Fatuna die Gnomlingin - Kapitel 15.4
Selbst der Weg des Djodos war schon programmiert worden. Ohne Zwischenfälle setzte sich das Fortbewegungsmittel mit Lao und Nassia in Bewegung. Es würde nicht lange dauern, bis sie am Ravia waren, aber dennoch ließ Laobabo die Thronfolgerin ins Dunkel gleiten. Vermutlich, um sich vor ihren Fragen zu schützen. Das letzte Mal hatte sie nicht so viele gestellt, da sie nicht gesprochen hatte. Das hatte sich gründlich geändert.
Irgendwann erkannte Fatuna auf den Geräten, dass die zwei bald ankommen würden. Kurz darauf hielt ihr Laobabo in einem Kontrollraum und weckte Nassia. Die nicht gleich aufwachte – was kein Wunder war, denn sie schlief um diese Zeit. Kurzerhand tippte der Laonio ein paar Befehle in die Konsole und dementsprechend stürzten sie mit dem Djodo einen besonders steilen Weg entlang. Diese Route wurde nicht einmal von den Gnomlingen genutzt, weil sie ihnen zu kühn war. Nassia schreckte sofort hoch und griff panisch nach den Haltegriffen an ihrem Sitz.
Der Laonio schmunzelte und Fatuna hätte sich am liebsten wieder auf den Boden geworfen vor lachen, aber sie hatte Angst, etwas zu verpassen. Abermals lenkte der Laobabo den Djodo in die Haltebucht direkt am Ravia und ließ sie Sonnenguckerin aussteigen. Hier unten war sonst niemand und an den Spinnweben sah man, dass schon lange keine Seele mehr hergekommen war. Zwar beleuchteten Leuchtkristalle den Raum, aber die wenigen mit Büchern überfüllten Regale und jede einzelne Ecke, waren fast völlig von Weben eingesponnen. Der Laobabo nahm eine Stange, die sonst für Notfallreparaturen des Djodos gedacht waren, und spazierte mit ihr durch die Spinnenweben, die daran festklebten. Er säuberte so den ganzen Raum und wusch die Metallstange im Wasserbecken des Fahrballs. Die Sonnenguckerin sah sich in der Zwischenzeit bei den Büchern um. „Hier ist gar kein Tür", sagte sie. „Wir wissen, nicht wie man den Eingang öffnet. Vielleicht ist er auch gar nicht in diesem Raum", erklärte der Laobabo verhalten. Er würde ihr alle Informationen über das Ravia geben, egal wie belanglos sie ihm erschienen. Wer wusste schon, welche Auskunft zum Öffnen des Ravias führen würde. Im Stillen hoffte Fatuna, dass Nassia die Geheimnisse des Ortes heute erschließen würde, aber das war mehr als unwahrscheinlich. Das hatte sie immer gewusst, sinnierte sie.
Nassia stand vor den Regalen und stöberte in den Büchern. Dabei verfuhr sie äußerst sorgfältig. Erst entzifferte sie die Titel und dann, wenn es sie interessierte, las sie Klappentexte und die Inhaltsangaben. Bei Bedarf blätterte sie zu Seiten, die aus unerklärlichen Gründen ihre Aufmerksamkeit erregten. Was Fatuna besonders faszinierte, war, dass Nassia sich keine Stelle zwei Mal ansah. Sie kehrte nie zurück zu Dingen, die sie schon angesehen hatte – nicht einmal zur Inhaltsübersicht. Fatuna hatte ein paar Mal von dem phänomenalen Gedächtnis der Sonnenguckerin gehört, aber zu beobachten, wie leicht sie die Bücher in sich aufsaugte, war doch etwas anderes.
Langsam stöberte Nassia die Bücherreihen entlang, während Laobabo sich an den Schalttafeln zu schaffen machte. Er programmierte das Djodo für den Rückweg. „Ein weiser Gnomling hat immer einen Notfallplan in Reserve", hatte Fatuna ihn schon oft sagen hören. „Aha!", rief Nassia da. Der Laonio sah überrascht zu ihr. Sie kam ihm aufgeregt entgegen: „Hier steht einiges Interessantes, Lao. Leider auch, dass man bestimmte Kräfte haben muss, um das Ravia zu öffnen. Es tut mir leid, aber in mir ist wirklich kein Funken Magie. Ich kann das nicht." Der Lao zeigte keinerlei Gefühlsregung, während Fatuna fühlte, wie sich ihr Herz zusammen zog. Wenn sie Tränen, wie die Sonnengucker hätte, dann würde sie jetzt sicher weinen. Das Ziel schien innerhalb von einem Moment in weite Ferne gerückt. Nassia merkte gar nicht, was die Entdeckung für die Gnomlinge bedeutete. Aber vermutlich war ihr die ganze Zeit klar, dass sie heute nichts unternehmen würde. Kritisch beäugte Fatuna die Sonnenguckerin. Es war keine Entscheidung, die sie leichtfertig treffen würde und sicher nicht alleine. Die Gnomlingin schalt sich, weil sie das nicht früher gesehen hatte! Aber sie war voller Hoffnung gewesen. Sie seufzte, Nassia würde erste einmal Informationen sammeln. Für den Moment würde ihnen das genügen müssen. Wütend warf sie irgendeinen Gegenstand, der in Reichweite war, quer durch den Raum.
Fast hätte sie mit dem Schraubenschlüssel Miata getroffen, die reglos in der Tür stand. Fassungslos sah die Blaue ihre Schwester an. „Ich dachte, dass du mich schon längst gesehen hast", sagte diese verschmitzt. Dann kam sie auf sie zu. Fatuna entfuhr ein gequälter kleiner Laut und rannte auf sie zu, um kurz vor ihr stehen zu bleiben. Sie waren in unmittelbarer Nähe zueinander, aber dichter kam man einem anderen Gnomling nicht. Alles auf einmal sprudelte aus ihr heraus: Die Entscheidung, ihrer Familie den Rücken zu kehren und Nassia herzubringen, die Reise, ihre Enttäuschung jetzt, weil heute nichts mehr passieren würde und alle Geschehnisse der letzten Zeit auf einmal. Waren es nur Tage? Es fühlte sich wie ein halbes Gnomlingleben an!
Miata hörte nur zu. Am Schluss saßen sie eine Weile schweigend da und sahen sich an. Dann sagte ihre Schwester leise: „Ich habe dich so vermisst, Fatuna! Alle dachten, du seist tot. Aber ich wusste, dass das nicht stimmen kann. Ich und Laobabo haben es gewusst. Ich versteh es nicht, Fatuna. Ich versteh es einfach nicht." Sie hatte keinerlei Ahnung, wie sie es ihr erklären sollte. Es war unausweichlich – es gab keinen anderen Weg. So simpel war das.
„Du musst wieder gehen", sagte sie stattdessen. „Du kommst nicht mit zurück? Aber Nassia kann uns doch nicht helfen!", rief Miata verzweifelt.
„Das weißt du nicht und du kannst mich nicht umstimmen. Geh jetzt!", herrschte sie ihre Schwester an. Stärker als sie es beabsichtigt hatte, aber sie konnte nicht anders. Miata starrte sie an und nickte zum Schluss.
„Hier, ein bisschen Algenmus und Mäuseknödel. Das konnte ich heimlich mitnehmen. Pass auf dich auf!", flüsterte sie. Dann schlüpfte sie lautlos aus dem Raum.
Fatuna nahm das Essen ins Visier. Ihre Hände zitterten. Nach einer Weile brachte sie es über sich, zu den Monitoren zurückzukehren. Ihr Laobabo und Nassia waren im Djodo und die Thronerbin hatte zwei Bücher dabei. Ein großes Exemplar und ein eher kleineres. Als Fatuna zu einer Kamera wechselte, die das Ravia zeigte, lag der Ort wieder verlassen da. Die Blaue seufzte. Sie hatte einiges verpasst. Umgekehrt hatte ihre Konzentration auf das Djodo, sie nicht bemerken lassen, dass Miata auf dem Weg zu ihr gewesen war. Jetzt durfte ihr das nicht mehr passieren. Vielleicht würde Nassia ihr später erzählen, ob sie etwas Wichtiges entdeckt hatten. Aufmerksam beobachtete Fatuna die Gnomlinge und das Djodo, aber nichts geschah mehr. Der Lao brachte die Thronfolgerin genau an die vereinbarte Stelle und verließ sie dann dort im Dunkeln. Als die Blaue sichergestellt hatte, dass ihr Laobabo den Rückweg angetreten war, holte sie Nassia ab.
Die Thronerbin stand wie ein Häufchen Elend vor der Rutsche und wartete ungeduldig. Die Bücher, die sie sich ausgesucht hatte, hielt sie eng umschlungen an die Brust gepresst.
„Hallo Nassia, ich danke dir für alle deine Mühen. Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet", murmelte Fatuna, als sie bei ihr ankam. Dabei schob sie ihre Hand langsam in die der Sonnenguckerin. Dankbar erwiderte diese den Händedruck. Dann holte sie den Kristall hervor und ihr Schützling schirmte zwar erst ihre Augen erschrocken ab, aber rasch gewöhnte sie sich an das Licht und sah sie aufmunternd an. Sie erklärte: „Schon gut. Ich verspreche dir, dass ich mir die Sache noch genauer ansehen werde. Du weißt schon, was passiert ist?"
„Ja, ich war die ganze Zeit bei dir", bestätigte Fatuna. „Naja, fast die ganze Zeit."
Nassia meinte nachdenklich: „Kannst du die Bücher, die ich mitgebracht habe, vor den Anderen verstecken? Ich glaube nicht, dass jemand sie sehen sollte."
„Ja, ich werde gut auf sie aufpassen", bekräftigte sie, während sie die Buchbände von Nassia entgegennahm.
„Du kannst sie zurückgeben, sobald ich sie mir genauer angesehen habe. Bei denen sind ein paar Bilder, die ich länger ansehen möchte", kommentierte die Thronerbin und Fatuna sah sie mit fragenden Augen an.
„Lao meinte, dass du sie an Orten lassen sollst, wo Miata sie findet", erklärte Nassia und der Gnomling nickte. Das würde bedeuten, dass Lao und ihre Schwester ab sofort wissen würden, wo sie sich aufhielt, und das war nur möglich über einen Peilsender, den sie nicht hatte. Sie fingerte am Mäuseknödel, den Miata ihr mitgebracht hatte, rum und fand gleich das gesuchte Gerät darin – einer von der Sorte, mit der sie Nachrichten übersenden konnte. Wenn jemand eine Mitteilung geschickte hatte, leuchtete eine kleine Lampe und man drückte einen Knopf, um diese vorgespielt zu bekommen oder zu lesen. Sobald man eine andere Taste betätigte, war es möglich selber eine Notiz aufzunehmen, die dann dem Empfänger zugespielt wurde. Die kleine Lampe blinkte wie verrückt, aber für den Moment ignorierte Fatuna das und versteckte den Peilsender schnell hinter ihrem Rücken. Verlegen sah sie zu Nassia, die nichts bemerkt hatte. Die Blaue hatte die Wahl, sie hätte den Sender zurücklassen können, aber dann war ihre einzige Verbindung zu ihrer Familie wieder gekappt. Das wollte sie nicht mehr durchstehen. Widerwillig ließ sie das Peilgerät in ihre Tasche gleiten. Ihr Vater würde schon damit zurechtkommen, dass er sein Wissen verbergen musste.
Schweigend liefen sie den Weg nebeneinander her. Fatuna merkte der Sonnenguckerin an, dass sie erleichtert war, als sie die Oberfläche erreichten. Nassias Atmung verriet sie, denn sie war unter der Erde kürzer gewesen. Sobald sie wieder oberirdisch waren, normalisierte sie sich innerhalb kürzester Zeit.
Der Morgen graute, als das Lager in Sichtweite kam. Saverani saß am Feuer – es schien, wie wenn sie sich kaum in ihrer Abwesenheit bewegt hätte. Beim Betreten der Lichtung schnellte ihr Kopf hoch und lächelte ihr warmes, stilles Lächeln.
Die anderen schliefen noch von dem Schlafmittel, das die Elbin ihnen ins Essen gemischt hatte. Nassia legte sich sofort hin und schlummerte innerhalb von Sekunden ein. Sie würde jeden Augenblick nutzen, um die verpasste Schlafenszeit wieder aufzuholen. Fatuna selber streckte sich ebenfalls erschöpft aus und griff nach dem kleinen Sender in ihrer Tasche. Er gab ihr Sicherheit. Zum ersten Mal seit langem schlief sie sofort ein, während Saverani weiter über sie wachte.
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