Semio der Dieb - Kapitel 3.1
„Ach, jetzt komm schon", schimpfte der Tierhüter. Mit einem abrupten kleinen Hüpfer, der auf der wackeligen Leiter nicht ungefährlich war, kam er endlich in die Reichweite der Katze und packte sie am Schlafittchen. Sie wehrte sich, hatte aber auf dem Steinbaum keine Möglichkeit, sich festzuhalten. Semio sprang geschickt von der Leiter und setzte das Kätzchen auf den Boden. Sofort floh sie fauchend. „Ein Danke wäre nett!", rief er ihr hinterher. Sie hatte ihm einen ordentlichen Kratzer auf der linken Hand verpasst. Während Tam sein Steinbär ihn mit großen fragenden Augen ansah, kicherte jemand. Empört drehte er sich um. Hinter ihm stand seine und Tams beste Freundin und Risotatus Tochter Nassia, die Thronerbin.
Nachdem Semio sie erkannt hatte, trat er schmunzelnd zu ihr. Sie war die Einzige, die sich so etwas erlaubte. Seine Tante Ziina hatte ihr sicher geholfen, ihn hier im Steingarten zu finden. Denn sie hatte ihn nach der Katze in den königlichen Garten geschickt. Diese dumme Mieze kletterte ständig hier hoch und kam dann nicht mehr runter. Niemand sonst kümmerte das. Nur Ziina bestand darauf, dass sie runtergeholt wurde. Der Garten beherbergte kaum Tiere. Die meisten waren klug genug zu verstehen, dass sie an den Bäumen weder Wärme noch Halt fanden. Nur ein paar Vögel nisteten weit oben in den Kronen. Dahin zog es die Katze, selbst wenn es aussichtslos war. Sie saß immer wieder an der gleichen Stelle fest und jedes Mal kämpfte sie gegen Semio, als würde ihr Leben davon abhängen. Dabei kam er sonst bestens mit allen Tieren klar und war sogar der Tierhüter der Stadt.
Konnte diese Katze nicht endlich aus ihren Fehlern lernen? Die Bäume waren viel zu hoch für sie. Teilweise reichten sie bis zur Höhlendecke. Die Steinbäume lebten, Semio fühlte das. Diese Steine waren anders als das Baumaterial der Höhle und erinnerten ihn eher an Tam wie an totes Granit.
Er sah zu dem Bären, der überschwänglich Nassia begrüßte und sich gierig Streicheleinheiten abholte. Semio seufzte. Er hatte seine zwei liebsten Freunde in letzter Zeit vernachlässigt, da es Wichtigeres zu tun gegeben hatte. Er ignorierte die leise Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass das nur die halbe Wahrheit war.
„Was führt dich her, kleine Lady?", fragte Semio deshalb nur kurz angebunden.
Nassia sah ihn mit aufrichtigen großen Augen an und reichte ihm ihre Schiefertafel. Auf die sie immer alles aufschrieb, wenn sie sich an einem Ort aufhielten, wo sie leicht beobachtet werden konnten. Die Thronfolgerin gab vor, nicht zu sprechen. Die einzige Ausnahmen bildeten er und Tam.
Semio nahm das Täfelchen entgegen und sah, dass es zwei wichtige Neuigkeiten gab. Er las die erste Notiz:
5 Eingeweihte gefangen: Josuan Tiguadade, Oranos Fatasa, Massua Tiguadade, Faniso und Gindo
Semios Atem stockte. Die Tiguadades waren wichtige Rebellen auf Fagadasien. Das hatte er durch einen Zufall herausgefunden. Vor langer Zeit hatte er ein Gespräch von Tsato mit einem Fremden unbeabsichtigt belauscht. Nassia würde den Namen sicher ebenfalls schon gehört haben, aber nicht im Zusammenhang mit den Eingeweihten. Er musste unbedingt sofort ihren Anführer benachrichtigen, selbst wenn ihm die anderen Aufgeschriebenen nichts sagten. Wie hatte sie sich all diese Details nur wieder gemerkt? Nassias Gedächtnis war phänomenal, wobei das für sie völlig gewöhnlich war und sie sich immer wunderte, falls er Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen.
Semio sah zu ihr hinüber, während sie Tam mit ihren traurigen, grünen Augen betrachtete. Nassia sprach seit einer Krankheit nicht mehr, die sie als Kind durchlitten hatte. Er hatte schon oft herauszufinden versucht, warum sie sich damals entschlossen hatte, nicht zu reden. Aber sie blockte diese Versuche immer ab. Selbst wenn sie mit ihm sprach, blieb sie doch verschlossen. Er wusste kaum etwas Privates von ihr, außer dass sie unter Leuten unheimlich tollpatschig und unbeholfen war. Er schmunzelte beim Gedanken daran, wie gerne und häufig sie über ihre eigenen Füße stolperte, verschiedenste Objekte umschmiss und zum großen Missfallen ihrer Eltern die Augen verdrehte. In dieser Beziehung war sie überhaupt nicht prinzessinnenhaft.
Er las weiter:
Heute Abend: Bankett für Trochian Minarode, Aufseher Minandriens
Diese Information konnte wichtig sein, falls die Eingeweihten sich entschlossen die Fünf zu befreien, was selten genug vorkam.
Semio überlegte kurz und sagte dann versöhnlicher: „Danke. Ich sag dir Bescheid, wenn noch etwas sein sollte." Schon rannte er Richtung Küche davon. Er hasste sich dafür, wie er sie abkanzelte, aber im Augenblick war Eile geboten. Der Tierhüter musste Tsato unverzüglich, über die Gefangenen informieren.
Deshalb begab er sich sofort auf die Suche nach dem Botenjungen Sito. Er schickte ihn mit der Bitte um ein Treffen zu dem Anführer. Wie der Bote die Nachricht genau überbrachte, wusste er nicht. Keiner kannte das wahre Gesicht Tsatos. Manchmal hatte Semio das überwältigende Bedürfnis, Sito heimlich zu folgen. Aber das würde sicher nur Ärger geben, vor allem weil das Eingeweihten-Oberhaupt oft genug bewiesen hatte, dass er brenzlige Situationen immer vorhersah.
Semio spazierte zum geheimen Versteck und wartete dort auf Tsato. Er setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete gelangweilt eine Karte, welche die Wüste Katui mit dem sie umgebenden Gebirge Zin zeigte. Es waren sogar einige Oasen eingezeichnet, wobei solche detailgenauen Landkarten strengstens verboten waren. Niemandem war es erlaubt, dieses Wissen aufzuzeichnen.
Er hatte die eigentliche Wüste nie betreten. Die Zinokaoase reichte ihm schon und er vermied die Mittagshitze. Zugegebenermaßen sollte er jetzt dort sein und sich um die Kamele kümmern. Sie hassten es, wenn sie zu lange unter der Erde eingepfercht waren, deshalb wurden sie an der Oberfläche gehalten. Sein Stallbursche würde ohne ihn zurechtkommen – er war es gewohnt, dass der Tierhüter nicht auftauchte. Unruhig stand er auf und stromerte auf und ab. Die Warterei steigerte seine Nervosität. Die Minuten verstrichen bis ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss: „Was ist so wichtig, dass du mich hierher zitierst, Semio?" Nur im äußersten Notfall war es ihnen erlaubt Tsato, der wie immer verhüllt auftauchte, herzurufen. Er hatte angenommen, dies war so ein Situation.
„Fünf Eingeweihte aus Fagadasien sind gefangen genommen worden. Darunter ist Josuan Tiguadade", erklärte er sofort. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er sich die anderen Namen ohnehin nicht merken würde.
„Semio, das weiß ich längst", kommentierte Tsato, seufzte schwerfällig und ließ sich auf ein Sofa fallen. Er überlegte kurz und bestimmte dann: „Ich bin zwischen der vierten und fünften Stunde wieder hier und instruiere Ateras, Suaso, Tonyar und dich. Triffst du die Prinzessin noch einmal? Von ihr stammt doch diese Information?"
„Ich habe nichts mit ihr abgemacht", berichtete er überrascht. Sein Gegenüber nickte nachdenklich, dann erkundigte er sich müde: „Sonst noch was?"
„Die Prinzessin wird heute Abend auf das Bankett zu Ehren von Trochian Minarode gehen", erzählte er steif. Seine Eltern waren nach Minandrien ausgewandert, wo dieser Abgesandte her kam. Sie arbeiteten dort für einen Mann namens Hanos. Er hatte sie nicht aufhalten können.
„Auch das weiß ich", seufzte Tsato schwer. „Ich möchte, dass du dich noch einmal mit der Prinzessin triffst. Wir treffen uns gleich danach hier. Schaffst du das?" Semio nickte gedankenversunken.
„Weißt du, ob sie immer noch von hier weg will?", fragte Tsato unerwarteterweise.
Semio bestätigte dies zweifelnd. Sie hasste ihr Leben und er gab zu, dass er sie um ihre Verantwortung nicht beneidete. Dem Anführer musste klar sein, welche Vorteile es brächte, wenn sie Herrscherin werden würde. Selbst Nassia akzeptierte diese vorhersehbaren Entwicklungen.
„Sag ihr, dass sie heute Abend nach dem Fest zum Trompetenmann kommen soll. Sie wird dort jemanden treffen. Derjenige wird Tsau Tak sagen und sie soll ihm raus in die Oase folgen. Sie geht mit den Gefangenen", befahl das Oberhaupt der Eingeweihten, ohne seinen Beschluss zu erläutern.
„Was? Aber warum?", wollte er fassungslos wissen.
„Ich erkläre meine Entscheidungen nicht, Semio", meinte Tsato und fixierte den Tierhüter. „Sag ihr, sie soll in die Oase kommen."
„Ich muss los", erklärte er noch. Mit diesen Worten drehte er sich um und kehrte zurück zu seinen Aufgaben.
Theoretisch hätte Semio sich bemüßigt fühlen sollen, ebenfalls zu seiner Arbeit zurückzulaufen, aber dafür war erst einmal keine Zeit. Er würde die Thronerbin suchen und dann zurückkommen, um weitere Instruktionen von Tsato zusammen mit den anderen Hauptleuten zu erhalten.
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