Suaso der Assassine - Kapitel 16.1
Der Assassine sah auf Sendari hinunter und wünschte sich ans andere Ende der Welt. Vor langer Zeit hatte er hier einmal ein Leben. Er hatte gehofft, nie wieder herzukommen. Seine ultimative Schwäche lebte hier: Mondola. Die einzige Frau, die er je geliebt hatte. Die Pyramidenstadt symbolisierte für ihn alles, was er niemals haben würde. Huniak hatte gesagt, dass jeder Assassine einen blinden Fleck hatte.
Sein Mentor, der ihnen seit Beginn der Reise folgte, war schon in der Gilde. Er versuchte Informationen über den Fakir, die Nachtelbin, den Pescator, Nassia und Josuan einzuholen. Suaso plante, ihm zu folgen. Dafür würde er sich in der Stadt absetzen müssen.
Auf der Reise hatten sie durch Nachrichten kommuniziert, die Huniaks Adler gebracht hatte. In der Stadt würden sie sich persönlich treffen.
Seine Reisegefährten verteilten sich, während sie überwältigt auf die Wüstenstadt starrten. Die Ausmaße der Pyramide waren gigantisch. Seit der Revolution waren die Eingänge verschüttet und niemand hatte Zutritt.
Semio trat neben ihn und schaute voller Staunen über das Häusermeer, das sich im Mondlicht deutlich absetzte. „Hier hast du einen Großteil deiner Zeit verbracht", sagte er. Suaso sah den Dieb ungerührt an: woher hatte er die Information? Der Mann zwinkerte ihm zu und flüsterte leise: „Ich sollte auch hier zur Schule gehen, aber meine Eltern haben sich geweigert mich wegzulassen. Später einmal habe ich dann herausgefunden, was hier wirklich passiert. Aber keine Angst, euer Geheimnis ist bei mir sicher."
Daraufhin drehte er sich um und lief hinüber zu Dunas. Die Zwei brachen auf, um den Rest der Nacht bei den Drachen zu verbringen. Selbst wenn jeder der Gruppe von den Flugechsen wusste, die Pferde und einige Reisegefährten waren zu nervös, um sie länger um sich zu haben. Deshalb schliefen nur Dunas und Semio bei ihnen, wobei sie sich nie weit weg entfernten.
Suaso legte sich auf sein Lager und schloss die Augen, um die Zeit sinnvoll zu nutzen. Es wurde eine kurze Nacht. Bei Tagesanbruch begab er sich mit dem Dieb und Kanju in die Stadt, um die restlichen Gefährten der Gruppe oder wenigstens Josuan und Nassia zu suchen. Sie gehörten zu den Ersten, die den Weg antraten. Müde folgten ihm seine Begleiter und stolperten linkisch den Berg hinunter. Nach einer Weile erreichten sie die Stadtmauer und betraten mit einigen anderen Händlern, Reisenden und Bauern unbehelligt die Stadt.
Suaso steuerte auf den großen Markt bei der Pyramide zu. Unauffällig beabsichtigte er, sich unter das Volk zu mischen, um etwas über die fehlenden Gefährten herauszufinden. Der Assassine, der die Stadt hervorragend kannte, wusste, dass sie nur durch die Hilfe seiner Gilde eine Chance hatten, die Verbleibenden zu finden. Huniak würde am Markt auf ihn warten.
Auf dem Weg durch die Stadt atmete Suaso die ihn umwehenden Düfte tief ein – das war der Geruch der Heimat. Gewürze, Essen, Staub und Hitze vermischten sich zu einem zähen Brei, aber am Markt war der Eindruck am stärksten. Er saugte ihn in sich auf, ohne davon müde zu werden. Jedes Aroma unterschied er, selbst die Gerüche einzelner Personen erkannte er schnell und würde sie nicht mehr vergessen.
Später würden sich die anderen Gruppen am Markt einfinden. Er plante, bis dahin wieder weg zu sein. Sie hatten vereinbart, sich hier regelmäßig zu treffen und abends gemeinsam zum Lager zurückzukehren. Suaso hatte nicht vor, sich an diesem Plan zu beteiligen. Er wollte auf eigene Faust die fehlenden Gefährten suchen.
Der Assassine entdeckte Huniak, wie er sich mit einem Händler unterhielt. Auf dem Dach darüber hockte sein Adler. Während Semio auf der anderen Seite des Marktes herumschlenderte, war Kanju nicht weit entfernt, spazierte lustlos die Gänge entlang und sah sich die Leute an. Der Traumseher hatte seinen Unmut über die Nutzlosigkeit ihres Unterfangens geäußert, weil die Stadt zu riesig erschien, um zufällig auf eine gesuchte Person zu stolpern. Andere Gruppen klapperten die Herbergen nach Nachrichten von Josuan und Nassia ab. Daran hätte Kanju lieber teilgenommen, aber Suaso hatte dafür gesorgt, dass er bei ihm landete, weil er einen Traumseher bei sich haben wollte. Der Mann war deshalb schlecht gelaunt.
Als Huniak seinen Handel erfolgreich abgeschlossen hatte und weitere Auslagen betrachtete, stellte sich Suaso neben ihn. Sein Mentor berichtete sofort ohne Umschweifen: „Laut Dimkat, gibt es einen Fakir in Sendari. Er steht unter dem speziellen Schutz der Assassinen, auf Wunsch von...", kurz zögerte er, aber das reichte Suaso, er beendete seinen Satz selber: „Mondola."
Ohne mit der Wimper zu zucken fuhr Huniak fort: „Sie ist unbeliebt innerhalb der Gilde. Sie hat Macht über Diebe. Dimkat sprach davon, dass sie die Einzige falsche Entscheidung der Assassinen sei. Keiner weiß, warum sie den Fakir Tamin schützt, denn ihre eigenen Diebe schikanieren ihn." Suaso schaute starr vor sich hin. Huniak erklärte weiter: „Gerade sitzt Tamin in der Marktgasse." Sein Mentor wartete kurz, dann sagte er: „Zur Zeit im Krater." Er hatte verstanden. Zur dritten Stunde, sollte er sich im Heiligtum der Assassinen einfinden. Er nickte knapp, wenn der Ältere mehr Informationen herausgefunden hätte, würde er es ihn wissen lassen. Huniak drehte sich um und strebte davon. Der Zurückgebliebene lief zu Kanju hinüber, besorgt über die Streitigkeiten innerhalb der Gilde.
Der Tiguadade schlenderte lustlos die Stände entlang. Suaso trat zu ihm und schlug vor: „Lass uns ein bisschen die Nebenstraßen langgehen."
Offensichtlich genervt folgte ihm Kanju ohne Widerspruch.
Suaso führte ihn in Richtung Marktgasse, die nicht weit war. Alles schien ihm nach den vielen Jahren furchtbar vertraut. Die Häuser, die Geschäfte, sogar die Menschen, die für Sendari typisch ausladende Gewänder trugen, die in der Hitze, die Luftzüge vom Meer durchließen und sich manchmal regelrecht aufblähten. Es gab sie in allen Farben und er erinnerte sich in einem Geistesblitz an Mondolas rotes etwas engeres Kleid, aus dem er sie mehr als einmal geschält hatte. Viele Jahre waren seitdem vergangen und das Leben hatte ihn weit weggeführt. Er seufzte und schob die Erinnerungen fort.
Als sie die Gasse hinunter schlenderten, bemerkte er sofort Mondolas Schläger, die einen Mann beobachteten. Jeder der sich zu dicht an ihn herantraute, wurde mit gefährlichen Blicken vertrieben. Suaso passierte die eigenartige Gruppierung mit Kanju, der überall hinsah nur nicht zu Tamin. „Sieh", sagte der Assassine. „Der Fakir." Josuans Vater sah etwas irritiert zu ihm, so als ob erst in dem Moment klar wurde, warum sie in dieser Gasse waren. Dann sah er zu dem Mann hinüber. Suaso verfolgte mit Genugtuung, wie sich Kanjus Gesichtszüge von Desinteresse zu Freude veränderten. „Nicht zeigen, was du weißt. Wir reden später", zischte er. Erschrocken setzte Kanju wieder eine unbeteiligte Miene auf. Suaso nickte ihm zu: „Hab, verstanden. Komm wir gehen zurück zu Semio."
Sie kehrten um und der Tiguadade berichtete aufgeregt von seiner Entdeckung. Dass er den Fakir fast übersehen hätte, sagte er nicht. Der Dieb wollte sofort losstürmen und den Gefährten einsammeln. Da trat Suaso ihm in den Weg.
„Nein, Semio. Kanju hat nämlich nicht bemerkt, dass Tamin bewacht wird. Wir müssen erst herausfinden warum", bestimmte der Assassine. Der Dieb wollte zuerst protestieren, beließ es jedoch auf sich bewenden. Er war zwar impulsiv, dabei trotzdem nicht dumm. Kanju schaute betreten von einem zum anderen.
„Ich schlage vor, ihr seht euch weiter in der Gegend um. Haltet die Augen offen. Ich kümmere mich um Tamin. Einverstanden?", schlug er vor. Das war keine Bitte. Beide Männer nickten. Der Assassine war schon im Umdrehen begriffen, da fragte Semio: „Warte, Suaso. Wann treffen wir uns wieder?"
Ohne zurückzuschauen, antwortete er: „Wartet nicht auf mich." Dann marschierte er davon. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Als er zurück in die Gasse kam, saß Tamin auf seiner Matte. Sein Nagelbrett, verschiedene Schwerter und ein Kohlebecken lagen unbenutzt neben ihm. Er wartete darauf, dass jemand Geld hinwarf und er seine Kunst zur Schau stellen konnte. Doch niemand trat näher als ein paar Schritte an ihn heran. Suaso bezog seinen Posten abseits, so dass er Tamin beobachten konnte, aber von den Schlägern unentdeckt blieb.
Nach einer Weile gab der Fakir niedergeschlagen auf. Er packte seine Sachen zusammen und lief gebückt Richtung Markt davon. Die Radaubrüder schickten nur einen gelangweilten jungen Burschen hinterher. Das Dreiergespann schlängelte sich eine Weile durch die Gassen, bis sie Tamins Haus erreichten. Der Fakir betrat es und der Schlägertyp stellte sich deutlich sichtbar direkt vor das unscheinbare Gebäude.
Suaso fackelte nicht lange. Er zog seine Nikse hervor. Sein Lieblingswerkzeug, wenn es darum ging, jemanden schnell und geräuschlos, quasi beim Vorbeigehen auszuschalten. Es war ein dünnes, etwa zwei haarbreit dickes, scharfes Werkzeug, das er selber hergestellt hatte. Die Eintrittswunde war kaum zu finden und fast immer tat man diese Morde als plötzlicher Schlaganfall ab. Erst wenn zu oft mit diesem Instrument getötet wurde, entstand Misstrauen bei den Menschen. Deshalb beherrschte er ebenfalls jegliche andere Waffe und konnte jedes erdenkliche Gift mischen. Sein Lieblingsgift, das einer tief in den Höhlen von Zinoka lebenden Spinne, nutzte er oft an seiner Nikse, um den Tod herbeizuführen, wenn er einmal nicht treffen sollte. Bisher war das nicht vorgekommen.
Suaso war klar, dass er nicht mehr lange vor Mondola unentdeckt bleiben würde und handelte daher rasch. Er betäubte den armen Burschen mit seiner Nikse und ritzte ihm eine drei direkt in die Haut neben der Wunde. Für andere würde der Junge eine Weile wie tot wirken, was vollkommen für seine Zwecke reichte. Ein paar Leute hatten ihn beobachtet, aber das war unerheblich.
Danach spazierte er zu Tamin hinein, der an seinem Tisch saß und weinte. Als er hustete, fuhr er erschrocken zu ihm herum. „Was...", fing der Fakir eine Frage an. Suaso brauchte nur einen Blick, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Pack alles für eine Reise. Ich will, dass du mir folgst", befahl er. Der Mann hub an, um zu protestieren, aber Suasos Mimik ließ ihn abermals verstummen. Kopfschüttelnd suchte Tamin seine wenigen Sachen zusammen. Suaso wartete an der Tür und beobachtete die Umgebung, falls sich die Lage änderte.
Der von ihm Betäubte lag wie tot in der Gasse. Die Leute trauten sich nicht, ihn zu bewegen. Immer wieder deuteten sie zu Tamins Haus. Aber niemand informierte die Lügenbaronin, das war zumindest der Name Mondolas, den Suaso wiederholt hörte. Alle eilten an dem Burschen vorbei und gaben vor, dass er gar nicht da sei. Nachrückende Leute blieben stehen, aber sobald sie sahen, wen sie vor sich hatten, huschten sie rasch weiter.
Suaso gab Tamin einen Tunar, einen Wüstenschleier, den er auf einem Fensterbrett bemerkt hatte, so waren nur die Augen von ihm zu sehen.
Diese speziellen Kopfbedeckungen boten ihren Trägern Schutz vor Sandstürmen, die Sendari hin und wieder trafen. Weil die Stürme oft unerwartet auf die Pyramidenstadt prallten, gab es immer Leute in der Stadt, die nur mit Schleier das Haus verließen und der Anblick würde nichts Ungewöhnliches sein.
Suaso und Tamin kletterten hinten aus einem unverglasten Fenster. Sie schlichen durch ein paar Hinterhöfe, wo sie niemandem begegneten. Um diese Tageszeit waren alle mit ihrem Tagwerk beschäftigt. Dann kamen sie wieder auf die Straße, auf der immer noch jede Menge los war. Suasos Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt. Er lotste Tamin vor sich her, in dem vollem Bewusstsein, dass es das Beste war, wenn sie so schnell wie möglich von der Straße verschwanden.
Der Fakir zitterte wie Espenlaub, aber folgte willig Suasos Anweisungen. So lange der Mann keine Anzeichen erkennen ließ, Widerstand zu leisten, war Suaso das recht. Jede Regung diesbezüglich hätte der Assassine sofort bemerkt, denn seine Gilde wusste über die Angst alles, was es zu wissen gab. Wenn Tamin Gegenwehr plante, würde er aufhören, zu zittern, und beginnen vorsichtig Blicke, um sich zu werfen. Der Verlust der Kontrolle war für die meisten Menschen beängstigender, als den Entschluss zu fassen sich zu wehren. Tamin jedenfalls gehorchte. Ein Fakir hatte weniger von ihm zu befürchten wie jede andere Kreatur. Dieser hier schien ein besonders bedauernswertes Exemplar zu sein. Ein Vertreter dieser Gabe fühlte keine Schmerzen und bedrohliche Verletzungen heilten bei ihm schneller. Selbst verlorene Gliedmaßen wuchsen nach, deshalb wunderte sich Suaso, wovor der Fakir sich so ängstigte.
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