C36 - Achtung, Baum fällt.
Seit ich Harry das erste Mal in einer Fußgängerzone im Herzen Londons gesehen habe, war es mein größter Traum gewesen ihn zu treffen, mit ihm zu reden und mehr über ihn zu erfahren. Seine Locken, die ihm durch den leichten Nieselregen damals an der Stirn geklebt sind, sein freundliches Lächeln, das er auf den Lippen trug, gekoppelt mit dem schlichten, aber stylischen Outfit, haben all meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich war sofort verzaubert. Für mich war es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick.
Was sich jedoch letztendlich daraus entwickelt hat - damit hätte ich in meinen tiefsten Träumen nicht rechnen können.
Niemals hätte ich mir ausmalen können, dass Momente, wie dieser, tatsächlich passieren können. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass seine Lippen so weich sind, dass er so gut küssen kann und dass jede Zelle meines Körpers so heftig auf ihn abfährt.
Versteht mich nicht falsch - ich lag abends öfters im Bett und habe mir sämtliche Szenen mit ihm vorgestellt; wie Harry mich vor einer Bande gewalttätiger Räuber rettet, oder wie er mich auf den Abschlussball meiner Schule begleitet und wir Melissa und Justin die Krone des Homecoming-Pärchens entreißen, oder das eine Mal, als wir uns zusammen durch den dichten Dschungel Südamerikas kämpfen mussten, und von einem Drogenkartell verfolgt wurden. All diese Szenarien waren fiktiv und ausgedacht, aber das hier - das ist real. Es passiert wirklich und ich hätte mir einen ersten Kuss nicht schöner ausmalen können.
Er raubt mir wirklich den Atem und jeglichen Verstand. Es fühlt sich an, als würde ich den Boden unter meinen Füßen verlieren und beginnen zu schweben.
"Tanny?"
Warte-
"Tanny! Tanny! Wach auf!", höre ich eine Stimme wie durch einen Tunnel zu mir hindurch rufen.
Oh bitte nicht. Sag mir nicht, dass das nur ein Traum ist! Ich kann mir das unmöglich alles eingebildet haben!
"Lass mich mal", nehme ich eine andere Stimme wahr. Kurz darauf spüre ich einen brennenden Stich an meiner Wange und wage es meine Augen langsam wieder zu öffnen. Das taube Geräusch um mich herum beginnt ebenfalls zu weichen.
"Hey, da ist sie ja wieder", höre ich Luna erleichtert reden und blinzele ein paar Mal kräftig.
"Hast du ihr gerade wirklich eine Ohrfeige gescheuert?"
"Wie hätte ich sie denn sonst wach bekommen sollen?"
Völlig verwirrt blicke ich in die Gesichter von Luna, Benni und Harry, die sich sichtlich erschrocken über mich gebeugt haben und mich verwundert mustern. Da das Gefühl in meinem Körper langsam wieder zurück kommt, bemerke ich nun auch den harten Boden unter meinem Rücken.
"Was", stammele ich verwundert und versuche mich aufzurichten. Mit der Hilfe von den Dreien erreiche ich eine sitzende Position und versuche mich aufrecht zu halten. "Was ist passiert?"
"Du bist umgekippt", höre ich Harry nun sagen, der mich mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis anblickt. Seine Hand auf meinem Arm kribbelt.
"Umgekippt?", frage ich wiederholend und nehme das Glas Wasser, das ich von Benni gereicht bekomme an, um ein paar Schlücke zu trinken.
"Ja, irgendwas hat dich aus den Latschen gehauen", sagt Harry wieder und versucht das Grinsen zu unterdrücken, das ich jedoch trotzdem wahrnehme. Ich bin umgekippt? Ich kann mir das gerade unmöglich eingebildet haben.
"Aber was macht ihr hier?", frage ich an Benni und Luna gerichtet.
"Du warst zehn Minuten weg", meint Luna nur und deutet auf Harry. "Er hat Panik bekommen und uns geholt, nachdem er dich nicht wachbekommen hat."
"Zehn Minuten?", wiederhole ich mit großen Augen und halte mir den Kopf. "Was zu Hölle?!"
"War wohl doch etwas zu viel heute", meint Benni und beginnt mich hochzuheben, um mich die wenigen Schritte auf das Bett zu verfrachten. "Ich glaube du solltest dich etwas ausruhen Tanny."
"Ja", murmele ich, als ich den weichen Untergrund wahrnehme und mir über das Gesicht fahre.
"Wir sind nebenan, falls du noch was brauchst", sagt Benni und schenkt mir noch ein Lächeln und Harry einen unauffälligen, scharfen Blick, ehe er mit Luna wieder den Raum verlässt und die Türe hinter sich schließt.
Stumm blicke ich zu Harry, der wenige Schritte vom Bett entfernt steht und das Grinsen nun nicht länger unterdrücken kann. Wie auf Knopfdruck spüre ich die Röte, die mir ins Gesicht schießt und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.
"Sag mir nicht, dass ich einfach umgekippt bin", murmele ich nur peinlich berührt.
"Wie ein gefällter Baum", verschmachtet Harry jedoch all meine Hoffnungen lachend und setzt sich an die Bettkante meines Bettes.
"Oh mein Gott", stoße ich aus und weiß nicht so ganz was ich noch sagen soll.
"Wer hätte gedacht, dass ich dich so um den Verstand kriegen kann", lacht er leise und blickt mich an. "Geht es dir gut?"
"Ja", versichere ich nickend und verschiebe den immer noch benommenen Zustand so gut es geht. "Ich schätze ich ... keine Ahnung."
"Ja", meint Harry nur und lächelt mich an. "Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt."
"Tut mir leid", murmele ich nur.
Er hebt seine Hand in eine senkrechte Position und ahmt wohl meinen Fall damit nach. "Du bist wirklich einfach so ... und ich konnte dich gerade noch so auffangen, bevor dein Hinterkopf deine Kommode getroffen hätte. Das wäre weniger schön geendet."
Ich murre nur ein paar Laute vor mich hin, kann das Grinsen aber nicht vermeiden, das sich in meinem Gesicht ausbreitet.
"Jetzt sind wir immerhin quitt", lache ich und bekomme einen fragenden Blick von Harry zugeworfen. "Als du vor meinem Vater den Boden geküsst hast, weil du so ein Riesen Fan von ihm bist?"
"Hey", murrt er auf und schüttelt seinen Kopf. "Na gut, schätze wir sind quitt."
"Ich wollte dich nicht erschrecken. Du haust mich halt immer wieder um", sage ich irgendwann.
"Sorry", entschuldigt er sich lachend und greift auf einmal nach meiner Hand. Sofort spüre ich die Hitze, die sich in mir ausbreitet und das verknotende Gefühl in der Mitte meines Bauches. "Ist mir auch noch nie passiert. Dass jemand einfach umfliegt, nur weil ich diejenige geküsst habe."
Ich habe es mir also nicht eingebildet. Gott sei Dank! Die Gewissheit, dass es wirklich passiert ist tröstet mich ungemein und lässt mein Herz nur noch schneller schlagen.
"Na ja, ist auch mein erstes Mal, dass ich während eines Kusses das Bewusstsein verliere", antworte ich und blicke auf seine Hand, die meine Hand sanft auf und abtastet.
"Benni hat recht", sagt er dann und beginnt aufzustehen, lässt meine Hand los und streicht sich über das Tshirt. "Du solltest dich etwas ausruhen."
Ich will protestieren, dass er sich nicht entfernen soll, aber bleibe still. Stattdessen nicke ich nur, weil die Müdigkeit auf einmal wie ein großer Schwall über mich fällt. "Ja, du dich auch."
Harry nickt, ehe er sein Handy und seinen Schlüssel einsammelt, die auf dem Tisch liegen. "Mache ich. Du sitzt, oder? Fällst nicht mehr um?"
"Nein", lache ich nur und tippe auf das Bett unter mir. "Ich hab festen Grund unter den Füßen."
"Gut", sagt er nur und kommt wieder näher, lehnt sich über das Bett zu mir und ehe ich mich versehen kann, entfacht er ein weiteres Feuerwerk, als er mich noch einmal ohne Vorwarnung küsst.
Dieses Mal nur ganz leicht und ganz kurz, aber er tut es.
So schnell, wie es passiert ist, so schnell ist es auch wieder vorbei. Mit wenigen Schritten läuft er zur Türe, blickt mich noch einmal lächelnd an, wünscht mir eine gute Nacht und lässt mich in toller Verwirrung und Euphorie in meinem Zimmer zurück.
Was zur Hölle ist gerade passiert?
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Die Kopfschmerzen, die ich am nächsten Morgen ertragen muss, deuten auf die schlaflose Nacht, die ich hinter mir habe. Trotz meiner Müdigkeit und Erschöpfung habe ich kein Auge zubekommen, habe mich von einer Seite auf die andere gedreht und mein Gehirn verflucht, dass es nicht aufhören kann an die geschehenen Momente zu denken. Klar, die Ereignisse sind eine Menge und müssen verarbeitet werden, aber der Schlafmangel den ich nun erleide ist nicht sonderlich angenehm.
"Hallo Sonnenschein", begrüßt Benni mich mit ironischem Unterton beim Frühstück, nachdem er mich kurz gemustert hat.
"Was ist denn mit dir passiert?", fragt Luna mich ehrlich erschrocken.
Ich ziehe mir die Sonnenbrille aus dem Gesicht und seufze auf, lege mein angebissenes Croissant auf den Teller, anstatt weiterhin zäh auf ihm herum zu kauen.
"Ich habe keine Sekunde geschlafen", sage ich ehrlich.
"Das sieht man", murmelt Benni nur und nippt an seinem Kaffee. Einen Blick zu ihm werfend nehme ich ihm seine Tasse aus der Hand und kippe sie selbst herunter. "Hey!"
"Warum? Du warst doch total erledigt", kommt es fragend von Luna.
"Dieser Kaffee ist echt nicht der Wahnsinn", murmele ich und reiche Benni seine leere Tasse wieder zurück. "Ich weiß nicht Luna, es war einiges zu verarbeiten. Mein Gehirn hat nicht aufgehört zu denken."
"Was?", fragt Benni überrascht. "Es funktioniert also doch?"
Während Luna leise kichert, ignoriere ich seinen Kommentar und widme meinem Handy sämtliche Aufmerksamkeit. Die musternden Blicke der Beiden mir gegenüber bekomme ich so gar nicht richtig mit. Erst, nachdem ich eine E-Mail gelesen habe, ergreife ich erneut das Wort.
"Mein Dad fragt mich, ob ich die diesjährige Show der Frühjahrskollektion organisieren und leiten will... Weißt du was darüber?"
"Hm", murmelt Benni nur und zieht die Schultern nach oben. "Mein Vater hat irgendetwas davon gemeint, dass es gerade ziemlich stressig zu geht und die Beiden nicht genau wissen, wie sie die Zeit für die aufkommende Fashion-Week auftreiben sollen. Ich schätze sie wollen dir das Ganze aufdrücken."
"Mir?", frage ich überrascht. "Ich bin nicht gerade dafür bekannt die besten Shows auf die Beine zu stellen."
"Oh ja", lacht Benni und deutet auf die Show vor fünf Jahren hin, die wir nach wochenlangem Betteln eigenständig auf die Beine stemmen durften. Und das auch nur, weil meine Mutter extrem davon überzeugt war, dass es unseren Persönlichkeitsentwicklungen gut tuen würde, wenn wir Verantwortung übernehmen würden. Das Team, das mich in meinen Entscheidungen unterstützen sollte, haben Benni und ich direkt gefeuert und unser eigenes Ding durchgezogen.
Die Kulisse und der Charme eines Schrottplatzes kam nicht sonderlich gut bei unseren Vätern an. Und als dann auch noch ein zugedröhnter Snoop Dog auf der Bühne sämtliche skurrile Dinge an den Tag gelegt hatte, waren Negativschlagzeilen vorprogrammiert. Immerhin hatten wir für reichlich Aufmerksamkeit und Publicity gesorgt.
"Ich denke nicht, dass eure Väter das je vergessen werden", kichert Luna nur.
"Eben", meine ich zustimmend und unterdrücke mir ein Gähnen. "Ich schätze ich muss ihn mal anrufen und nachfragen."
"Mach das", sagt Benni nickend. "Vielleicht hat er den falschen Empfänger eingetippt."
"Möglich", schmunzele ich nur und fokussiere mich direkt wieder auf den Bildschirm, als ich eine Nachricht von Harry auftauchen sehe, in der er mir eine Zeit und einen Ort mitteilt. Mehr Informationen sind da nicht.
"Also, was steht heute an?", fragt Luna in die Runde. "Wohin verfolgen wir Harry heute?"
"Was?", murmele ich und blicke auf, aus meinen Grübeleien über seine Nachricht herausgeholt.
"Na ja, das was wir eben immer tun", meint sie und legt ihren Kopf leicht schräg. "Alles okay bei dir?"
"Ja, na klar. Ich bin nur müde", erwidere ich Kopf schüttelnd und winke ab. "Ich ... Ich würde sagen ihr habt heute frei."
"Frei?", fragt Benni mit gehobener Augenbraue, während er seinen neuen Kaffee mit Zucker ausstattet und verrührt.
"Ja", nicke ich. "Ich würde mich gerne ausruhen. Ich bin komplett erledigt, habe nicht geschlafen. Ich lege mich am Besten noch mal hin."
Warum ich ihnen nichts von Harrys Nachricht, und den Geschehnissen mit Harry erzähle, weiß ich selbst nicht so genau. Meinen besten Freunden so etwas zu verheimlichen verschafft mir direkt ein komisches Gefühl im Bauch, aber alles ist so plötzlich passiert. Ich weiß selbst nicht einmal richtig was da genau passiert ist und was es zu bedeuten hat. Ich rede mir ein, dass ich es selbst erst herausfinden muss. Und das alleine.
"Bist du dir sicher? Brauchst du irgendwas? Wir können auch zusammen einen Filmmarathon starten und über Brad Pitt schwärmen", fragt Luna noch einmal, aber ich winke ab.
"Ich komme schon klar. Ich mache mir einen Tee und schlummere noch etwas vor mich hin. Ihr macht euch einen schönen Tag, erkundet Rio ein bisschen. Ich bin sicher hier gibt es viele Dinge zu sehen, die auch schön sind und einen nicht erschießen wollen."
"Okay", meinen Beide nachdem sie einen kurzen Blick miteinander ausgetauscht haben. "Wenn du meinst Tanny."
Wir frühstücken noch zusammen fertig, ehe ich mich auf mein Zimmer begebe und Harrys Nachricht anstarre. Tief einatmend sende ich ein 'On my way!', packe meine Sachen und atme tief ein.
Das wird schon Tanny, stell dich nicht so an!
Mit diesen Worten schließe ich die Zimmertüre hinter mir und mache mich auf den Weg zu dem geschickten Treffpunkt.
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Hiii,
kleines Übergangskapitel :)
Die Zeit vergeht so schnell. Man atmet ein paar Mal und schon ist November. Einfach nur verrückt. Sorry fürs lange Warten lassen, die letzten Wochen waren hektisch. Ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen.
Ily,
Alina xx
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