Tonyar die Formwandlerin - Kapitel 2.3
Sie flog zur Tür und kroch durchs Schlüsselloch. Draußen, auf dem Gang herrschte totenstille und eine tückische Leere umfing sie. An der Decke entlang jagte sie fluchtartig über mehrere Stockwerke ins Erdgeschoss. Die Tür war ebenfalls geschlossen, so dass sie wieder den Schlüssellochweg wählte. Sie entkam und flitzte auf direktem Weg zu Semios Zuhause. Dort angekommen, setzte sie sich kurzerhand als Fliege an die Wand und wartete, denn er war nicht daheim.
Irgendwann polterte es an der Tür. Sie war kurz eingenickt und fuhr unwillkürlich zusammen. Beruhigt erkannt sie, dass es sich nur um Semios kleinen Steinbären Tam handelte. Die Tür besaß eine etwas größere Klappe, damit der niedliche Kerl unabhängig aus und ein gehen konnte.
Gerüchteweise hatte Semio den Bären als Kind von seinem Vater Alachin geschenkt bekommen. Dieser war Steinmetz und hatte das magische Tier selbst aus einem riesigen Aquamarin gemeißelt. Der hellgrüne Tam war kurz darauf von einem unerklärlichen Zauber zum Leben erweckt worden. Ein weiteres Anzeichen für Magie war, dass sich gleichzeitig flauschiges, durchsichtiges Zaubermoos um seinen Körper gebildet hatte, dass ihn wie ein Kokon einhüllte. Das Moos galt als etwas Heiliges und kein Wesen würde sich an jemanden vergreifen, dem es anhaftete.
Damals, zu der Zeit war Tonyar gar nicht in Zinoka, hatte es furchtbar viel Aufregung gegeben. Die Leute erzählten noch immer davon, weil eine große Untersuchung der Häscher eingeleitet wurde. Magie außerhalb der Herrscherfamilie sollte es schließlich nicht geben. Da niemand eine Erklärung hatte, war Semios Familie freigesprochen worden. So einen Freispruch gab es selten, meistens fanden die Ermittler etwas, wenn sie einmal angefangen hatten zu schnüffeln. Deshalb sprach auch Jahre später die halbe Stadt davon.
Steintiere waren rar gesät und im ganzen Königreich gab es höchstens zehn Stück von ihnen. Aufgrund dieser Tatsache hatte der Herrscher versucht, Semio den kleinen Bären abzukaufen. Da der Steinbär jedoch immer wieder zu seinem Freund zurückgekehrt war, gab Risotatus letztlich auf. Der Junge wollte ihn zweifellos nie abgeben, doch er hatte keine Wahl gehabt, als der blaue Wüstenlöwe einmal Interesse zeigte. Semio gewann zuletzt, was zusätzlich für die Popularität der Geschichte sorgte.
Selbstsicher spazierte Tam durchs Zimmer zum Tisch und nahm vor einem Teller Platz. Dort lag Brot, das er in kürzester Zeit verputzt hatte. Dann sah er sich um und setzte sich gelangweilt auf den Boden.
Unversehens fixierte er sie. Erschrocken zuckte sie mit ihren Fühlern. Woher ahnte dieser Bär nur, dass hier etwas nicht in Ordnung war? In diesem Moment ertönten Schritte und einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet. Semio trat ein und Tam sprang sofort auf ihn zu, zupfte an seiner Kleidung und zeigte aufgeregt in ihre Richtung.
Der Tierhüter lachte und beugte sich zu dem Bären runter. „Was ist denn heute mit dir los? Alles klar kleiner Mann?" Der Bär wies weiter auf sie und Tonyar beschloss, sich zu verwandeln. Sie flog hinüber zum offenen Kleiderschrank, während die Augen von Tam und Semio ihr sprachlos folgten.
„Ist das...", begann er eine Frage. Sie verwandelte sich im Inneren des Schrankes und nahm sich einen Umhang. Dann trat sie heraus. Der Wohnungsbesitzer hatte seine Waffe gezückt. Als er sie erkannte, ließ er sie wieder sinken. „Tonyar!", rief er überrascht. „Was machst du denn hier?" Schließlich sah er irritiert an ihr herunter. Sie zog den Umhang enger. Normalerweise störte es sie nicht, wenn Leute sie nackt sahen. Das war der Preis dafür, dass man urplötzlich irgendwo auftauchte. Tsato und Ateras hatten sie schon ein paar Mal unbekleidet gesehen. Bei Semio war es ihr jedoch unangenehm. Um sich zu beruhigen, konzentrierte sie sich auf seinen Geruch. Dieser strotzte nur so von Selbstbewusstsein, doch auch Gutmütigkeit und Mitgefühl lagen darin. Genau das, was sie jetzt brauchte.
„Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze. Aber ich brauche deine Hilfe", versuchte sie ihre Unsicherheit zu überspielen.
Semio zog fragend die Augenbrauen hoch. „Seit wann kommst du denn damit zu mir?", fragte er belustigt.
Tonyar legte den Kopf schief. Sie war von seiner Reaktion überrascht.
„Weil ich nicht weiß, wem ich noch trauen kann?", erwiderte sie irritiert.
„Oh und da denkst du an mich?", erkundigte er sich lachend. Dann fragte er ohne Übergang: „Magst du was essen?"
„Willst du nicht wissen, was los ist?", fragte sie verblüfft.
„Doch", dabei nahm er sich eine Kirsche aus einer Papiertüte, die er unter dem Arm hatte. „Aber ich habe Hunger und mit vollem Magen, lässt es sich besser zuhören." Er lächelte geheimnisvoll und holte ein paar weitere Sachen aus einem Schrank dazu: Käse, Wurst und Brot. Tonyar betrachtete die Mahlzeit und legte den Kopf schief. Er konnte doch jetzt nicht an Essen denken? Sonst versuchte er, ihre tiefsten Geheimnisse zu lösen, und plötzlich hatte er alle Zeit der Welt?
Aber schon verteilte er frische Teller und Gläser, nahm eine Karaffe mit Wasser und schenkte ihr ein.
„Setz dich doch", sagte er unbekümmert und deutete auf einen freien Stuhl am Tisch. Tonyar sah zu dem kleinen Steinbären, der hochgeklettert war und sie noch immer kritisch beäugte. Dann setzte sie sich.
Semio fing sofort an zu essen. Sie beobachtete ihn verstohlen und wieder einmal fiel ihr auf, wie attraktiv er aussah. Kein Wunder, denn es war kaum zu verleugnen, dass er Elbenblut in sich hatte. Seine blonden Haare standen wirr von seinem Kopf ab, aber sie passten hervorragend zu seinen mandelförmigen grauen Augen, den leicht spitzen Ohren und seinen braunen Teint. Er gehörte zu dem geringen Anteil von Leuten in Zinoka, der eine gebräunte Haut hatte, denn fast alle bekamen nur wenig Sonnenlicht zu sehen. Semio aber war als Tierhüter oft oben in den Oasen unterwegs und die sengende Wüstensonne konnte dort kaum vermieden werden. Seine Manieren ließen jedoch zu wünschen übrig, stellte Tonyar fest. Bei ihr Zuhause hatten alle immer am Anfang ihre Segenssprüche geäußert, bevor man mit dem Essen anfing. Vorsichtig nahm sie ebenfalls die ersten Bissen und merkte, wie viel Hunger sie hatte. Schweigend brüteten beide über dem Mahl.
Irgendwann bemerkte Tonyar, dass der Halbelb aufgehört hatte, sich zu stärken und sie beobachtete. Überrascht ließ sie ihr Besteck sinken.
„Tsato hat die Hauptleute über das was vorgefallen ist, bereits informiert", verkündete er und Tonyar sprang auf. Dabei warf sie den Stuhl krachend um. Semio sah sie abgeklärt weiter an. „Ich muss dir das nicht sagen, aber ich finde du solltest es wissen bevor du deine Entscheidung triffst. Du kannst jederzeit gehen, aber ich bitte dich mir zuerst zuzuhören."
„Ich kann ihm nicht mehr trauen, wenn er mit solchen Kreaturen Geschäfte macht und nichts gegen die Qualen der Schreiberlinge unternimmt. Das kann und will ich nicht tolerieren", zischte sie.
Semio nickte. „Auch die anderen und ich waren überrascht und keinesfalls einverstanden. Jedoch sehe ich ein, dass es besser ist, wenn Baniras für unsere Seite arbeitet, statt von der anderen umgebracht zu werden. Uns steht es nicht zu über Tod und Leben dieser Kreatur zu entscheiden", meinte er. Herausfordernd schaute er sie an und sprach dann mit fester Stimme: „Ich glaube an Tsato."
Tonyar seufzte und bemerkte: „Ich weiß nicht was ich glauben soll, Semio. Ich habe Angst davor, zu was Tsato noch fähig ist. Sind wir in dem Fall nicht genauso schlimm wie die andere Seite?"
Semio sah sie nachdenklich an. „Wenn wir diesen Krieg wirklich gewinnen wollen, muss auch unsere Seite manchmal schwere Entscheidungen treffen. Wie schon gesagt, was kann Baniras dafür, was er ist? Aber da Tsato ahnte, wie wir auf den Sauger reagieren, hat er uns nichts davon erzählt. Er schützt uns. Ich würde jedoch lieber die ganze Wahrheit wissen, um selbst zu entscheiden, ob ich Teil des Ganzen sein möchte. Diese Geheimnistuerei geht mir wirklich auf den Wustu!"
Sie hatte geahnt, dass er so dachte. Sie hingegen hatte nichts gegen Geheimnisse. Sie hatte selbst genug. Genau wegen solcher Entschlüsse wäre es ihr recht, wenn sie noch weniger gewusst hätte. Sie seufzte und setzte sich wieder.
Semio lächelte.
„Falls du magst, kannst du heute hier schlafen. Ich glaube nicht, dass du in Gefahr schwebst. Egal, ob du hier bleibst oder nach hause gehst." Der Tierhüter schmunzelte sie zuversichtlich an und fragte dann vorsichtig: „Wie geht es dir? War bestimmt kein schönes Gefühl." Tonyar sah ihn unergründlich an.
Sie zuckte mit den Schultern und sah zum Fenster hinaus. Wie sie, hatte Semio eine wundervolle Aussicht auf die Stadt. Die Türme glitzerten im Licht des großen Höhlenkristalls. Bis heute hatte sie Tsato vertraut, jedoch war das zutiefst erschüttert worden.
„Danke für das Angebot, aber ich glaube, dass es das beste ist, wenn ich," an dieser Stelle unterbrach Semio sie. „Tonyar, kannst du nicht einmal loslassen? Bleib. Ich sehe wie erschöpft du bist. Leg dich hin und schlaf, heute Nacht musst du dir ausnahmsweise keine Sorgen machen." Er deutete auf das Bett, dann löschte er die Kerze und verhängte das Fenster und die Kristalle, die das Zimmer beleuchteten. Tonyar sah auf das verlockende Angebot. Er hatte recht, die Begegnung mit Baniras hatte sie furchtbar erschöpft. Die Vorstellung sich erneut zu verwandeln, um nach Hause zu kommen, behagte ihr überhaupt nicht. Deshalb überlegte sie nicht lange und streckte sich kurzentschlossen auf dem gemütlichen Bett aus.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro