Nassia die Stammeskämpferin - Kapitel 5.2
Semios Augen wurden groß, als er Nassia gewahrte: „Und du? Solltest du nicht in der Oase sein, kleine Lady?"
Sie zeigte auf Tam. Beide sahen sie auf den Bären, der sich stolz plusterte. „Und jetzt?", fragte Semio. Der Steinbär zuckte die Schultern und ließ sich von Nassia hochheben. Er kuschelte sich an die Thronerbin, wobei er ihr tief in die Augen sah. Sie streichelte ihm über den Kopf und drückte einen weiteren, letzten Kuss auf seine Stirn, dann ließ Tam sich von ihr an Semio weiterreichen. Er umarmte ihn fest, bis er genug hatte und der Tierhüter ihn absetzen durfte. Zögerlich, aber ohne sich umzudrehen, schritt er davon.
Semio und sie sahen ihm eine Weile hinterher, selbst noch, als er schon gar nicht mehr zu sehen war. Nassia wischte sich verstohlen eine Träne weg, dann sah sie zu ihrem Freund. Der ließ sich nichts anmerken und sagte tapfer: „Komm mit." Kopfschüttelnd fragte sie sich, warum er nicht einmal zeigte, was er empfand?
„Doch mach bitte nichts Dummes!", wies er sie an. Seine herablassende Art ärgerte sie. Dennoch beschloss sie, dass es keinen Sinn hatte, sich mit ihm zu streiten. Zukünftig würde sie ihm das nicht mehr durchgehen lassen.
Erhobenem Hauptes tippte sie ihn an und fragte leise: „Wo sind die anderen? Gehen wir nicht zur Oase?" Semio sah sie genervt an und zischte: „Sei jetzt einfach still, Nassia." Fassungslos starrte sie ihn böse an – sie war immerzu stumm! Aber er beachtete sie gar nicht. Er lief grübelnd vor ihr auf und ab, während er Dinge sagte wie: „Könnte der Bunker im Bettlerviertel sein?", „Wie hieß noch einmal das Lokal?" und „Was könnte nur blaue Hilfe bedeuten?". Schließlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben. „Komm, folge mir", forderte er sie etwas friedfertiger auf. Warum dachte immer jeder, dass man sie nicht in Entscheidungen einbeziehen müsse? Dennoch folgte sie ihm.
Er führte sie durch die Gassen von Zinoka, bis er vor einem hellerleuchteten Turm stoppte. Schreckliche Musik schallte aus ihm hervor, Leute schwirrten innen an den Fenstern vorbei. Vermutlich tanzten sie. „Dort drüben siehst du das Lokal: ‚Zur grünen Palme'? Da muss ich rein. Ich weiß nur, dass dort blaue Hilfe wartet. Vielleicht wäre es besser, wenn ich alleine reingehe", erklärte Semio.
Erschrocken deutete Nassia auf die vielen Betrunkenen, die an ihnen vorbei schlenderten und sie voller Neugier beäugten. Er hatte doch nicht wirklich die Absicht, sie alleine hier draußen zu lassen?
„Tja, du bist nicht gerade hässlich", seufzte Semio und Nassia wurde rot. So etwas hatte er nie zuvor zu ihr gesagt. „Vielleicht gehst du zuerst rein und suchst dir eine ruhige Ecke. Ich komm dann gleich nach", riet er ihr.
Sie nickte und schlenderte zur Tür hinüber, die sie öffnete, während sie versuchte, so teilnahmslos wie möglich zu wirken. Ihr schlug ein Geruch aus Schweiß, Alkohol, Tabak und Cannabis entgegen. Außerdem war die Taverne von einem konstanten Geräuschpegel erfüllt, der sich aus überschlagenden Stimmen, Lachen und schrägem Gesang, der von einem verstimmten Klavier und einer Violine begleitet wurden, zusammensetzte. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht, aber vor der Taverne fühlte sie sich noch schlechter aufgehoben. In dem Lokal konnte sie wenigstens in der Menge untertauchen.
Es gab kaum freie Tische im vorderen Bereich des Wirtshauses, daher schlängelte sie sich zur Theke. Es war recht laut. Deshalb fiel dem Wirt nicht auf, dass sie in Zeichensprache bestellte. Sie deutete auf das Fass und reichte ihm gleich das Geld. Der Schankwirt sah sie zwar scharf an, aber er fragte nur spöttisch über den Lärm hinweg: „Nichts mit richtigem Alkohol?" Er brachte ihr das Gewünschte. Nassia probierte ein bisschen von ihrem Getränk – Wein mit Saft verdünnt. Warum jeder den Trank Traxobs nannte, konnte sie nur vermuten: Trauben mit Obstsaft vielleicht.
Sie drehte sich zum Raum um, entdeckte aber nichts Aufregendes und nippte daher gelangweilt an ihrem Becher. Sie bemerkte beim unauffälligen Umschauen in einer hinteren Ecke einen freien Platz, gleich daneben saß ein Nasik, der ein Buch las. Semio hatte von blauer Hilfe gesprochen, war womöglich dieser Mann gemeint? Er war der Einzige, dem sie in diesem Raum, ein Problem anvertrauen würde. Sie setzte sich an seinen Nachbartisch und trank mit kleinen Schlucken, während sie versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu wirken. An ihrem neuen Standort war immerhin der Lärm nicht so unerträglich wie beim Eintreten des Lokals. Alle waren so mit sich und ihren Gesprächspartnern beschäftigt, dass ihr niemand Beachtung schenkte.
Endlich kam Semio herein. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er zum Tresen spazierte und zwei Bier bestellte. Dann steuerte er auf ihren Nasik zu. Die Männer saßen so nah bei ihr, dass sie das Gespräch mitverfolgen konnte.
„Hier", eröffnete Semio das Unterhaltung, indem er seinem Gegenüber das zweite seiner Getränke reichte. „Du siehst so aus, als ob du Bescheid wüsstest."
„Ach tatsächlich?", fragte der Nasik skeptisch. Er erhob in einer aufhaltenden Bewegung seine Hand und zwei Männer, die aus dem Schatten getreten waren, kehrten sofort zurück an ihren uneinsichtigen Platz. Nassia hatte sie vorher überhaupt nicht bemerkt. „Ich hab dich hier noch nie gesehen", stellte der Nasik fest.
„Vielleicht hast du aber schon von mir gehört. Ich heiße Semio."
Der andere lachte: „Du bist ganz schön vorlaut. Wieso sollte ich schon von dir gehört haben?"
„Das ist einfach eine Vermutung", gab Semio zu.
„Mein Name ist Fistomu."
„Wirklich? Den Namen kenne ich." Nassia sah irritiert zu ihrem Freund. Sie hatte noch nie von diesem Kerl gehört, aber Semio schien nicht nur beeindruckt – sondern vielmehr beunruhigt.
Fistomu feixte und fixierte den Tierhüter: „Was willst du?"
„Eine Information", erwiderte Semio selbstbewusst.
„Oh, Informationen sind mit das Kostbarste, was es in unseren Tagen zu besitzen gibt. Also welche Information suchst du?"
Semio zögerte kurz, dann fragte er: „Gibt es hier irgendwo ein Versteck von Risotatus? Vielleicht nennt man dieses Versteck sogar Bunker, aber das wäre wahrscheinlich zu viel verlangt." Erwartungsvoll schaute ihr Freund, Fistomu an, der seinen Blick ungerührt erwiderte. Schließlich grinste er schelmisch und sagte: „Ja und ja."
„Ich wusste es", triumphierte Semio.
„Warum willst du das denn wissen?", erkundigte sich Fistomu beiläufig.
„Ich, ich muss da unbedingt hin", stotterte der Tierhüter.
Der Nasik brach in Gelächter aus und fragte überheblich: „Tatsächlich? Und denkst du, dass du da einfach an die Tür klopfen kannst und die dich reinlassen? Weißt du was Semio, ich hatte gedacht, dass du etwas mehr Grips hättest, als irgendjemandem so einfach deine Pläne zu verraten. Du hast wirklich Glück, dass ich Risotatus nicht ausstehen kann und ein guter Freund von Tsato bin. Eigentlich müsstest du wegen deiner Fragerei schon in der Gosse liegen." Fistomu sah Semio finster an, daraufhin seufzte er und sagte: „Wenn ich es mir recht überlege, wäre es wohl besser das Gespräch bei mir weiter zufühen. Bist du alleine hier?"
Semio öffnete den Mund und klappte ihn direkt wieder zu. Dann stotterte er: „Nein. Ja – ja, ich hab – ich hab sie alle im Schloss gelassen." Nassia sah ihn aufmerksam an. War er auf Alleingang und hatte seine Befehle nicht befolgt? Sie wusste, was ihr Vater bei Befehlsverweigerung unternahm. Aber welche Maßnahmen ergriffen die Eingeweihten in so einer Angelegenheit?
„Du hast dich von deinen Freunden trennen lassen und gehst alleine gegen Risotatus vor? Du bist ein wirklich hoffnungsloser Fall. Wo sind die anderen?", fragte Fistomu.
„Sie sind im Schloss. Entweder ich schaffe das alleine oder eben gar nicht. Es war Tsato, der mich hergeschickt hat."
Fistomu grinste: „Du lernst immerhin dazu und erzählst mir nicht mehr alles." Mit diesen Worten erhob er sich und fügte knapp hinzu: „Komm mit."
Der Nasik wollte den Tierhüter aus dem Lokal führen, aber er hielt noch mal an. „Meine Freunde nennen mich übrigens Fisto." Semio nahm seine ausgestreckte Hand. „Freut mich Fisto."
In dem Moment trat einer der Männer von zuvor aus dem Schatten und flüsterte dem Nasik etwas ins Ohr. Er sah zu Nassia, die erschrocken wegsah.
„Du bist also doch nicht alleine. Deine Freundin hier hat ziemlich interessiert zugehört", erkundigte sich der blaue Führer und trat drohend zu ihr.
Semio drängelte sich schnell dazwischen. „Schon gut, sie gehört wirklich zu mir."
Fisto sah die Thronerbin finster an. „Wer bist du?", wollte er ungehalten wissen.
Sie schaute zu ihrem Freund. Der antwortete für sie: „Eine Freundin."
„Welche?", fragte der Nasik. Beide, der Tierhüter und die Wüstenlöwin, sahen ihn irritiert an. Der sah sie abschätzend an. „Tonyar bist du nicht", bereitwillig streckte er ihr die Hand entgegen und meinte huldvoll: „Dann musst du Nassia sein."
Sie war völlig perplex und Semio stotterte: „Woher, woher weiß du...?"
Die Thronerbin wunderte sich erstaunt: Wer war Tonyar? Sie hatte nie von ihr gehört. Sie nahm die Hand und lächelte.
Fisto sah Semio fassungslos an. „Ich kann nicht fassen, dass du sie hier her bringst. Jeder weiß, dass die Prinzessin nicht spricht. Wenn sie nun angesprochen worden wäre? Jetzt kommt."
Semio sah Nassia fragend an, dann zog er die Schultern hoch und bedeutete ihr, ihnen zu folgen.
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