Nassia - Kapitel 7.7
Als sie nach einigen Stunden erwachte, war ihr zwar nicht warm, aber zumindest fror sie nicht mehr. Sie schlug die Augen auf und sah Josuans verwuschelten Kopf etwas entfernt liegen. Braune Locken hingen ihm ins Gesicht. Er schlief noch.
Nassia stand vorsichtig auf und kroch zum Höhleneingang – das Feuer war inzwischen herunter gebrannt, aber es begann bereits zu dämmern. Seit gestern Abend hatte sich nichts verändert. Das Pferd wieherte zur Begrüßung. Sie trat zu ihm und streichelte ihm über die Nüstern. Das Tier stupste sie an. In der Satteltasche kramend, beobachtete sie einen weißen Fuchs der durch den Schnee hechtete und gleich darauf wieder verschwand. Endlich hatte sie eine Karotte und einen Apfel gefunden. Sie hielt beides dem Pferd hin, das sofort zuschnappte und es sich schmecken ließ.
Zurück in der Höhle erwartete Josuan sie und fragte fröhlich: „Gibt es etwas zu essen?"
Sie hielt ihm Brot und Trockenfrüchte hin. Die Äpfel hob sie lieber für das Pferd auf.
Josuan verzog keine Miene und antwortete trocken: „Oh toll."
Nassia zuckte mit den Schultern und deutete unschlüssig aufs Feuer. Ob sie es anmachen konnten?
„Lieber nicht. Lass uns essen und dann aufbrechen", erwiderte er kauend.
Nassia seufzte. Er war stur, was dieses Thema anging.
„Ist Fatuna wieder aufgetaucht?", fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Dann lass uns ohne sie nach Giptos aufbrechen. Sie wird schon nachkommen, wenn es ihr passt", meinte Josuan. Danach aßen sie schweigend ihre Mahlzeit.
Den Tag führten sie abwechselnd das Pferd über unwegsame Wiesen, Geröll- und Schneefelder. Bäume gab es wenige – nur ein paar Nadelbäume waren spärlich in der Gegend verteilt.
Je weiter sie kamen, desto dichter stand der Wald. Schnee lag überall. Wenn sie rasteten, schrieb sie Josuan Nachrichten, obwohl das mühsam war. Sie fragte ihn sogar nach Tonyar und der Geschichte in der Kuppel, von der er ihr nur vage berichtet hatte.
Wie hatte er heraus gefunden, dass sie eine Formwandlerin war, denn sie gehörte nicht zu den elf Gefährten?
„Darüber hast du nachgedacht?", fragte Josuan überrascht, als er ihre Frage im Schnee gelesen hatte. Dann erklärte er: „Sie tauchte einfach in Lopstuns Gruft auf. Wie aus dem Nichts. So schnell wie sie aufgetaucht ist, ist sie aber auch wieder verschwunden. Sie hat nur schnell die Tür für Suaso geöffnet. Nackt übrigens. Kurz danach kam sie bekleidet dem Assassinen hinterher. Zusammen haben sie uns befreit und in die Oase gebracht. Da hab ich einfach eins und eins zusammen gezählt. Findest du nicht?"
Nassia wurde rot.
Josuan sah sie belustigt an. „Glaubt ihr mir etwa nicht, Mylady", fragte er grinsend.
Sie wurde noch roter. Aber sie war auch wütend darüber, dass er sich über sie lustig machte.
„Du möchtest doch, dass ich ehrlich bin. Na, da kenne sich einer mit euch Frauen aus", kommentierte Josuan und lachte. Nassia schüttelte nur stirnrunzelnd den Kopf.
Der Traumseher rief: „Eine Frage habe ich auch noch: in der Wüste hat Semio über einen Tam gesprochen und dass er nicht mitgekommen ist. Wer ist das?"
Dieses Mal war sie dankbar, dass er so schnell das Thema gewechselt hatte. Er hatte ihr erzählt, dass der Magier Faniso sie alle magisch belauscht hatte, um mehr über die Gefährten herauszufinden. Deshalb wunderte sie dieser Kommentar nicht.
Sie schrieb:
Tam ist Semios hellgrünes Steintier. Gibt es auf Fagadasien solche Wesen?
Es war still und als sie zu ihm sah, schaute er verblüfft. „Steintiere? Nein, was sind das für Kreaturen?", wollte er interessiert wissen. Mit Händen, Füßen und Wörtern im Schnee erklärte sie es ihm.
Tam = Bär (von Semios Vater gemeißelt + durch Zauber lebendig)
Tam hat mich zu Semio geführt und wir konnten Faniso, Gindo und Oranos befreien.
Josuan nickte, das wusste er sicher bereits durch Fanisos Lauschangriff. Er erklärte: „Steinbären gibt es auf Fagadasien tatsächlich nicht. Aber auch wir haben magische Wesen, denen niemand etwas zuleide tun würde", verkündete er.
Erwartungsvoll schaute Nassia den Traumseher an.
„Sie sind nicht aus Stein. Sie nennen sich Wasser- und Waldtungos, je nachdem wo sie leben", erklärte er.
Nassia war wissbegierig näher gerückt, von Tungos hatte sie noch nie gehört.
„Sie sind ganz scheu, manchmal begegnet man ihnen an der Küste oder im Wald. Sie sind nur so groß wie eine Hand und man sagt, dass sie das Land und die See beschützen. Das Wappenzeichen der Tiguadades ist der Fuchs, aber im Hintergrund haben wir einen Waldtungo, der über ihn wacht und den man nur erkennt, wenn man es weiß", erzählte Josuan.
Nassia lachte, sie hatte das Wappen sofort vor Augen und wusste, dass sie den winzigen hellgrünen Punkt darin, nie hatte deuten können. Ein schneeweißer Fuchs auf dunkelgrünem Hintergrund blinzelte zur Sonne hinauf. Eine blaue Schlangenlinie, ein Fluss, trennte das scheue Tier mitsamt dem Himmelskörper von dem kleinen unscheinbaren Punkt. Vielleicht war auf den Originalflaggen mehr zu erkennen. Irgendwann würde sie bestimmt eine sehen. Wobei ihr die Tragweite dieses versteckten Hinweises bewusst, war: ein magisches Wesen unentdeckt auf dem Wappen der Tiguadades. Die Familie musste schon lange im Untergrund tätig sein.
Sie schrieb:
Tungos = Fabelwesen?
„Kommt ganz darauf an, wen man fragt. Meine kleine Schwester wird dir ziemlich viele Beweise für ihre Existenz auflisten können. Ich habe auch mal welche gesehen, da war ich aber selbst noch ein Knirps", berichtete Josuan.
Sie schwiegen eine Weile, dann schrieb sie in den Schnee:
Große Familie?
Josuan hüstelte und kommentierte: „Oh, das ist aber persönlich."
Erschrocken sah Nassia den Traumseher an. Was war in sie gefahren?
Doch er gab bereitwillig Auskunft: „Nein, nein schon gut. Mein Vater hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. Zudem haben meine Eltern mit mir vier Kinder und es gibt noch meine zwei Adoptivgeschwister. Frag nicht wie viele Cousinen und Cousins ich habe. Meine kleine Schwester Siana ist gerade mal fünf Jahre alt, aber die Zwillinge Josi und Tani sind nicht viel jünger als ich. Massuas Schwester Narani ist Josis Gefährtin und sie haben bereits Kinder. Mein ältester Neffe ist sogar älter als Siana. Massua und Narani sind übrigens mein Adoptivgeschwister."
Nassia erkundigte sich, welche Berufe seine Geschwister ausübten. Bereitwillig gab Josuan ihr darüber Auskunft. Sie spürte, dass er gerne von seiner Familie sprach, besonders von Tani, die im Norden von Fagadasien den Bedürftigen bei den Bergwerken half. Nassia fragte sich, welche Aufgaben der Adlige selber hatte. Als er seine Geschichte in der ersten Nacht erzählte, hatte sie erfahren, dass sein Vater Kanju verschwunden war. Deshalb schrieb sie interessiert:
Du Oberhaupt, seit dein Vater weg ist?
Erschrocken merkte sie, dass sie zu weit gegangen war und strich schnell den Satz weg. Dann formulierte sie versöhnlich:
Entschuldigung. Es geht mich nichts an!
Nassia war von sich selbst überrascht, dass sie so persönliche Dinge ansprach. Vor allem weil sie von sich kaum etwas preisgab.
„Ist schon gut. Ich habe dir schließlich davon erzählt, aber über meinen Vater möchte ich lieber nicht weiter reden", sagte er ausweichend. Er seufzte. „Hast du Kontakt zu deinen Geschwistern?", fragte er abwesend.
Sie zögerte, jetzt stellte er ihr selbstverständlich im Gegenzug persönliche Fragen. Sie schüttelte ihren Kopf. Er antwortete nicht und war in seinen eigenen Gedanken versunken. Es war ihr nur recht, wenn er keine weiteren Nachforschungen zu ihrer Familie anstellte. Das war kompliziert. Wahrscheinlich vermutete er, dass sie die Thronerbin war, aber sie würde es ihm nicht auf die Nase binden.
Still machten sie sich wieder reisefertig. Sie kamen nur langsam voran. Sie hatten Schwierigkeiten, dem Pferd sichere Wege zu suchen. Am Abend schliefen sie, ohne Wache zu halten. Sie hatten dafür keine Energie übrig – der Weg war zu beschwerlich. Sie marschierten durch die Berge und versuchten, so oft es möglich war, auf den Kämmen zu bleiben. Da sie aber die Gegend nicht kannten, nahmen sie viele Umwege in Kauf. Die Kälte trug ihr Übriges dazu bei, um ihnen die Kräfte zu rauben. Da sie nur nasses Holz fanden, trauten sie sich nicht, Feuer zu entfachen, weil man das weit gesehen hätte. Ihr Proviant war nach drei Tagen aufgebraucht und Nassia lernte von Josuan, wie man Fallen baute und fischte. Sie stellte sich geschickt an und es wurde zu einem Wettkampf zwischen ihnen, wer die meiste Nahrung beschaffte.
Am fünften Tag, an dem sie eine besonders fantastische Aussicht hatten, sahen sie einen großen Berg mit Adlerkopf als Gipfel in der Ferne. „Der Hilok", verkündete Josuan erleichtert. Nassia hingegen starrte verzweifelt in die Richtung der felsigen, schneebedeckten Erhöhung, denn das mussten noch unzählige Auf- und Abstiege sein.
Er bemerkte ihre Verzweiflung und beschwichtigte: „Wir müssen nicht bis zu diesem Berg. Ich habe jetzt jedoch eine Ahnung, wo wir sind. Wenn wir an diesem Berg da drüben sind, dann sollten wir auf der anderen Seite absteigen können und es sollte wieder wärmer werden. Ab da können wir in den Tälern reisen. Vielleicht können wir uns auch etwas ausruhen."
Sie spürte, wie ungern er das Letztere gesagt hatte. Aber ihnen blieb keine Wahl, denn sie waren beide furchtbar erschöpft. Manchmal war sie auf dem Pferd, das sie „Packesel" getauft hatten, geritten, weil sie sonst vor lauter Pausen gar nicht mehr vorwärtskamen. Doch das war gefährlich, da jeder Schritt des Tieres abgewägt werden musste.
Nassia wollte schon früher ins Tal absteigen, um sich zu erholen, aber Josuan hatte dagegen gehalten: „Dann ist der Weg nachher nur noch weiter und selbst wenn wir uns eine Weile ausruhen, wird es danach nur noch schlimmer. Wir bleiben oben, weil wir sonst die anderen verpassen."
Weit in die Ferne schauend, versuchte sie, den Weg einzuschätzen. In diesem Moment tauchte Fatunas kleine einsame, blaue Gestalt zwischen dem Geröll auf. Vor gar nicht langer Zeit in der Wüste hatte eine ähnlich Umriss sie gerettet. Nassia zog an Josuans Umhang und zeigte in die Richtung des bläulich schimmernden Gnomlings.
„Oh, da bist du ja wieder. Wo warst du denn?", fragte er betont gut gelaunt.
„Ich habe herausgefunden, dass es allen euren Freunden gut geht. Wir werden sie in Sendari treffen – am Plateaublick", erwiderte sie hastig. Sie warf Josuan einen Blick zu, der sagte: Bist du jetzt zufrieden? Nassia schaute zu dem Traumseher, weil sie einen Wutausbruch erwartete. Er hatte sich dieses Mal aber besser unter Kontrolle und antwortete nur genervt: „Tatsächlich. Danke, dass du die Dinge so weitschauend für uns regelst. Kannst du uns dann vielleicht wieder ins Dunkel bringen, so dass wir schneller ans Ziel kommen?" Fatuna schüttelte traurig den Kopf, erwiderte aber erhaben: „Kann ich nicht, denn ich bin nicht mehr Teil der Gnomlinggesellschaft und kann dementsprechend nicht mehr ihre Vorzüge genießen."
Spitz fragte Josuan: „Wie hast du uns dann wiedergefunden, wenn du so weit weg warst, ohne deine Möglichkeiten schnell zu reisen? Wenn du uns finden konntest, dann können das die anderen Gnomlinge doch auch! Aber daran hast du sicher bereits gedacht." Die Blaue schaute ihn bitterböse an und erwiderte: „Natürlich, ich bin ihnen einen Schritt voraus!" Daraufhin stampfte sie mit ihren kurzen Beinen los.
Josuan wollte etwas sagen, aber Nassia rammte ihm einen Ellbogen in die Rippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Es war erfreulich, dass sie jetzt wieder ein klares Ziel vor Augen hatten. Niemand wartet auf sie in Giptos, was sicher gefährlich gewesen wäre. Fatuna verfolgte ihre eigenen Absichten und hatte dafür gesorgt, dass Josuan ihr nicht in die Quere kam. Was hatte er erwartet?
Nur ein paar Stunden nachdem sie sich ihnen angeschlossen hatte, erwischte Nassia das Gnomlingmädchen, wie sie an ihrer Tasche herumspielte. Die Thronfolgerin stellte sie zur Rede und Josuan und sie erfuhren, wie Fatuna sie gefunden hatte.
Der Gnomling hatte Nassia heimlich ein kleines Metallkästchen untergeschoben. Mit einem anderen Apparat, den Fatuna Ortungsgerät nannte, hatte sie die zwei gefunden. Mit kürzer hintereinander auftretenden Piepstönen gab das Gerät an, dass das Gegenstück nah war. Das Piepsen erkannte Nassia schnell wieder. Sie hatte es gehört, als Fatuna so unerwartet zwischen den Felsbrocken gesessen hatte.
Josuan und sie testeten das winzige Gerät mit seinen vielen ihnen völlig unbegreiflichen Knöpfen voller Eifer: einer von beiden schloss die Augen und der andere versteckte sich zusammen mit der kleinen Maschine. Mit dem Ortungsgerät fanden sie einander immer. Josuan versuchte ab da, mehr über die Gnomlinge und ihre Welt zu erfahren. Aber Fatuna passte auf, dass Nassia nichts preisgab, wobei ihre Sorge unbegründet war. Die Thronerbin hatte die Absicht sich an ihr Versprechen, das sie Lao gegeben hatte, zu halten.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro