleich auf, wenn du drinnen bist", bat Suaso. Im selben Moment verwandelte sie sich, ihre Kleider fielen zu Boden, als sie schon zur Tür schwirrte. Sie fand einen kleinen Spalt und schlüpfte langsam aber kontinuierlich hindurch. Auf der anderen Seite sah sie sofort die Gefangenen. Es waren nur zwei, so wie es aus dem Gespräch zu entnehmen gewesen war. Sie standen festgebunden in Käfigen, die aus engmaschigen Metallstreben bestanden. Einzeln waren sie in diese hineingepfercht worden, wobei ihnen zusätzlich jemand die Augen verbunden hatte. Einem der Gefangenen war die Augenbinde verrutscht und er glotzte kritisch sein Gefängnis an.
Tonyar war unentschlossen, wie sie vorgehen sollte. Wie würde er reagieren, wenn er ihre Verwandlung bemerkte. Sie würde schnell sein müssen.
Um sicherzugehen, dass niemand sonst anwesend war, drehte sie eine Runde als Mücke durch den kleinen Raum. An der hohen Decke erkannte man, dass es sich um das Innere der blauen Kuppel handeln musste. Der Rest war gemütlich eingerichtet. Es gab ein breites Bett, einen Schreibtisch, einen Esstisch und Schränke. Zudem Regale mit Alchemistengerätschaften und vielen Büchern, behagliche Teppiche und ein brennendes Kaminfeuer, über dem ein alter Spiegel hing. Im Grunde hätte das alles für eine angenehme Atmosphäre sorgen müssen, aber Tonyar fühlte sich enorm unwohl. Fast als würde sie beobachtet werden. Obwohl außer den Gefangenen, die sie bisher nicht bemerkt hatten, niemand sonst da war. Sie hatte sogar eine Form gewählt, die keine Geräusche machte, aber das ungute Gefühl blieb.
Nach ihrer Runde setzte sie sich wieder auf die Türklinke. Sie nahm allen ihren Mut zusammen und verwandelte sich zurück in einen Menschen. Ihre Hand ruhte wie beabsichtigt auf der Klinke und sie zog die Tür blitzschnell auf. Einen Augenblick später war sie wieder eine Mücke und drehte sich zu dem Gefangenen um. Verdammt! Der Eine sah mit seinem unbedeckten Auge, irritiert in ihre Richtung. Er hatte sie gesehen, was nicht mehr zu ändern war.
Sie flog an Suaso vorbei, der leise murmelte: „Lopstuns Versteck! Endlich." Er hatte recht, das war der Name des Beamten, dem sie unten im Flur begegnet waren. Aber warum sollte er hier einen geheimen Zufluchtsort haben? Im Gang lagen ihre Kleider und sie zog sich hastig wieder an. Über den Begleiter von Riktu würde sie sich später Gedanken machen.
Dann trat sie durch die Tür. Suaso durchstöberte den Raum, ohne auf die Gefangenen zu achten. Tonyar sah sich um und fand auf einem Tisch deutlich sichtbar einen Schlüssel. Der Bewohner der Kuppel schien ziemlich sorglos zu sein, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass hier jemand eindringen würde. Wahrscheinlich hatte er den Eingepferchten gar keine Chance mehr eingeräumt, hier lebend rauszukommen, ansonsten hätte er wohl kaum seinen heiligsten Ort für die Befragung gewählt.
Tonyar öffnete mit dem Schlüssel den ersten Käfig und nahm dem Gefangenen die Augenbinde ab. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, verzichte aber weiterhin auf alle Art von Geräuschen. Sie schnitt die Fesseln des Mannes durch. Dann lief sie zu dem anderen Käfig hinüber und schloss diesen auf.
„Kommt!", hauchte sie so leise wie möglich. Die Gefangenen hatten ebenfalls kein Wort gesprochen, ob sie die gleiche Beklemmung in diesem Raum spürten wie sie? Tonyar übernahm die Führung, was Suaso bereitwillig zuließ, und marschierte den Gang zurück, den sie gekommen waren. Ihr Begleiter stöberte noch etwas durch die Sachen von Lopstun, tauchte aber bald hinter ihnen auf und fragte knapp: „Namen?" Die Männer sahen ihn fragend an, dann sagte der eine: „Josuan und Massua." Suaso nickte zufrieden, das reichte ihm offensichtlich. Als die Geretteten jedoch Anstalten machten, mehr zu sagen, hob er die Hand und brachte sie zum Schweigen. „Später ist Zeit", bestimmte er und ließ Tonyar die Gruppe die Treppe runterführen.
Sie traten durch die Mauer mit dem Loch, das von dem Gemälde verhängt wurde. Sie eilten den Flur entlang und schlüpften, so schnell es möglich war, wieder in den Geheimgang.
Lautlos richteten sie ihre Schritte Richtung Oase. Tonyar hatte viele Fragen und hoffte, dass sie Suaso später dazu zurat ziehen konnte.
Ungeduldig warteten Ateras, Katu, Gomil und Bennoli an ihrem Treffpunkt. Die Formwandlerin hatte gehofft, dass auch Semio und die Prinzessin inzwischen hier sein würden, aber vergeblich.
„Da seid ihr ja endlich! Und ihr habt sie gefunden!", rief Ateras erleichtert, nachdem er Gomil einen fragenden Blick zugeworfen hatte, der diesen mit einem knappen Nicken erwidert hatte.
„Nun, wenigstens zum Teil", erklärte Tonyar. „Von Semio noch keine Spur?"
„Wisst ihr denn, wo die anderen drei sind: Oranos, Gindo und Faniso?", fragte einer der Befreiten – ein gewisser Josuan.
Ateras sah man deutlich an, dass er mit sich rang. Suaso beschwichtigte mit: „Hab Vertrauen. Im Augenblick ist das unsere beste Chance. Ich glaube sie sollten gefunden werden."
Ateras atmete tief durch und nickte Suaso zu. „Nein, leider wussten wir nicht einmal, dass ihr getrennt wurdet. Aber jemand anderes aus unserer Gruppe hat sie vielleicht gefunden. Ansonsten müssen wir ohne sie los", erklärte der Elb.
Josuan schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich. Wir brauchen sie unbedingt", erwiderte er.
Ateras sah ihn aufmerksam an und fragte verblüfft: „Und wie stellt ihr euch das vor?"
Gutmütig lächelte er. „Ich bin übrigens Josuan", führte er sich erneut ein und deutete eine Verbeugung an. Er zeigte auf den anderen, der ein Nasik war, und sagte: „Das ist Massua." Ateras machte daraufhin seinerseits seine Leute mit den Neuankömmlingen bekannt und umriss in groben Zügen schnell, was passiert war. Josuan erkundigte sich, ob man seine Familie informieren könne, so dass sie nicht Risotatus Häschern in die Hände fielen. Aber Ateras konnte ihn beschwichtigen, dass man sich darum bereits gekümmert hatte. Der Gefangene bat zudem, dass die Eingeweihten gewarnt wurden, dass ihr Versteck in Fengo verraten worden war. Der Nachtelb sah zu Gomil, der nur wortlos nickte.
Eine Diskussion darüber entbrannte, wie ihre weiteren Schritte aussehen sollten. Josuan schien die Oberhand zu gewinnen, aber Ateras war ein kämpferischer Gegner. Am Ende einigten sie sich darauf, den anderen mehr Zeit einzuräumen, wobei klar war, dass das für sie alle brenzlig werden konnte. So starrten sie bedrückt umher und harrten der Dinge, die da kommen mochten.
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