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Der Junge vom isolierten Raum

Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht mehr wirklich wann, zu welcher Zeit, und wo, zu welchen Ort, der ursprüngliche Anfangspunkt meines Erlebnisses mit ihm entstanden ist.
Ein besonderes Erlebnis, was einem selber prägt, kann man wie mit einem Puzzle vergleichen. Man hat ein festes Bild vor sich in diesem Moment; doch dieses Bild ist nur dadurch entstanden, weil viele kleinere Bildchen, die sich Stück für Stück langsam miteinander verbunden haben, dieses große Bild in seiner jetzigen Gestalt formen. Dazu entsteht ein Puzzle nicht nur, indem man das Puzzle kauft und baut, sondern hat einen langen Produktionsweg hinter sich. Die Formen der Puzzleteile müssen gestanzt werden und ganz am Anfang gibt es den einen kreativen Kopf, der sich das Puzzlemotiv ausdenkt, damit man selber das fertige Puzzlebild am Ende betrachten kann. Ab einen bestimmten Punkt beginnt dann selber die eigene Puzzlezeitlinie.
Daher fällt es mir schwer den wahren Anfang herausfinden. Hat es angefangen, wo wir uns unterhalten haben? Oder doch mit der Flucht? Vielleicht hat es ja auch schon zu unserer ersten Begegnung anfangen. Oder diese ganze Welt ist so durchwoben, konstruiert und durchplant, dass es schon angefangen hat, während wir noch im Mutterleib schliefen – obwohl das zu unserem Altersunterschied ziemlich unwahrscheinlich wäre.
Nach langem Überlegen kam ich irgendwann zum Punkt, dass ich mich zumindest an den Orten orientieren sollte, wo wir selber waren und uns auch sahen. Schließlich war es ja auch ein Erlebnis zwischen mir und ihm. Es waren unsere Begegnungen. Es war meine Geschichte über ihn. Den Jungen vom isolierten Raum.
Auf jeden Fall müsste diese Geschichte entstanden sein, wo wir uns das erste Mal begegneten: In der Testfarm Lambda 7214.

Ich lebte damals schon zwei Jahre auf der Testfarm Lambda 7214, als unsere erste Begegnung stattfand.
Im Vergleich, zu den meisten Kindern, habe ich tatsächlich nicht viel zu erzählen, was ich zu der Zeit alles auf dieser Testfarm erlebt habe.
Mein Leben davor war relativ normal gewesen. Ich bin zwar in einem Waisenhaus ohne Eltern, Schulgebäude oder Kontakt zur weiteren Außenwelt aufgewachsen, doch ich besaß vor meinem zwölften Geburtstag immerhin eine ganz normale, glückliche Kindheit mit meinen Geschwistern und unserer Mutter. Im Gegensatz zu meinen ganzen Geschwistern war ich eher der Bücherwurm gewesen. Anstatt draußen zu spielen, saß ich lieber in der Bibliothek und habe einen weiteren Roman nach dem anderen verschlungen. Ich habe mich immer sehr schnell in diese Welt aus Buchstaben verirrt, dass ich immer zu jeder Situation ein neutraler Mensch war. Es war mir egal, was alles passieren könnte; hauptsache ich konnte in Ruhe in meine Bücherwelt eintauchen.
Daher fielen mir die Verabschiedungen meiner Geschwister kaum schwer.
Jemand wurde zwölf Jahre alt? Glückwunsch, ich lese gleich ein Buch.
Ein jüngeres Kind wurde adoptiert? Wirklich schön, aber ich lese noch was.
Keiner schreibt zurück? Na gut, dann lese ich halt keine Briefe, sondern was anderes.
Ich wurde noch nie adoptiert? Dann ist es halt so. Dann verbringe ich halt mehr Zeit in der Bibliothek.
Ich werde adoptiert? Gut für mich, aber ist mir an sich egal, solange ich in Ruhe lesen kann.
Ich konnte damals halt nicht wissen, dass ich, nachdem ich mit adretter Kleidung vor einem erwachsenen Mann stand, eine lange Zeit auf richtige Bücher verzichten sollte.
Mit vielen Kinder aus Lambda habe ich nicht wirklich viel geredet, wie davor zu meiner Zeit auf der Farm, die wir als »Waisenhaus« bezeichneten. Aber ich habe einige fremde Kinder persönlicher kennengelernt und so konnte ich auch mein eigenes Bild zu Lambda erweitern.
Wenn es um die Experimente ging, die an den lebendigen Kindern versucht wurden, gehörte ich zu den wirklich seltenen Kindern, die es noch relativ harmlos erwischt haben. Daher konnte ich auch meine Zeit aus Lambda relativ gut verarbeiten, doch es fällt mir trotzdem noch schwer, all diese Dinge mit meinen Worten zu beschreiben. Ich habe die übelsten Sachen nie persönlich ab- und mitbekommen, aber ich habe sie damals sehr oft ansehen dürfen. Sei es, weil man durch diese üblen Sachen durchlaufen musste oder weil man es an den Gesichtern der Kinder erkannte oder weil man es einfach an sich gesehen hatte. Ich muss nur an einer bestimmten Sache denken und schon schwirren all diese schrecklichen Bilder wie eine Windhose durch meinen Kopf herum. Die Bilder von Reagenzgläsern, künstlichen Glasgebärmuttern, Kinder mit deformiertem Körperaufbau, die medizinischen Utensilien, die geschocktaufgerissenen Kinderaugen, die Fesseln jeglicher Art, das lebendige Fraß, die Waffen, die Hilfe- und Leidensschreie, lebendige Experimente, die Kabeln, Kanülen, Drogen und Medikamente.
Ich bekam es auch durch Gespräche von anderen Kindern mit, daher konnte ich immer gut vergleichen, wie meine Lage mit den anderen Kindern war (und mich mit Schuldgefühlen plagen, obwohl ich keine Schuld besaß).
Da ich all diese Dinge nicht in Worte zusammenfassen kann, werde ich die Sache mit Lambda so beschreiben: Alle Kinder waren beim vollem Bewusstsein während dieser scheußlichen, unethischen Experimente. Sie mussten ihren Körper hergeben und opfern. Es kam für sie immer ein Gefühl, als müssten sie für jedes Experiment immer ein Organ abgeben – so viel Kraft hat jedes Experiment für sie gekostet. Es fühlte sich für sie wie eine gezwungene, lebendige und im vollen Bewusstsein durchzogene Organspende an.
Ich bin zwar ein Befürworter von Organspenden in der Medizin, aber mit Organspende meine ich hier eigentlich das Gefühl, es wird das eigene lebendige Organ rausgerissen und wer einmal den Roman Alles, was wir geben mussten von Kazuo Ishiguro las, weiß bestimmt, was für eine Art von Organspende ich meine.
Während also die meisten Kinder aus Lambda ihre Organspende erlebten, würde ich meine Experimente eher als Blutspende bezeichnen. Es wurde nichts wirklich viel an meinem Körper ausprobiert; eher wurde auf meine geistigen Fähigkeiten geachtet. Anstatt, dass, wie die meisten Kinder, irgendwas an meinem Körper ausprobiert wurde, musste ich die meiste Zeit aus Lambda die üblichen Tests machen, die ich auch schon damals aus meiner alten Waisenhauszeit kannte – nur, dass diese Tests viel mehr anspruchsvoller waren. Sei es logisches Denken, räumliches Denken, Konzentration oder Sprachkenntnisse. Die meiste Zeit in Lambda verbrachte ich auf einen technischen Tisch im Testzimmer. Es hat sich also für mich – bis auf dem Ort – kaum was geändert. Ich bekam sogar auch – im Gegensatz zu den meisten Kindern – ein eigenes Zimmer mit Bett und Bad.
Aber natürlich musste ich trotzdem meine Blutspende hergeben. Mir wurden auch zu der Zeit jegliche Medikamente oder Drogen eingeflößt. Sei es als Tablettenform oder als Spritze. Nicht selten war ich dabei oft in einem Rauschzustand mit leichten Entzugserscheinungen. Auch auf dem Operationstisch lag ich mal, aber das waren damals harmlose ambulante Eingriffe an meinen Armen oder Händen. Selbst die Narben davon sind ziemlich gut verheilt.
Deswegen spreche ich auch bei mir von Blutspende: Ich musste zwar damals meinen Körper hergeben und auch Experimente miterleben, aber sie waren viel harmloser, schneller und waren kein starker Eingriff. Bei den meisten medizinischen Organspenden ist man schon gestorben oder riskiert sein Leben, während bei einer Blutspende kaum was schlimmes mit dem Körper passiert, man normal weiterleben kann und sogar weiter Blut spenden darf – wenn man natürlich gesund ist, versteht sich.
Aber nur, weil man in Lambda zu der Kategorie der Blutspende gehört, heißt das noch lange nicht, dass man verschont wird. Vincent, ein Junge, der zwei Jahre älter ist als ich, gehörte auch eher zu meiner Kategorie und trotzdem hatte man am Operationstisch an seinem Gehirn herumoperiert.
Diese zwei Jahre voller täglichen Blutspenden waren eine Herausforderung für mich nicht komplett durchzudrehen. Daher gab es in den zwei Jahren zwei Dinge auf die ich mich konzentrierte, um zu verhindern falls irgendwas bei mir durchdrehen sollte.
Der erste Punkt war der, wie ich das auch erwähnt habe, dass ich mich während der Zeit mit anderen Kindern unterhalten konnte. Zwar nicht viel und auch nicht lange, aber es half mir trotzdem soziale Kontakte aufzubauen. Meisten, wenn ich in Lambda herumlaufen musste, entdeckte ich zufällig die gleichen Gesichter und wir sprachen uns flüchtig aus. Oder wir warteten im Flur vor unseren chirurgischen Eingriffen und sprachen uns da aus. Es klingt makaber, aber es hat uns alle geholfen, sich über irgendwas zu unterhalten. Neben Vincent (den ich eher meistens vor meinen Tests traf) begegnete und unterhielt ich mich oft mit einem Jungen, der ein Jahr älter war als ich, namens Cislo und einem Mädchen, das genauso alt war wie ich, namens Barbara. Die beiden kamen aus der gleichen Farm wie ich, nur, dass ich in einer anderen Anlage lebte. Vermutlich konnten wir deshalb eine gute Verbindung zueinander aufbauen. Obwohl es wirklich merkwürdig aussah, dass sie ihre zerschlissen Lambdaroben trugen, während ich meine normalen, weißen Hemden trug.
Der zweite Punkt war mein Ersatz zu meinen Büchern, in dem ich alles, was ich sah, mit Romanen verglich, die ich gelesen habe. So beschrieb ich meine Zeit in meinem Waisenhaus immer mit dem Roman Alles, was wir geben mussten, während ich das meiste aus Lambda mit Schöne, neue Welt von Aldous Huxley verglich. Bei den Reagenzgläsern dachte ich an die Brutaufzucht, bei den Medikamenten an die Droge Soma und bei den Unterschieden zu den Organ- und Blutspenden dachte ich an das Kastensystem von Alpha-Plus bis Epsilon-Minus. Auch während ich im Bett lag dachte ich an Kafkas Werk Die Verwandlung und wünschte mir sogar freiwillig mich am nächsten Morgen in ein Insekt zu verwandeln, damit ich als Mensch keine Experimente mehr machen musste.
Nach zwei Jahren kam ein dritter Punkt hinzu, der sich bis heute bei mir beibehalten hat und mich immer noch zum Nachdenken bringt. Das war die Existenz von dem Jungen. Es entstand am dem Tag, als ich ihn das erste Mal begegnete.

Ich erledigte damals zu dem Zeitpunkt gerade meine täglichen Tests im Testraum und schaute, nachdem ich mit den ganzen Aufgaben fertig war, nach oben zu den Fenstern, die die üblichen finsteren Lambdaflure präsentierten. Normalerweise sah man nicht viel, wenn man drinnen die Lambdaflure betrachtete. Nur ab und zu sah man einige erwachsene Menschen in Kittel herumlaufen, nicht selten auch mit einem Kind in Begleitung. Da begegnete ich ihm zum ersten Mal. Es war ein Junge, mit platinblonden Haaren, blasse Haut und einer kleinlichen Statur. Er sah auf jeden Fall so aus, als wäre er jünger als ich (wie ich später herausfand, war er sogar drei Jahre jünger). Für ein Kind, was in Lambda lebte, wirkte er dennoch auf jeden Fall so, als hätte er noch nie ein Experiment mitbekommen.
Obwohl ich damals diesen Jungen bisher noch nie gesehen habe, wusste ich dennoch sofort, wer dieser Junge sein könnte. Ich hatte mich nämlich die Tage davor mit Cislo und Barbara unterhalten, dass seit einigen Wochen in Lambda ein neues Kind aus einem hochangepriesenen Waisenhaus kam und komplett von allem, bis auf ein paar Kittelträgern, abgeschirmt wurde. Der Junge lebte die meiste Zeit in seinem Zimmer, lief den gleichen Weg zum Testraum täglich entlang, machte die Tests und lief wieder zu seinem Zimmer, wo er immer die ganze Zeit drinnen blieb, bis er wieder am nächsten Tag rauskam.
»War dieser Junge bisher wirklich noch nie woanders? Normalerweise müsste man doch schon nach ein paar Tagen im Labor Experimente mit Medikamenten oder operative Eingriffe bekommen«, war damals meine Aussage gewesen, doch die beiden schüttelten den Kopf und meinten, dass sie ihn nie woanders gesehen haben.
»Wer oder was auch immer dieser Junge sei«, meinte Barbara zu uns beiden, »Er wird komplett von uns weggesperrt und das gefällt mir gar nicht!«
»Willst du damit sagen, du wärst neidisch auf diesen Jungen?«, fragte Cislo sie, »Willst du lieber mit ihn tauschen?«
Barbaras Antwort war nur ein Kopfschütteln gewesen und meinte daraufhin: »Auf der einen Seite will ich natürlich mit diesen Jungen tauschen! Wer will das denn nicht? Nie wieder diese scheiß Experimente. Aber...«
Barbara schaute mich damals an.
»Lieber würde ich mit dir tauschen als mit diesen Jungen! Dieser Kerl wird von allem komplett weggesperrt. Das würde ich nicht aushalten. Lieber nehme ich ein paar Experimente im Kauf um dann euch noch zu sehen, anstatt nie wieder mit einen anderen Menschen zu reden!«
Ich wollte darauf antworten, doch die beiden wurden zum nächsten Experiment weggeschleppt.
An dieses Gespräch musste ich in dem Moment denken, als ich den Jungen vorbeilaufen sah. Sein Blick wirkte sehr konzentriert, so, als würde er über etwas nachdenken. Was auch kein Wunder war; schließlich musste er ja hochintelligent sein. Sonst hätte er in Lambda nicht diese Tests gemacht.
Wegen seiner kleinen Körpergröße, den Blutspendenstatus und seiner offensichtlichen Intelligenz, musste er mich an Bernard Marx aus Schöne, neue Welt erinnern, obwohl er gleichzeitig auch nicht so wirkte.
Während ich weiter den Jungen anschaute, passierte aber etwas, was sich in Bruchteil von nur einer Sekunde abspielte.
Der Junge lief ganz normal den Flur entlang, aber bewegte seinen Kopf ein kleines Stück zur Seite, so, dass er kurz mich durch den Testraum betrachten konnte. Seine hellblauen Augen waren direkt auf mich gerichtet. Unsere Blicke trafen sich und er schaute mich konzentriert an, als würde er in diesem kurzen Blickabtausch mich analysieren wollen. Es wirkte so, als würden nur wir beide existieren. Als wollte er versuchen mich so kennenzulernen. Seine ruhige, konzentrierte und mysteriöse Art erinnerte mich damals an Lucas aus dem Roman Lucas.
Der Bruchteil dieser Sekunde war vorbei, der Junge schaute langsam weg und lief ganz normal weiter geradeaus.
Seitdem konnte ich an nichts anderes denken, als an diesen Jungen, diesen Jungen, diesen Jungen. Meine ganzen Fragen um diesen Jungen wirbelten durch meinem Kopf.
Wer war er?
Wie hieß er?
Was war er für ein Mensch?
Warum ist er in Lambda?
Warum hat er mich so angeschaut?
Warum war er so sehr von uns isoliert?
Warum war ich von einem Menschen fasziniert, der jünger war als ich?

So vergingen die Monate ohne eine einzige Antwort und weiteren Blicken von diesem Jungen vom isolierten Raum. So nannte ich ihn immer, da ich seinen Namen nicht kannte und es diesen Jungen halt am besten beschrieb: Er war immer von uns in diesen einen Raum, wo er lebte, isoliert.
Das einzige was ich wusste, war, dass dieser Junge auf jeden Fall einen höheren Status als ich haben musste. Schließlich wurden bei ihm nur die täglichen Tests gemacht. In meinen Vergleich zu Schöne, neue Welt müsste dieser Junge den Alpha-Status haben, Vincent und ich Beta und die meisten Kinder, die schnell starben, Epsilon.
Auch wirkte dieser Junge immer noch kerngesund. Daher verglich ich das so wie üblich, dass die meisten Lambdakinder ihre Organspenden hatten, Vincent und ich unsere Blutspenden. Dieser Junge aber hatte nie irgendwelche Eingriffe, weshalb er nie Blutspenden machte, sondern eher Plasmaspenden. Bei Plasmaspenden wird zwar auch, wie bei Blutspenden, das Blut abgenommen, aber das Plasma wird aus einer Maschine rausgefiltert, so, dass man während der Plasmaspende sein eigenes Blut wieder zurückbekommt; als wäre nie etwas passiert.
Durch diesen Vergleich merkte ich umso mehr, dass dieser Junge in Lambda wirklich etwas Besonderes war.
Ein paar Tage, bevor der große Knall von Lambda kam, traf ich zufällig Vincent, der gerade aus seinen täglichen Tests rauskam.
Vincent hatte mir erzählt, dass er tatsächlich mit diesen Jungen kommuniziert habe und er zu Vincent meinte, dass er mit einen von diesen Kittelträgern an eine Flucht plane.
Normalweise hätte ich bestimmt was zu der Flucht gefragt, doch mir war die Sache mit den Jungen vom isolierten Raum viel wichtiger und fragte Vincent über diesen Jungen. Doch Vincent meinte damals, dass er nicht wirklich viel mit ihm geredet habe, und ihre Kommunikation daraus bestand, sich immer kleine Zettel auszutauschen, die sie irgendwo am Tisch versteckten.
Vincent erzählte mir nur knapp, dass die Flucht bald hervorstehe. Doch ehe ich noch was vom Jungen fragen konnte, musste Vincent zum nächsten Experiment gehen.
Ein paar Tage daraufhin fand der große Knall von Lambda statt, was für uns auch gleichzeitig die Flucht bedeutete.

Ich nannte es daher großer Knall, weil sich in Lambda eine große Explosion abspielte.
Ich saß zu dem Zeitpunkt gerade in meinem Zimmer auf dem Bett, nachdem ich von einer weiteren Blutspende kam. Der Tag wirkte auf mich relativ normal, jedoch bemerkte ich damals, dass es im diesem Moment alles viel zu ruhig ablief.
Einen Moment später kam die Explosion.
Wo die Explosion entstand, weiß ich bis heute nicht so genau. Auch, was alles danach geschah, kann ich nicht mehr so richtig zuordnen. Ich wusste damals nur, dass die Explosion auf jeden Fall von dem Jungen vom isolierten Raum geplant war; er hatte auf jeden Fall seine Finger im Spiel.
Direkt, nach der Explosion, ging ich zumindest schwankend aus meinem Zimmer raus. Schwankend daher, weil die Explosion auch mein Zimmer hin und her rüttelte.
Ich konnte gerade noch den demolierten Flur mit herumrennenden Monstern und Kittelträgern sehen, da wurde ich schon bei einem vorbeirennenden Kittelträger zur Seite geschubst und knallte mit meinen Kopf gegen eine Metallstange, die vermutlich durch die Explosion dort hingeschleudert wurde.
Danach war das ganze Ereignis und die Flucht danach für mich ein halber Filmriss. Ich wusste nur noch, wie ich mit blutendem Kopf herumtorkelte, irgendwann andere Kinder erreichte, irgendwann in eine große Gruppe war und irgendwann draußen vor dem Lambdagebäude stand.
Ich konnte mich ansonsten an nichts Weiteres aus dieser Flucht erinnern.
Bis zumindest auf einer Sache.
Als ich nämlich, bevor ich die weiteren Kinder traf, herumtorkelte, stand vor mir direkt ein kleinerer Junge und schaute mich mit ernster und dennoch besorgter Miene an.
Ich brauchte ein paar Sekunden um zu verstehen, wer da damals direkt vor mir stand.
Es war der Junge vom isolierten Raum.
Dies war unsere zweite Begegnung. Zwischen den beiden lag fast ein Jahr dazwischen. Wir sind in der Zwischenzeit ein Jahr älter geworden. Zumindest wusste ich von Vincent, dass dieser Junge, der vor mir stand, in dem Zeitpunkt schon zwölf Jahre alt sein müsste. Es wirkte skurril, dass ein Zwölfjähriger und ein Fünfzehnjähriger in so einer Situation sich so gegenüber standen.
Ich wollte diesen Jungen so viele Fragen stellen, doch mein Gehirn blockierte damals all diese Fragen, wodurch ich ihn nur betrachtete.
Der Junge selber streckte mir nur seine Hand entgegen, schaute mich mit weiterer ernster Miene an und sagte zu mir in einem klaren, strengen aber dennoch warmen Ton: »Komm mit. Du bist frei.«
Ich wusste nicht mehr, ob ich darauf was antwortete oder seine Hand nahm.

Nach der Flucht kam das Umgewöhnen des neuen Alltages.
Wir Lambdakinder mussten natürlich uns untertauchen und ein Versteck suchen damit wir eine lange Zeit in Ruhe leben und auch in Ruhe uns organisieren konnten, wie wir weitere Fleischmenschen retten und in die Menschwelt fliehen sollten.
Ein riesiges Versteck ließ sich mitten im riesigeren Monsterwald finden und so kam mehr und mehr für die meisten eine ruhige Zeit der Erholung.
Natürlich wollten wir alle ein angenehmes Leben führen und so packte jeder mit an damit wir alle bestimmten Aufgaben erledigten, wie eine Stadt, wo jeder seinen eigenen Beruf bekam.
Wir lebten nun schon ungefähr ein Jahr lang so und es herrschte ein normaler Alltag mit Strukturen.
Es gab den normalen Alltag. Viele Kinder lebten ihren Alltag im Versteck und versuchten sich gegenseitig zu unterstützen. Manche wollten kochen, einige kümmerten sich mehr um die hauswirtschaftlichen Aufgaben, wenige gingen jagen oder suchten Nahrung und auch ein paar Kinder setzten sich mit technischen Dingen auseinander. Da bei den Experimenten aus Lambda sich einige neue Fähigkeiten bei vielen Kindern entwickelten, konnten die meisten Kinder ihre traumatischen Erfahrungen so verarbeiten, dass sie ihre Entwicklung als Vorteil für ihren Alltag umsetzen konnten. Einige Leute dienten sogar als hervorragende Leibwächter und konnten Aufgaben erfüllen, die für einen normalgebauten Menschen zu gefährlich wären.
Natürlich war das eher bei den Organspendern der Fall. Für mich, als Blutspender, kam keine besondere Fähigkeit, wodurch meine Aufgaben auch mehr harmloser waren. Doch das störte mich.
Warum ich das mit den Aufgaben und Leibwächter erzähle? Es waren zumindest die Auslöser, warum ich das eine Erlebnis mit ihm hatte.

Während die Organspender also größtenteils gefährlichere Aufgaben erledigten, kümmerten sich die Blutspender mehr um die harmloseren Dinge. Vincent war für das Forschen, die Zucht der Eulen und für einen Leibwächter als rechte Hand zuständig, während wiederum ich für die Ordnung des Versteckes zuständig war. Es klingt natürlich merkwürdig, wenn ich sage, ich sei für das Putzen zuständig, aber es war auch eine wichtige Aufgabe alles im Überblick zu behalten und ich war von den älteren Blutspendern mehr dafür geschaffen. Schließlich bekam ich auch die Sonderaufgabe, wenn die Leibwächter nach draußen gingen, den restlichen Überblick des Versteckes zu halten. Meine Aufgabe waren zwar also mehr im Hintergrund und nicht so spannend, aber sie waren dennoch auf eine andere Art wichtig.
Besonderes wenn es um ihn ginge.
Nachdem wir damals aus Lambda geflohen sind, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die ganze Verantwortung zu übernehmen. Ich kann es nicht so genau erklären, aber diese Junge besaß eine wirklich gute Gabe, die Führung zu übernehmen. Trotz seines Alters.
Diese Gabe setzte er immer noch gut fort, denn er leitet unser ganzes Alltagsleben hier im Versteck und ist für die jüngeren Kinder ein großes Vorbild.
Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht so genau was seine wirklichen Aufgaben sind, aber der Begriff Verantwortung wäre das einzige, was das gut erklären könnte. Er besitzt den ganzen Überblick von uns, geht mit seinen Leibwächtern auf Forschung und Erkundung und er sorgt dafür, dass wir hier angenehm leben können. Eigentlich besitzen wir hier keine Hierarchie, da wir uns alles untereinander gut aufteilen (schließlich wollten wir keinen mehr als Unterschicht ausgrenzen, wie in Lambda); wir besitzen eine gute Gruppenstruktur zum Überleben. Trotzdem merkten wir, dass man dennoch jemanden braucht, der den Überblick behält und die Verantwortung übernimmt diese Struktur in eine Richtung zu locken. Diese Aufgabe hat dieser Junge schon lange vorher freiwillig übernommen, noch bevor es mir und Vincent auffiel.
So war also unsere grobe Lebensstruktur: Die Organspender halfen den Plasmaspender und ebenfalls die Blut- und Organspender, die Blutspender halfen den Plasmaspender sowie ebenfalls die Organ- und Blutspender und der Plasmaspender unterstützte die Blut- und Organspender gleichzeitig. Es war wie ein Dreieck, wo die Ecken sich in der einen sowie auch gleichzeitig anderen Richtung bewegten.
Es war mit ihm eine hervorragende Gruppenart zum Leben, gerade weil er unsere Verantwortung nahm und alles leitete.
Aber auch wenn es alles so hervorragend lief, war ich von allen der einzige, der ein unangenehmes Gefühl besaß. Besonders vom Jungen strömte dieses unangenehme Gefühl heraus. Ich kann nicht mal wirklich in Worte erklären, woher dieses unangenehme Gefühl entstanden ist, aber es bereitete mir schon Sorgen.
Als wir alle in Lambda gelebt haben, hat sich natürlich eine Art Hass gegenüber den Monstern und den Kittelträgern entwickelt. Besonders gegenüber den Monstern. Ich will auch nicht abstreiten, dass wir alle diesen Hass besitzen. Ganz im Gegenteil: Unser Hass dazu war völlig berechtigt; schließlich litten bei uns viele traumatisierte Kinder und der Ursprung hat bei diesen Monstern angefangen. Es war für die meisten schwer vorstellbar und sogar unmöglich überhaupt an Vergebung nachzudenken. Selbst ich besaß auch einen Hass auf diese Wesen, obwohl ich natürlich weniger gelitten habe als bei den anderen.
Trotzdem kam mir unser Hass auf einer anderen Art skeptisch vor.
Denn auch er strömte einen riesigen Hass auf die Monster. Sogar manchmal noch mehr als bei den anderen. Ich will auch nicht sagen, dass er diesen Hass nicht haben solle; aber es machte mich dennoch skeptisch, dass er so einen Hass besaß obwohl er ja in Lambda nur ein Plasmaspender war.
Im Laufe der Monate organisierten wir Pläne und forschten auch einige Experimente, wie wir uns gegen die Monster am besten wehren könnten. Wie ich schon sagte, unser Hass war berechtigt. Dieser Hass war auch der Grund mit den Experimenten anzufangen. Aber ich merkte beim Verhalten der anderen, dass der Hass vom Jungen auf die anderen überträgt und steuert.
Ich habe zu der Zeit, weil es im Versteck auch wieder eine Bibliothek gab, Bücher gelesen, die das Thema von bestimmten historischen Ereignissen erzählten, wie Menschen vom politischen Hass manipuliert wurden und durch diese Manipulation Sachen taten, die noch unethischer waren als in Lambda. Die meisten Ereignisse – und auch die berühmtesten davon – hatten mit einem charismatischen Menschen oder charismatischen Gruppe angefangen, die ein Feindbild erschuf, durch dieses Charisma viele Leute ansprach und durch das gemeinsame Feindbild und Charisma die Leute in die gewünschten Ziele locken konnte.
Der Gedanke machte mich nervös, dass das bei uns passieren könnte. Schließlich besaß dieser Junge, neben seiner hohen Intelligenz, ein hervorragendes Charisma mit dem er viele Kinder motivieren konnte. Dazu besaß er auch ein festes Feindbild, das wir auch alle besaßen. Nicht zu vergessen, dass er uns sozusagen im Überblick hatte.
Meine Zweifel, dass wir in eine unangenehme politische Richtung gehen könnten, waren wohl berechtigt. Schließlich wollten wir Lambdakinder nur unsere Freiheit und wollte der Junge uns wirklich absichtlich kontrollieren, würde es bei uns immer noch keine Freiheit existieren.
Schließlich wollte ich nicht, dass die eine grausame Blutwoche nach fast hundertvierzehn Jahren hier bei uns wieder auftauchen sollte.
Daher habe ich in den letzten Tagen meine Umgebung beobachtet und sie mit Orwells Werken verglichen, die meine Zweifel am besten darstellten.
Zu dem Ergebnis meiner Beobachtungen war ich dennoch überrascht. So sehr überrascht, dass es mir schon fast unangenehm war.
Denn auch wenn der Junge das Potenzial besaß uns zu manipulieren, seine Meinung aufzuzwingen oder sich als hochangesehener Mensch darzustellen, machte er das nie. Das einzige, was er überhaupt mal gemacht hat, war, seinen riesigen Hass vor allen Lambakindern auszusprechen, und zu zeigen. Mehr aber auch nicht.
Er zwingt keinen seine Meinung auf. Er grenzt kein einziges Kind aus. Er will nicht die Vergangenheit manipulieren. Er will keinen zur Gewalt verherrlichen. Er will keine Wahrheit verdrehen. Er will keine weiteren neuen Feinde aufzählen. Er will nicht mit den Finger auf anderen zeigen. Er will nicht die Sprache neu erfinden oder manipulieren. Er will keine freien Gedanken als Verbrechen beurteilen. Er will keine hierarchischen Schichten unterteilen. Er will keinen beobachten und überwachen. Er will keinen verraten. Er widerspricht sich nicht.
Er ist ein harmloser Mensch, der aus Lambda kam und nur seine Freiheit will.

Ich war erleichtert, als mir meine Beobachtungen sagten, dass dieser Junge sich niemals zu einer Bedrohung aus Orwells Romanen entwickeln sollte oder dass er niemals eine Blutwoche anfangen würde, nur weil welche eine andere Meinung haben.
Ich erinnere mich sogar auch, dass dieser Junge auch auf Kritik eingehen wollte. Einmal gab es ein älteres Kind, das mit einer Sache – an die ich mich natürlich nicht erinnern konnte – nicht wirklich zufrieden war und kritisierte es auch. Daraufhin ist dieser Junge zum kritisierenden Kind hingegangen und hatte ihn nach seiner Kritik ausgefragt. Er hörte sich alles genau an, nickte, sprach ruhig, überlegte mit und unterhielt sich mit ihm. Er war auf die Kritik eingegangen und hatte sie auch versucht so umzusetzen. Der Junge hatte also in dem Moment eine Sache getan, die niemals die Schweine aus Farm der Tiere oder die Ingsoc aus 1984 umgesetzt hätten.
Während ich meine Beobachtungen abschließen wollte, fiel mir dennoch eine weitere Sache auf. Ich habe zwar ihn als eine hohe Person in der Hierarchie verglichen, aber ich habe die Sache nicht aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Nämlich wie viel Freiheit oder Macht er überhaupt selber besaß.
Die Antwort war schockierender als ich dachte. Denn er besaß, im Gegensatz zu uns, viel weniger Freiheit. Es war so, als hätte er die Rollen aus Lambda getauscht. Alle anderen Kinder sind zu Plasmaspender geworden, während er zum Organspender wurde. Zumindest für psychologische Organe - das mal so als Metapher.
Es fühlte sich erschreckend an, dass ihn zwar alle Lambdakinder verehrten und ihn als wertvollen Menschen ansahen, er aber auf der anderen Seite alle Aufgaben übernahm, seine Freiheit und Freizeit minimierte, rund um die Uhr arbeitete, die ganze Verantwortung übernahm und er alle Aufgaben erledigten wollte.
Es war wie eine umgedrehte Hierarchie; die Spitze wurde zwar angesehen, aber sie ließ einen kaputt arbeiten. Das klang ja schon fast nach einen potenziellen Orwell-Roman, während es sich gleichzeitig vor meinen Augen abspielte.
Der Junge isolierte sich auf einer anderen Art wieder ab und überarbeitete sich; dabei war er erst dreizehn. Nur drei Jahre jünger als ich.
Vermutlich war das der Grund, warum ich dieses unangenehme Gefühl spürte. Vielleicht war dies ein schweigender Hilferuf von ihm.
Aber obwohl ich ihn schon aus Lambda kannte und er mich faszinierte, kannte ich dennoch nie seinen wahren Charakter. Ich wusste nicht einmal, wie er davor gelebt hatte (außer den einzigen Punkt, dass er davor im Heim namens Grace Field House lebte) oder was seine Interessen oder Ziele waren.
Also beschloss ich mich seine Isolierung und seinen Charakter auf dem Grund zu gehen und ihm vielleicht in dieser Richtung zu helfen. Ich wollte mit dem Jungen ein Gespräch führen.

So hat das Ereignis mit ihm angefangen. Es war schon später Abend und ich wollte gerade zum Arbeitszimmer von ihm gehen, als er mir schon vorher zufällig über den Weg lief. Er wollte gerade in seinem Arbeitszimmer gehen, erzählte er mir als ich ihn erklären wollte, dass ich auch dort hingehen wollte. Auf seine Frage, was ich denn da wolle, erklärte ich ihn, dass ich mit ihm was besprechen wollte.
Der Junge schaute nach oben zur Decke, wo man die Schatten des Sonnenuntergangs beobachten konnte. Die Schatten zeigten deutlich, dass die Dunkelheit bald eintritt.
Er schaute mich wieder an und antwortete lächelnd: »Um diese Zeit gehen die meisten schon schlafen. Ich habe also genug Zeit um mit dir noch was zu besprechen.«
»Es wird auch nicht lange dauern. Ich will eher nur ein paar Fragen stellen.«
»Du musst dich doch nicht für die Zeit schon vorher rechtfertigen«, antwortete er schulterzuckend, »Mich stört das schon nicht.«
Während des Weges fragte ich ihn auch, wo er vorhin war.
Er antwortete damit, dass vorhin Jin und Hayato – zwei ehemalige Organspender – noch am Ausgang des Versteckes begleitet habe.
»Die beiden sollen die geflüchtete Kindergruppe über dem Weg laufen«, erklärte er weiter, »Du weißt ja, die eine Gruppe, die schon seit langem auf der Flucht ist und sich langsam in unsere Richtung bewegt.«
Ich nickte als Antwort.
»Auf dem Weg dorthin sind bestimmt viele weitere Monster«, überlegte ich laut, »Die Aufgabe klingt ziemlich gefährlich.«
»Wir sollten aber auch Jin und Hayato nicht unterschätzen. Gerade die beiden können sich, vor allem in der Konstellation, sehr gut verteidigen.«
»Stimmt. Gerade die beiden als Organspender haben dazu viel mehr körperliche Kraft.«
Er schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an.
»Organspender? Wofür verwendest du denn den Begriff?«
»Oh, das ist einfach nur eine Bezeichnung von mir selber. Während meiner Zeit in Lambda habe ich je nachdem, wer welche Experimente machen musste, in verschiedenen Begriffen unterteilt.«
»Sie dienen dir also nur zur eigenen Orientierung, habe ich das richtig verstanden?«
»Ja, genau. Das ist einfach nur für mich meine orientierende Metapher.«
Wieder schaute er mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
»Du verwendest generell viele Metaphern, so, wie das mir aufgefallen ist. Ich habe dich auch öfters mit Büchern gesehen. Du liest wohl sehr viel und gerne.«
»Nicht nur gerne sondern auch leidenschaftlich«, gab ich als Antwort und musste ein bisschen lachen.
Ich weiß nicht ob er selber lachen musste; denn in dem Moment, wo ich zu Ende sprach, blieb er vor einer Tür stehen.
»Da sind wir «, sagte er schon fast zu sich selbst und machte die Tür auf.
Das Arbeitszimmer von diesem Jungen sah nicht sonderlich spektakulär aus. Bis auf einer Weltkarte an der Wand, stand einfach nur mitten im Raum ein riesiger, ordentlicher Schreibtisch. Er war dekoriert mit unzähligen Utensilien, Papieren und Tintenfässer mit Federn. Dennoch wirkte dieses Arbeitszimmer in Sachen Wohlbefinden ziemlich paradox. Auf der einen Seite wirkte es streng, als würde es sagen es sei sehr wertvoll und man solle hier keinen Unfug anstellen. Aber auf der anderen Seite wirkte es dennoch gemütlich, als würde man hier jeden willkommen heißen.
Der Junge ging zu seinem Schreibtisch. Er saß sich aber nicht hin, sondern sortierte stehend die handgeschriebenen Papiere, die auf dem Schreibtisch durcheinander lagen.
Ich hingegen blieb vor dem Schreibtisch stehen und beobachtete ihn, was er am Schreibtisch alles machte. Seine Hände bewegten sich zwar zu den Papieren, aber sein Blick wirkte nachdenklich. Vermutlich überlegte er sich, was ich wohl mit ihm besprechen wollte, so meine Vermutung.
»Organspender...«, hörte ich ihn murmeln, während er seine Mundwinkel ein kleines bisschen nach oben bewegte. Vermutlich war er von meiner Metapher amüsiert.
Er schaute mich daraufhin an.
»Du liest also leidenschaftlich, meintest du?«
»Äh... J-ja. Genau«, antwortete ich überrascht von seiner Frage, »Ich wollte dich ja fragen-«
Doch bevor ich meinen Satz beenden konnte, streckte der Junge plötzlich seinen linken Arm aus. Seine Hand war zu einer Faust geballt, als würde er die Luft schlagen. Gleichzeitig streckte er seinen linken Daumen und Zeigefinger aus und zeigte auf mich.
»Und darum wisse:«, zitierte er, »Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!«
Ich musste lächeln; denn ich verstand sehr wohl wen und was er zitierte.
Ich hob meinen rechten Arm hoch und bildete meine rechte Hand auch zu einer Faust. So, als würde ich mich an einer unsichtbaren Stange festhalten.
»Liebe Eltern«, zitierte ich zurück, »ich habe euch doch immer geliebt
Als ich zu Ende sprach, öffnete ich meine Faust. So, als würde ich diese unsichtbare Stange wieder loslassen.
Er lächelte mich an.
»Kafka«, sagte er.
»Das Urteil«, antwortete ich, »1913. Aufgeschrieben in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912.«
»Ich sehe, du bist wirklich sehr belesen... ähm...«
Ich wusste schon, warum er mitten im Satz zögerte. Er wollte mich bei Namen nennen, doch er wusste nicht, wie man den aussprechen sollte. Das ist tatsächlich ein Problem was nicht nur er besaß. Jeden Menschen, den ich kannte, musste ich immer vorher erklären, dass mein Name eine andere Aussprache besaß, als die eigentliche Aussprache.
Ich sagte meinen Namen, doch er sah mich mit einen Blick an, dass es ihm unangenehm war mich wieder falsch anzusprechen.
Ich schaute zum Tintenfass mit dem Federkiel und nickte dorthin.
»Darf ich?«
»Ja, ja«, antwortete er nickend und zeigte mit der offen Hand daraufhin, »Nimm ruhig.«
Ich schrieb meinen Namen auf ein leeres Blatt Papier auf. Zuerst schrieb ich die Schreibweise. Darunter schrieb ich die allgemeine Aussprache und nochmals darunter schrieb ich die Aussprache auf, wie man mich nennen sollte. Letzteres unterstrich ich nochmal, gab ihm das Blatt und erklärte das nochmals so.
Das geschriebene Blatt sah ungefähr so aus:

Owen

[oo-en oder auen]

Uhw'n

»Ja, genau«, sagte er gleichzeitig beim Betrachten des Blattes, »Owen war das. Es fällt mir ja immer noch schwer, dich als Uhw'n anzusprechen.«
Ich seufzte bei meiner Antwort: »Ich weiß leider wirklich nicht, was sich meine Mutter damals dabei dachte. Es gab schon einige besondere Leute mit diesen Namen, aber nicht mit der Aussprache.«
»Du wirst es wohl nie erfahren«, antwortete er mich beruhigend, »Aber vielleicht wollte sie eine Verbindung erschaffen, die nur sie verstehen konnte; sozusagen ein Namensschlüssel, der nur ihr allein gehörte.«
»Ich bin mir da nicht sicher. Sie hat bei uns auch viele einfache Namen verwendet.«
»Bei uns waren sie auch ziemlich einfach gewesen. Mir hat sie zumindest erzählt, dass sie mich nach einen US-amerikanischen Maler und Illustrator aus dem 20. Jahrhundert benannt hatte.«
Ich antwortete daraufhin nichts. Genauer gesagt fiel mir keine passende Antwort ein. Ich kannte mich nicht wirklich mit bildender Kunst aus. Geschweige von US-amerikanischen Künstlern oder generell welche aus dem 20. Jahrhundert. Das könnten hunderte oder tausende gewesen sein. Bestimmt auch welche, von deren Existenz ich nicht mal wüsste. Wie sollte ich auch bei der spezifischen Aussage überhaupt einen Namen rausfinden.
Das war auch die eine Sache, die mich am Jungen faszinierte. Die Existenz seines Namens. Natürlich besitzt dieser Junge einen Namen; das hat er ja auch vor mir bestätigt. Aber in der Zeit, in der ich ihn kannte, habe ich noch nie mitbekommen, wie jemand ihn nach seinem Namen rief. Dieser Junge wurde von allen anders angesprochen. Da die meisten Lambdakinder ihn halt verehrten und als hohen Menschen sahen, sprachen sie ihn auch nie mit einen Vornamen, sondern mit einer Anrede oder Titel an. Er selber habe diese Titeln oder Anreden nicht ausgedacht, sondern das war eine Sache, wo die Lambakinder ihn schon automatisch so nannten. Da er sich aber nie beschwerte, sprachen sie ihn auch weiterhin mit den ausgedachten Titeln oder Anreden an.
Er selber verwendet dennoch Pseudonyme. Zumindest gab er sich, als wir noch auf der kurzen Flucht waren, selbst diese Pseudonyme: William Minerva und James Ratri. Es gab verschiedene Gründe, warum er sich so nannte. Aber die häufigsten Gründe waren, dass er zufällig vom Namen James Ratri hörte und sich aus Schutz so nannte, falls er sich bei anderen Wesen mit Namen vorstellen musste. So verwendete er auch den Namen William Minerva. Aber er verwendete auch an sich den Namen, wenn er mit den ganzen Lambdakindern sprach oder generell unsere allgemeine Gruppe ansprach. Man könnte also sagen William Minerva sei seine Figur, die er verwendete um sich in eine Rolle zu stellen.
Man konnte also ihn verschieden ansprechen. Entweder Titel, Anrede oder seine beiden Pseudonyme. Aber nie gab es einen, der ihn mit seinem richtigen Vornamen ansprach; da ihn auch keiner kannte. Nur Vincent war der einzige, der seinen Namen kannte. Aber selbst Vincent sprach ihn nur mit Anreden an, daher hat man auch von Vincent nie den Namen gehört.
Er wirkte auf mich wie Pierrot Weber aus Der Junge auf dem Berg. Pierrot musste auch im Laufe der Geschichte aus Schutz seinen Namen mit einem Decknamen austauschen, damit er weniger französisch und gleichzeitig mehr deutsch wurde. So musste er deswegen Peter Weber heißen. Da ihn die Ideologien immer mehr eingriffen, nannte er sich im Verlauf selbst nur noch Peter. So, dass kaum noch jemand wusste, dass er im Inneren eigentlich Pierrot war.
So wirkte er auch auf mich: Wie Pierrot, der langsam zum Peter wurde. Selbst sein Aussehen ließ mich immer an diesen Charakter erinnern. Aber während ich Pierrot/Peter als Charakter kennenlernte und gut verstand, wusste ich im Gegenzug überhaupt nichts von diesen Jungen.
Wie soll ich überhaupt seinen Hilferuf wahrnehmen, wenn ich noch nicht einmal seinen Namen kannte? Wie soll ich eigentlich merken, dass bei ihm ein unangenehmes Gefühl ausströmt, wenn er sich vermutlich selbst isoliert? Wie soll ich einem isolierten Jungen helfen, wenn ich nicht einmal weiß wer oder was er genau ist?
Schließlich war er für mich immer noch der Junge vom isolierten Raum.
Im dem Moment fiel mir auch wieder ein, warum ich eigentlich vor ihm stand und sprach.
»Ähm...«, begann ich zu sprechen, »Ich wollte dich ja was fragen-«
»Oder besprechen.«
»Wie?«
»Du meintest doch, du wolltest eher was mit mir besprechen.«
»Stimmt schon. Aber eigentlich wollte ich dir auch einige Fragen stellen.«
Er schaute mich mit einem neutralen und ausdrucklosen Blick an.
»Gern. Was möchtest du denn wissen?«
»Was war eigentlich deine Vergangenheit? Wie hast du denn gelebt, bevor du nach Lambda kamst? Schließlich müsstest du doch auch eine normale Kindheit gehabt haben.«
»Eine normale Kindheit besaß ich natürlich. Das ist ja auch eine der Privilegien für die Luxus-Farmen.«
Er antwortete nur auf meine Aussage, aber nicht auf die Fragen. Entweder wollte er den Fragen ausweichen oder er wollte nur meine Aussage unterstreichen. Daher versuchte ich meine Fragen anders zu formulieren.
»Aber du musst doch irgendwas angestellt haben um hier in Lambda zu landen. Normalerweise werden kaum Kinder aus Grace Field dort hingeschickt. Zumindest hieß es, dass du davon stammst.«
»Das stimmt ja auch, dass ich davon stamme«, antwortete er und zeigte auf seinen Hals um seine Kennungsnummer zu präsentieren, »Ich habe kein zweites Kind gesehen, dass diese Nummer besaß.«
Wieder beantwortete er nicht meine Frage und unterstrich nur die Aussage.
»Aber du warst doch erst 11. Normalweise wurden von meinem Waisenhaus alle Kinder erst ab 12 dort hingeschickt. Dazu warst du auch nie an den Experimenten beteiligt. Du warst weder Organ- noch Blutspender sondern der einzige Plasmaspender.«
»Plasmaspender... Ist das auch eine von deinen Metaphern?«
Er schaute mich weiter mit einem neutralen Gesichtsausdruck an. Durch seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht sehen, ob er nervös wurde oder nicht. Diesmal ist er mit meinen Aussagen durch einer Frage ausgewichen. Ich konnte auch nicht einschätzen, ob er das absichtlich machte oder das wirklich nur seine Rhetorik war.
Daher beantwortete ich nicht seine Frage, sondern gab eine knappe Aussage mit einer versteckten Aufforderung.
»Du wurdest ein ganzes Jahr komplett von allem isoliert. Selbst wenn du nicht unter Hospitalismus leidest, bin ich erstaunt, dass du anscheinend diese Isolierung noch in dir trägst. Ich glaube nicht, dass du davor auch schon so warst. Schließlich hast du bei unseren ersten Augenkontakt zumindest versucht, mit deinem Blick irgendwie mit mir zu reden.«
Seine einzige Antwort war nach ein paar Sekunden Stille ein kurzes Seufzen.
»Ich bin erstaunt, denn solche Fragen zu stellen machen weder Vincent noch Barbara oder Cislo. Du bist wohl wirklich an meiner Vergangenheit interessiert. Nein, nicht durch das. Du bist komplett an mich interessiert. Mich, als Person. Du willst mich nicht verehren, du willst mich lieber kennenlernen und verstehen.«
Er schaute mich wieder mit einem neutralen Gesichtsausdruck an.
»Dann höre dir bitte auch alles in Ruhe an.«

Der Junge erzählte seine ganzen Lebensjahre, die er in Grace Field verbrachte. Wie ich auch schon vermutete – und er auch davor bestätigte – besaß er eine normale Kindheit. Er wuchs mit vielen Geschwistern auf, besaß mit einigen einen sehr engen Kontakt und auch seine Mutter hatte ihn liebevoll aufgezogen. Dazu galt er als das intelligenteste Kind, was jemals zuvor in Grace Field existierte. Nach ihm waren auch zwei sehr intelligente Kinder, aber er hatte noch ein bisschen mehr im Köpfchen als die beiden. Trotz dieses Titels ist ihm aber dieser Stolz nie zu Kopf gestiegen. Schließlich war er ja trotzdem ein normaler, kleiner Junge, der nur etwas mehr Leistung im Kopf besaß; daher gab es in Grace Field weder Neid noch Ausgrenzung.
Eines Tages hat sich aber seine Sicht komplett verändert. Er und weiteres Kind erfuhren die Wahrheit hinter diesen Waisenhäuser und den beiden wurde schnell klar, dass sie irgendwie aus ihrem (leider geliebten) Waisenhaus fliehen müssen. Er wollte ursprünglich nur zu zweit, doch wurde überredet mit allen anderen Geschwistern zu fliehen.
»Logisch gesehen und nach den Überlebenschancen betrachtet, war mein erster Plan sicher, möglicher und auch realistischer. Der andere war schwieriger, gefährlicher und wäre schwer umzusetzen. Aber es war der moralischere und emotionalere Weg. Darüber hinaus war er zwar schwer, aber nicht wirklich unmöglich. Sie lag da mit ihren Gedanken und Gewissen nicht falsch.«
Sie? Es war also ein Mädchen gewesen, das ihn dazu überredet hat? Nicht, dass das wichtig sei, aber es überraschte mich. Würde dieses Szenario in 1984 spielen und er wäre Winston Smith, dann müsse dieses Mädchen Julia sein. Beide leben in einer vorgetäuschten Welt, wollen die aber gemeinsam durchbrechen.
Die beiden planten ihre Flucht und ließen einen weiteren ihren Plan mit involvieren. Derjenige stellte sich später als Spitzel der Mutter heraus. Bis sich danach herausstellte dass er trotzdem auf deren Seite steht und nur ein Spitzel geworden sei, damit er die Flucht mit unterstützen kann. Genauer gesagt, hat er die Flucht vorher geplant. Sogar Jahre bevor er und sie das erfuhren. Die beiden erfuhren auch nur die Wahrheit davon, da der derjenige das so geplant hatte.
Wenn man es so betrachtet war derjenige O'Brien, nur im Gegenteil.
»Aber es klang wohl nicht so, als wäre eure Flucht ein Erfolg gewesen, oder?«, fragte ich ihn.
Wie es sich herausstellte, hat er die Flucht wohl nie mitbekommen, da die drei ihre Mutter unterschätzt haben. Ihre Mutter wollte die drei aufhalten ohne Blutvergießen. Daher war es die beste Strategie denjenigen rauszunehmen, der das beste strategische Denken besaß, um die Flucht instabil zu machen. Deswegen musste sie ihn rausnehmen. Zufällig bekam ihre Mutter eine Mitteilung, dass Lambda ihn gerne mitnehmen wolle, wodurch er am nächsten Tag von der Gruppe getrennt wurde. Ein paar Tage, bevor sie die Flucht umsetzen wollten.
»Das heißt, du weiß nicht ob sie die Flucht überhaupt gemacht haben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, das nicht. An meinen letzten Tag vor der Auslieferung habe ich den ganzen Tag damit verbracht die Flucht neu zupfeilen. Ich schrieb meinen gesamten Plan als Brief auf – quasi mein Testament – involvierte zwei Geschwister ein, dass sie den Brief bekommen solle und ließ mich ausliefern. Sie war natürlich dagegen, dass ich mich so einfach ausliefern wollte. Aber ihr Weg war halt der richtige, daher lief ich lieber in den Tod anstatt einen gescheiterten Plan mitzukriegen.«
»Aber du bist nicht gestorben.«
»Genau.«
»Du bist auch nicht geflohen.«
»Genau. Bis auf Lambda.«
»Deshalb weißt du auch, dass sie die Flucht gemacht haben. Aber du bist dir nicht sicher, ob die Flucht erfolgreich war.«
»Nein. Ich war nicht unsicher, ob die Flucht erfolgreich war. Ich hoffte, dass sie erfolgreich war. Egal, was ich auch in Lambda machen musste oder mitbekam. Ich musste immer daran denken und hoffte, dass die Flucht mit gutem Ergebnis durchgeführt wurde. Den Rest der Geschichte aus Lambda kennst du ja.«
Nein, nicht wirklich. Ich wusste nur, dass der Junge im isolierten Raum lebte. Aber nicht, wie er in Lambda lebte. Aber durch seine Vergangenheit konnte ich mir vorstellen, wie er sich wohl damals dabei fühlte.
Dennoch war eine Sache offen für mich. Wieso wurde er zu einem gefährlicheren Plan überredet? Wieso wollte er sich freiwillig opfern? Einige Menschen hätten bestimmt anders gehandelt. Woher also seine Motivation?
»Aber weshalb hast da alles gemacht? Wieso ist dein Handeln zu entstanden? Was hat dich dazu bewegt.«
Bevor er antwortete zeigte er für eine Sekunde einen anderen Gesichtsausdruck. Es wirkte so, als wollte er bei dieser Antwort zögern. Doch im gleichen Moment wurde es wieder neutral und er antwortete.
»Es hört sich komisch an«, antwortete er und seine Stimme klang leiser als davor, »aber ich mache das tatsächlich alles nur wegen einem Menschen, der mir sehr wichtig war. Nein, nicht einfach nur war. Sie ist bis heute für mich ein sehr wichtiger Mensch und sie wird es auch für mich bleiben. Egal, was alles passieren solle.«
»Gott und Marx und John Lennon wären immer noch tot; aber für dich wäre sie dennoch weiterhin dieser wertvolle, einmalige Mensch«, dachte ich laut.
Er verstand wohl meine Anspielung und seufzte als Antwort.
»Ich finde zwar dein Interesse zu Büchern sehr speziell und deine Metaphern sehr interessant, aber der eine Bäckereiüberfall von Murakami grätscht sich gerade in meiner Erzählung dazwischen. Das bringt mich leider aus dem Konzept.«
Eine wirklich sehr höfliche Beschreibung um mir zu sagen, dass ich mit meinen Kommentieren nerven könnte.
Er schwieg für einen Moment, schaute mich an und antwortete fast schon zu sich selbst: »Du kannst schon ruhig deine Literaturreferenzen im Kopf machen; ihre Kreativität wäre sonst viel zu schade dafür.«
Ich war kurz davor absichtlich davon was zu sagen, doch meine Bemerkung würde nur dazwischen grätschen.
Daher antwortete ich nicht darauf, hörte zu und ließ ihn weitersprechen.
»Es war ihr Lächeln.«
»Entschuldigung, aber wie bitte?«
»Es war ihr Lächeln«, wiederholte er, »Ihr Lächeln war meine Motivation gewesen.«
»Es tut mir leid, aber das klingt für mich zu absurd um das richtig verstehen zu können.«
Er lächelte traurig als Antwort.
»Ja, ich gebe zu, das klingt wirklich absurd. Aber so absurd es auch klingen mag – das ist die Wahrheit. Ich mochte ihr Lächeln. Es gab mir immer Kraft, Motivation und Freude. Natürlich habe ich diese drei Gefühle auch davor schon immer gefühlt, aber ihr Lächeln verstärkte meine Gefühle im Inneren noch mehr. Egal, was passierte oder was sie machte. Sie besaß zwar immer eine andere Ansicht als ich, aber ihr Lächeln ließ meine Interessen wecken um ihre Weltansichten verstehen zu wollen.«
»Ihr Lächeln hat dich also selber zum Lächeln gebracht?«
»Nein, nicht nur das. Es löste noch mehr Gefühle in mir aus, die ich noch nicht mal kannte. Es gab mir eine Art von Stärke. Sie stärkte und motivierte. Es war wie ein wunderschönes, wertvolles Gemälde. Ich konnte es eine Ewigkeit anschauen und wollte trotzdem diesen Anblick ewig behalten.«
»Dann hieße es doch, dass ihre Reaktion von damals unangenehme Gefühle in dir ausgelöst hatte, habe ich recht?«
»Ja, da hast du vollkommen recht. Ihren trauenden Anblick lösten Gefühle in mir aus, die mich von innen komplett zerrissen und eine Welt zeigte, die ich nicht noch einmal sehen wollte. Sie hatte bitterlich geweint. Vor Trauer und Trauma. Mein Inneres empfand diesem Blick unerträglich. Kein einziges Lächeln. Eine Welt ohne ihr Lächeln war in diesem Moment eine grausame Welt für mich. Diese kurze Welt war wohl so grausam, dass sie ihr Lächeln wegnahmen. Ich spürte nur einen Gedanken in mir: In dieser Welt wollte ich nicht leben. Eine Welt, die so grausam sei, dass man ihr Lächeln stehle? Und das für immer? Nein, das würde ich nicht aushalten können. Diese Welt darf nicht existieren! Ich muss diese Art von Welt verhindern und beseitigen! Während ich sie damals tröstete, versuchte ich deshalb gleichzeitig in dem Moment diese neuen Gefühle in meinem Inneren zu vernichten. Sie dürften, wie diese mögliche Welt, niemals existieren.«
Ich schluckte bei seiner Aussage. Das ein Elfjähriger damals solche Gedanken besaß, war für mich kaum vorzustellen. Es erstaunte mich, dass dieser Junge auch noch zu einer Sache sehr vernarrt war, die er ja nie wieder sehen könne.
»Also hat dich nicht ihr Lächeln motiviert, sondern eher diese schauderhaften Gefühle, die du damals für einen kurzen Moment spürtest?«
»Nein!«, kam seine Antwort laut und fast schon schreiend – so, dass ich mich fast davon erschrak, »Auf keinen Fall! Es war wirklich ihr Lächeln gewesen. Wir hatten beide in dem Moment Angst gehabt. Ich, weil ich den Tod vor dem Auge sah. Aber sie hatte eine andere Angst hat. Sie hatte Angst, dass ihre ganze Familie Stück für Stück sterben könnte. Während ich also egoistisch war, war ihre Angst nicht ich-fokussiert, sondern auf alle anderen Menschen. Es war einer ihrer interessanten Weltansichten. In dem Moment trauerte sie zwar, aber durch ihre Angst und ihr Ziel konnte ich dennoch ihr Lächeln erkennen. Es war nicht verloren, es hat sich nur hinter einem neuen Ziel versteckt. So beschloss ich mich sie zu unterstützen. Wenn sie lacht, stehe ich vor einer besseren Welt. Also versuche ich bis heute alles dafür zu tun, damit ihr Lächeln bleibt. Denn nur so kann ich in einer besseren Welt leben. Das ist die bessere Welt. Das ist meine Motivation.«
Auch wenn mich seine Erklärung beunruhigte, zeigte sie mir trotzdem eine Art von Verständnis. Dass ich diese Aussagen von einem Dreizehnjährigen hörte war zwar immer noch ungewohnt, aber unterstrich eine normale menschliche Eigenschaft: Das Festhalten einer – für sich selbst - wichtigen Sache, die man in einer beunruhigenden Situation empfindet.
Doch egal, wie beunruhigend und auch menschlich sich das alles anhörte, gab es eine Sache, die mich stutzig werden ließ. Ja, sogar fast einen Widerspruch bemerkte.
»Bis heute? Was meinst du genau mit bis heute? Ich dachte, du hoffst auf ein gutes Ergebnis für diese Flucht. Das Ergebnis weißt du ja nicht. Wie kannst du bis heute ihr helfen, wenn du nicht mal weißt, was nach der Flucht passieren könnte?«
»Sie sind unterwegs. Sie sind alle geflüchtet. Auch sie lebt noch.«
»Aber das sagst du doch nur. Du weißt es ja nicht-«
»Ich weiß es sehr wohl. Ich habe es vor einiger Zeit mitgekriegt.«
Seine plötzliche Antwort überraschte mich.
»Und wie hast du das mitgekriegt, dass du dir sicher bist, das sie es ist?«
»Es war halt von Vincent praktisch sich um die Eulen zu kümmern und gleichzeitig stärkere Leute nach draußen zu schicken, die alles beobachten und sich zu Gefahren verteidigen können.«
»Das heißt, du weißt von unseren Boten, dass sie lebt?«
»Ja, daher weiß ich das. Aber nicht explizit, dass nur sie lebt, sondern alle. Sie laufen auch in unserer Richtung; doch dieser Weg hat auch seine Gefahren, daher sollten Begleiter geschickt werden, die sich mit dem Weg und der Gefahr auskennen. In ein paar Tagen müssten sie sich uns nähern.«
Mir fiel auf, dass er davor noch Jin und Hayato kurz begleitete, wodurch ich seine Verbindung sah.
»Sind deshalb die beiden-«
»Ja, genau deswegen«, unterbrach er mich antwortend, da er meine Frage sofort verstand.
Es besteht kein Zweifel, dass hinter seinen Worten was nicht stimmte. Damit meine ich nicht, dass der Junge krumme Sachen schwafelte oder seine Umgebung falsch verstand. Das auf keinen Fall; denn seine Gründe und Herangehensweisen sind für mich sogar menschlich und verständlich. Er redete auch keinen Stuss und seine Worte besaßen auch keinen bitteren Nachklang. Ja, er sprach sogar sein emotionales Thema recht neutral an. Wenn man nur zuhörte, würde man vermutlich auch nichts Falsches mitkriegen oder spüren.
Aber aus dem Grund stand ich ihn ja gegenüber und wollte mit ihm reden: Da ich schon davor irgendwas Falsches in ihm spürte und nun versuchte ihn mit Reden dieses merkwürdige Gefühl auf die Spur zu gehen.
Nicht sein Nachklang während des Sprechens wirkte bitter, sondern das tiefe innere in ihm. Sein eigener Mittelpunkt beim Sprechen.
Daher ging ich im Kopf unsere Unterhaltung nochmals durch und versuchte seinen Sprechmittelpunkt zu finden.
Was mir daraufhin auffiel, ließ mich überraschen, obwohl diese Erkenntnis am Ende doch sehr offensichtlich war, wenn man selber darauf achtete.
Obwohl dieser Junge aus seiner Sicht alles erzählte – und er auch sehr wohl in der ersten Person Singular sprach – erzählte er gar nichts wirklich über sich selber. So paradox es auch sein mag, aber hat – mit Ausnahme der sachlichen Informationen und seinen Gefühlen - kaum was über sich selbst erzählt. Es ging hauptsächlich mehr um sie. Um das Mädchen mit dem Lächeln. Um seine eigene Version von Julia, wie sie ihn ihre Weltansicht mit einem Lächeln zeigte. Schließlich betrachtete Winston seine Welt auch mit einer kleineren veränderten Ansicht, da Julia ihn auch ihre Sicht und Meinung zeigte.
Auch wenn seine Julia, die er erzählte, nicht die Julia aus 1984 war. Schließlich stand vor mir auch nicht Winston Smith, der sich mehr und mehr dem System isolierte, sondern der Junge der vom isolierten Raum kam.
Im Nachhinein klingt es komisch, wenn ich ihn immer wieder mit verschiedenen Romanfiguren verglich, aber so konnte ich seinen Charakter besser sortieren. Von den mysteriösen Lucas zu Bernard Marx hin zu Pierrot Weber bei der Entwicklung zu Peter Weber bis in dem Moment zu Winston Smith.
In dem Moment, als ich an Winston und Julia dachte, spielte sich eine Szene aus dem Buch in meinem Kopf ab. Es war die Szene nachdem Winston das erste Kapitel aus dem Buch von Emmanuel Goldstein für Julia vorlas. Die beiden standen nebeneinander angeschmiegt vor dem Fenster und teilten sich den Gedanken, dass das, was sie taten, bis zum Tode machen. Denn egal, wie sie sich versteckten, ihre Haltung gegen die Partei wird mit dem Tod enden. Wie, wissen sie nicht; aber der Tod kommt auf jeden Fall. Es stand schon fest, als sie sich das erste Mal sahen. Daher akzeptierten die beiden, dass sie nicht nur bald tot sein werden, sondern es schon längst sind. Winston und Julia bestätigten im Moment sich gegenseitig, dass sie schon tot sind; wo auf einmal in dem Moment die eiserne Stimme des versteckten Telemonitors aktiviert wurde und die beiden mit »Ihr seid die Toten« ansprach.
Ich musste aber bei den Worten des Jungens nicht an den Telemonitor denken, sondern um die Sache mit dem Tod. Schließlich merkte ich ja auch, dass dieser Junge sehr an sie hing. Er hing so sehr an ihr, dass er selbst einige Organspender als Boten und Beobachter nach draußen schickte, um auf den neusten Stand zu sein, dass sie noch lebte. Es wirkte ungemütlich, dass er sich so sehr an ihr festhielt. So ungemütlich, dass ich mir nicht vorstellen konnte, was passiere, wenn sie nun nicht mehr lebe. Würde er das wahrnehmen? Würde er das akzeptieren? Oder würde er das abstreiten?
Aber dieser Gedanke könnte mir auch erklären, warum ich ein komisches Gefühl bei ihm habe. Denn ein Tod für die Freiheit besitzt eine andere Bedeutung als ein Tod in Lambda.
»Owen?«, fragte er mich auf einmal und unterbrach meinen Gedankenstrom, »Worüber denkst du gerade nach?«
»Was? Ich-«
»Dein Blick wirkte nachdenklich, Owen. Es scheint, als hätten meine Worte irgendwas bei dir ausgelöst, worüber du nachdenken musstest.«
»Warte mal! Du hast ja meinen Namen problemlos ausgesprochen-«
»Haben wir gerade während unseres Dialogs die Rollen getauscht?«, fragte er mich mit hochgezogener Augenbraue, »Oder warum weichst du meiner Frage aus und unterstreichst nur eine Aussage von mir?«
Es war wirklich gruselig, wie sehr nah er mich nur durch mein Sprechen und Körpersprache verstand; dass man wirklich denken könne, er lese meine Gedanken.
»Du zögerst wohl. Anscheinend hast du eine Frage, die du mir unbedingt stellen willst, aber sie noch nicht aussprechen kannst.«
Seine Aussage war ein Volltreffer. Wie machte er das nur, dass er meinen Gedanken immer schon einen Schritt voraus war? Obwohl er ja doch jünger war als ich.
»Du fragst dich jetzt bestimmt, warum ich wohl dir immer einen Schritt voraus bin, obwohl ich doch jünger sei, richtig?«
Ich antwortete nicht. Schließlich brauchte er keine weitere Bestätigung.
Er schaute mich kurz an, schaute auf dem Boden, seufzte kurz und stützte sich mit der linken Hand auf seinem Tisch ab.
»Hör mal, Owen«, begann er zu erzählen, »Auch wenn ich mich sehr für Naturwissenschaften und Mathematik begeister und auch Philosophie viele Formeln mit Zahlen besitzt, sollte man sich nicht mit seinen Mitmenschen an Zahlen klammern. Gerade wenn es um das Zusammenleben geht. Zahlen, die wir mit dem Zusammenleben verwenden, werden zum Großteil nur zum Vergleichen verwendet. Der Vergleich, wer von allen die größte Zahl besitzt. Diese ewigen Zahlenvergleiche führen einen ungesunden Druck in uns aus. Selbst im Waisenhaus wurden wir mit diesen Zahlen konfrontiert.«
Vermutlich spielte er wohl auf die Punktzahl der täglichen Tests an. Schließlich waren das ja Werte, die zeigten, wie lange man im Waisenhaus leben darf. Ab einem bestimmten Alter – also einer Zahl – fängt man daher mit diesen Zahlenvergleichen an.
»Jedenfalls, Owen«, führte er fort, »War das zumindest ein Grund, warum ich ungerne das Alter mit anderen verglich. Es war ein unangenehmer Stress, den man nicht mal brauchte. So gesehen habe ich selber diesen Stress auch damals auf ältere Geschwister verursacht, da sie sich als schwach oder unausgereift fühlten, weil ich, als jüngeres Kind, ja viel schlauer und besser war. Selbst in Lambda müsste ich bestimmt bei einem toten Kind dieses Gefühl ausgelöst haben, da es ja sterben musste, weil ich ja viel intelligenter und besser war. Und ja, laut Lambda könnte man uns so unterteilen, aber so sind wir aber Menschen nicht.«
Sein Blick wandte sich wieder nach oben und schaute mich an.
»Es funktioniert so bei uns Menschen nicht, da wir sehr komplexe Wesen sind. Wir sind Wesen mit unterschiedliche Gruppen, Gemeinschaften und Kulturen. Soziale Wesen. Soziale Wesen mit ihren eigenen Stärken und Schwächen. Daher sind wir in verschiedenen Kulturen und Gruppen, damit wir mit den verschiedenen Stärken die Schwächen ausgleichen. Daher funktioniert es nicht uns auf einer Zahl runter zustimmen und auszusortieren. Da ein Mensch durch das Aufwachsen seiner Umwelt seine eigene Stärken und Schwächen entwickeln kann. Nur, weil man in einer Gruppe mehr Lebenserfahrung gesammelt hat, heißt es nicht, dass es auch genauso auf der anderen Gruppe zutreffen kann. Oder stelle es dir so mal vor, Owen: Zwei Menschen stehen sich gerade gegenüber. Der eine unterschiedlicher als der andere. Das einzige, was sie verbindet, ist, dass sie die gleichen Sachen im Leben durchlebt haben und in ihrer Gruppe gerade volljährig wurden. Sie sind, von ihrer Erfahrung her, fast identisch. Aber ihre Gruppe, in der sie aufwuchsen, gibt ihnen einen Unterschied. Denn in der einen Gruppe wird man mit 18 schon volljährig, in der anderen erst mit 21. Es gibt also nun einen älteren und einen jüngeren. Macht das den einen nun besser oder schlechter? Nein, keiner von den beiden ist was Besseres oder Schlechteres. Sie sind zwei unterschiedliche Individuen, die zwar eine ähnliche Lebenserfahrung haben, aber in ihrer Gruppe verschieden aufwuchsen. Es ist schwer, sie miteinander zu vergleichen. Trotzdem neigen wir dazu, diese beiden unterschiedlichen Menschen mit einer Zahl vergleichen zu wollen. Das ist zumindest auch eine Sache, warum das in Lambda so abscheulich war. Weil Lambda ein komplexes Wesen, wie den Menschen, mit simplen Zahlen verglich. Was ich damit sagen will, Owen, ist, dass ich deshalb versuche jedes Kind hier bei uns gleich zu betrachten und es nicht mit Zahlen oder Werten vergleiche.«
Ich gebe zu: es haute mich schon um, was er da sagte. Er erklärte mit einem zynischen Ton, was er an Lambda so schrecklich fand. Ich fragte mich selber in dem Moment, ob er sich darüber Gedanken machte, weil ich ja die Kinder in verschiedene Spender unterteilte oder ob er diese Gedanken schon damals im isolierten Raum besaß. Woraufhin ich mich auch fragte, ob er mir einfach nur ein Gleichnis erzählen wollte, dass ich einfach sein Alter ignorieren soll. Schließlich könnte er ja, für das Beispiel, mich und sich selbst verwendet haben. Denn diese Angabe passte dazu: Wenn er 18 wird, werde ich 21. Wir wären in dem Moment gerade volljährig geworden und besitzen auch die ähnlichen Lebenserfahrungen. Trotzdem sind wir beide unterschiedlich woanders aufgewachsen und obwohl wir unterschiedlich woanders aufwuchsen, würde man uns trotzdem vergleichen wollen, indem man uns mit Zahlen verglich.
Der Junge begann wieder zu seufzen und seine Körperhaltung wirkte weniger angespannt.
»Ich habe wohl etwas zu viel ausgeholt. Eigentlich wollte ich ja nur sagen, dass du nicht beim Fragen zögern musst. Du kannst mir ruhig deine Frage stellen.«
Durch das Gleichnis hätte ich wirklich fast meine Frage vergessen. Daher überlegte ich, wie ich sie stellen soll und begann ihn zu fragen.
»Du wirkst über sie und deine Geschwister so selbstsicher. Aber was wäre denn, wenn die Flucht kurz vor dem Ende scheitert. Was machst du dann, wenn sie doch stirbt?«
»Das wird nicht passieren«, antwortete er sofort und knapp.
Seine Antwort überraschte mich sehr. Nicht nur, dass er so schnell darauf antwortete und sie knapp hielt. Seine Stimme gab während der Antwort einen sturen Klang. Es wirkte so ungewohnt, da dieser Klang gar nicht zu seinen Sätzen davor passte. Diesmal wirkte es so, als würde man meine Frage wirklich ausweichen. Aber nicht mehr so unterschwellig wie davor, sondern offensichtlicher und unvorsichtiger. Daher wiederholte ich sie.
»Vielleicht wird das ja auch nicht passieren. Aber das ist nicht meine Frage, ob es nun passiert oder nicht. Es geht um dieses mögliche Szenario. Was wäre denn, wenn sie stirbt?«
»Nein, das ist kein mögliches Szenario! Dieses Szenario wird nicht existieren. Das wird niemals passieren. Das ist unmöglich. Es ist absolut unmöglich, dass sie stirbt.«
Seine Antwort wirkte immer noch stur. Nein, sie wirkte nicht nur stur. Sie wirkte auch naiv. Eine naive Weltansicht, die stur auf schwierigen Fragen antwortet. Die Art der Aussagen ähnelte mehr einem kleinen Kind. Ein kleines Kind, das sich an etwas sehr lange festkrallt.
»Aber es besteht immer noch die kleine Wahrscheinlichkeit-«
»Ich habe es doch gesagt: Nein, das wird nicht passieren. Ihr Tod wäre unmöglich.«
»Aber sie ist doch nicht unsterblich. Es ist unmöglich unsterblich zu sein. Jeder Mensch ist sterblich. Was wäre denn, wenn der Tod sich ihr-«
»Nein, Nein und nochmals Nein. Ich kenne sie. Sie wird sowas nicht zulassen.«
»Darum geht es doch auch gar nicht. Selbst wenn sie sich gegen den Tod strebt und du sie sehr gut kennst, ändert sich doch nichts an meine Fragestellung.«
»Das wird trotzdem niemals passieren-«
»Und früher hat man auch gesagt, dass die Titanic durch ihrer Größe, Ausstattung und Konstruktion als unsinkbar galt. Einige Passagiere sind während des Untergangs lieber auf das Schiff geblieben, als auf den Rettungsbooten, da sie das Schiff als sicherer empfanden. Aus dem Grund, weil man dachte, dass das Sinken unmöglich sei. Weil man sich das Szenario eines Riesenschadens überhaupt nicht vorstellen konnte.«
Wie auf Schlag hörte er plötzlich auf zu reden und schwieg für einen Moment.
Erst dann fiel mir auf, wie fremd sich diese Unterhaltung für mich anfühlte. Vor ein paar Sekunden habe ich mich noch mit ihm auf Augenhöhe unterhalten, wo er sogar noch in einen erwachseneren Ton sprach. Doch bei der Unterhaltung änderte sich die Rolle. Es fühlte sich an, als würde mein jetziges Ich sich mit dem Jungen unterhalten, bevor er überhaupt nach Lambda kam.
Als würde jemand, der ein bestimmtes Problem sieht und kennt, mit jemanden unterhalten, der dieses Problem aus seiner naiven Sicht nicht erkennt und es auch wegen seiner naiven Sicht nicht verstehen und nachvollziehen kann.
Wenn ich das mit Romanen erklären würde, fühlte es sich wie eine mögliche Szene aus Der Junge im gestreiften Pyjama an. Eine Szene, wo Schmuel – meine Sicht – und Bruno – seine Sicht – sich gegenüberstellen, Schmuel sein Leiden erzählt und Bruno sie einfach nicht verstehen kann und sie mit seinen Alltagsproblemen vergleicht.
Aber vor mir stand nicht Bruno, sondern dieser Junge. Dieser Junge, dessen Erscheinung sich schlagartig verändert hat. Meine Antwort schien ihn wohl unzufrieden zu stellen, obwohl er auch wusste, dass ich mit diesem Vergleich auch Recht habe. Er schaute mich mit einem gereizten Blick an.
»Wie ich es nochmal betone«, zischte er leise zu sich selbst, »So etwas wird trotzdem nicht passieren.«
»Dann formuliere ich das mal anders«, antwortete ich vorsichtig darauf, da ich mit seinem Wechsel auch überfordert war, »Was wäre denn nun, wenn sie doch stirbt-«
»Das ist immer noch die gleiche Frage. Ich habe doch gesagt-«
»Du aber auch ihren Leichnam sehen würdest? Ihr toter Körper würde vor dir erscheinen und du siehst ihre Existenz vom Tod.«
Mit einem Mal hörte er nun wirklich auf zu reden. Er schwieg nicht nur für einen Moment, sondern gab sehr lange keinen weiteren Ton von sich. Er schaute zu Boden und dachte lange über meine Frage nach. Selbst sein üblicher Gesichtsausdruck ist wieder zurückgekehrt. Vom naiv-wütenden Blick wieder zurück zur ruhigen Person.
Er antwortete lange nicht auf meine Frage. So lange, dass ich schon dachte, dass er sie absichtlich ignorierte. Doch in dem Moment, wo ich schon anfangen wollte wieder zu sprechen, gab er eine leise aber knappe Antwort von sich.
»Tja... wer weiß...«
Anfangs wollte ich mich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben. Schließlich beantwortete es nicht wirklich meine Frage. Doch am Ende habe ich ihn weder ermahnt noch meine Frage wiederholt. Denn, auch wenn die Antwort so offen klang, war es dennoch seine ehrliche Antwort. Seine Antwort, über die er wirklich länger nachdenken musste und nicht einfach auswich oder stur ablehnte.
Mir wurde bewusst, dass ich ihn bei der Frage wirklich emotional traf. Durch eine einzige Frage bekam ich es hin, dass er sich auch mal von einer anderen Seite zeigte. Selbst Vincent, der in Lambda das einzige Kind war mit dem er sich überhaupt austauschen konnte, hätte ihn nie solche persönlichen oder empfindlichen Fragen gestellt. Zumindest hat Vincent mir davon nie was erzählt; und ich kannte ihn, dass er solche Ereignisse mir anvertraut hätte.
Auch wenn ich mit der Antwort weniger zufrieden war, akzeptierte ich sie jedoch. Es war eine Antwort und sie verriet doch noch mehr, als man im ersten Moment denken würde.
Daher breitete sich um uns eine unangenehme Stille aus. Keiner sprach sein Gegenüber an. Ich wollte die Stille unterbrechen und sagen, dass wir uns wohl genug unterhalten haben, jedoch fing er als erstes an zu sprechen, was mich wieder still werden ließ.
»Die Eulen...«, flüsterte er schon fast und drehte sich mit seinem Oberkörper um, so, dass er zum Fenster, das hinter ihm stand, schaute konnte. Der Sonnenuntergang verschwand langsam immer mehr, während die Dunkelheit weiter voranschreitet. Sein Blick wirkte ruhig und konzentriert, als wollte er sich nur noch auf das Fenster konzentrieren.
»Was ist mit den Eulen?«, fragte ich ihn, da ich seine Aussage nicht verstand.
Sein Blick wandte sich wieder zu mir und antwortete ganz unvoreingenommen auf meine Frage, als hätte unser Dialog nicht stattgefunden.
»Die Eulen. Die, um die sich doch Vincent kümmert. Du weiß doch, Owen. Wir verwenden doch die Eulen wie unsere eigenen kleinen Boten.«
»Aber was ist denn mit denen?«
»Ich habe gerade eine an diesem Fenster vorbeifliegen gesehen«, antwortete er und zeigte mit dem Daumen auf das Fenster.
»Aber ich habe keine sehen.«
»So hätte ich sie auch nicht gesehen. Ich habe sie nur erkannt, da ich gerade auf meinem Tisch schaute und einen schnellen Schatten vorbeifliegen sah.«
Normalerweise ist das eigentlich nichts besonderes, wenn unsere Eulen außerhalb des Versteckes herumflogen. Schließlich machten sie das jeden Tag. Es gab aber eine einzige Sache, die in diesem Moment sehr ungewöhnlich war.
»Eulen sind zwar nachtaktiv, aber unsere Eulen fliegen um diese Zeit eigentlich nicht mehr rum«, überlegte ich laut, »Das ist wirklich sehr ungewohnt, dass jetzt eine hier vorbei flog.«
»Das tun sie bei uns auch nicht. Die einzige Ausnahme sei, dass sie uns eine Nachricht überreichen will.«
»Aber um die Zeit?«
»Dann muss das wohl eine sehr wichtige Nachricht gewesen sein«, sagte er und ging langsam vom Tisch weg und lief in meine Richtung.
»Was willst du denn machen?«, fragte ich ihn, während er an mir vorbeilief.
»Zum Eulenzimmer gehen und nachschauen, was wir für eine Nachricht bekommen haben«, antwortete er beim Vorbeilaufen, »Vincent ist um die Zeit bestimmt noch dort und kümmert sich wohl um die Eule.«
Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch ich blieb trotzdem mitten im Raum stehen und rührte mich nicht. Schließlich ging mich das mit den Eulen nichts an und war auch nicht meine Tätigkeit. Jemand, wie mich, der für die Ordnung zuständig war, musste sich ja nicht um die Eulen kümmern, daher ließ ich ihn und Vincent diese Tätigkeiten klären; ich war nicht daran beteiligt. Also ließ ich den Jungen einfach gehen.
Doch bevor er den Raum verlassen wollte, blieb er vor der Tür stehen.
»Das wird auf jeden Fall noch passieren«, hörte ich auf einmal ihn mit diesen - anscheinend - zusammenhangslosen Satz reden.
Ich bewegte nur meinen Oberkörper, indem ich mich zur Seite drehte – so, wie er es auch vor dem Fenster machte – und schaute ihn an.
Er stand immer noch vor der Tür. Die rechte Hand an der Türklinke und das Gesicht zur Tür gewandt.
»Was auch alles passieren mag, das eine wird auf jeden Fall noch passieren«, redete er weiter, »Damit meine ich nicht den einen Tod. Ganz im Gegenteil. Ich meine damit, dass wir beide uns bald gegenüber stehen werden. Wir beide mussten eine lange Zeit warten; doch irgendwann wird unsere Geduld belohnt. Es wird nicht nur ein gegenüber stehen. Es wird nicht nur ein einfacher Blick. Es wird nicht nur zu einer einzigen Berührung kommen. Es wird zu einer Wiedervereinigung kommen. Eine Wiedervereinigung, der unsere Trauer tröstet und uns wieder zusammenbringt. Das wird auf jeden Fall passieren. Daran glaube oder hoffe ich nicht nur. Ich bin davon überzeugt. Ich bin so sehr davon überzeugt, dass ich alles dafür tue, damit dieses Ereignis endlich geschehen kann.«
Mit diesen Worte öffnete er die Tür, ging raus dem Raum, schloss sie leise wieder und ließ mich im Raum alleine stehen.
Während ich noch seine entfernenden Schritte hörte, stand ich regungslos da. Alleine; nur noch mit meinen Gedanken und der einsamen Stille des Raumes. Musste sich damals so sein Leben in Lambda angefühlt haben? Alleine in den einen Raum herumsitzen. Nur umgeben von dieser Stille, seinen Gedanken und der totalen Überwachung?
Als ich damals 1984 las fühlte ich mich bei den Szenen, wo Winston vor seinem Verhör und Folterung in diesen weiß-gekachelten Raum saß, immer unwohl. Diese Vorstellung löste in mir ein ungemütliches Kopfkino aus. Winston muss in diesem Raum, wo 24 Stunden immer grelles Licht schien, mehrere Tage oder Wochen ohne Zeitgefühl still sitzen und durfte keine ungewöhnlichen Bewegungen machen. Denn sonst ermahnte ihn eine Stimme am Telemonitor schreiend und kommandierend an. Ich fühlte mich beim Lesen dabei immer unwohl, da mir diese Vorstellung Angst einjagte. Das Gefühl, man wird mehrere Tage mit grellem Licht in einen Raum eingesperrt, wird dabei bei jeden Blickwinkel beobachtet und bewertet und man darf trotzdem keine Emotionen zeigen oder sich irgendwie bewegen? Das würde ich kaum aushalten.
Dabei muss dieser Junge genau das durchlebt haben.
Er war nicht nur ein paar Tage oder Wochen in so einer Umgebung, sondern ein ganzes Jahr lang.
So, wie ich auch die Überwachungstechnik aus Lambda kannte, wurde er auch aus jeden versteckten Winkel beobachtet. Es gab bei ihm keinen einzigen toten Winkel in diesem Raum, wo er sich isolierte. Selbst im Badezimmer und bei den Tests wurde er ununterbrochen beobachtet. Diese Überwachung war, wenn man das verglich, noch viel strenger als in 1984. Big Brother könne zwar alle Bewohner Ozeanien beobachten, sowie auch die Telemonitore oder Ingsoc; aber selbst in 1984 konnte sich Winston immerhin zu Orten flüchten, wo man ihn nicht sofort beobachten konnte, seine wahren Emotionen auch mal zeigte und immerhin Privatsphäre besaß.
Genau das hatte dieser Junge in Lambda niemals gehabt.
Ich merkte auch so langsam, wie abstrus meine Vergleiche zu ihn und den Romanfiguren wurde, da er eine Last besaß, die kein anderer dieser Figuren hatte – bis vermutlich auf Winston: sie waren zwar an einem Ort festgebunden, den sie nicht mehr entkommen konnten, aber sie besaßen das Recht, sich mit anderen Mitmenschen austauschen, über ihre Probleme anzusprechen und durch den Kontakt ihrer wichtigen Mitmenschen ihre eigenen Probleme selbst überwanden.
All das traf auf diesen Jungen nie zu. Es konnte auch nie passieren, da ihm alle diese Zugänge versperrt wurden. Dazu auch noch zu einer Zeit, wo er sich langsam mehr zu einen jungen Erwachsenen entwickelte.
In dem Moment verstand ich, was das Gefühl war, was ich zu diesen Jungen spürte.

Auch wenn der Junge versuchte diese Signale nicht auszustrahlen, kamen sie dennoch ganz langsam aus ihm hervor: die Hilfslosigkeit eines Kindes, das immer noch in ihm feststeckte.
Er scheint zwar körperlich sowie auch geistlich gealtert zu sein, aber gerade diese Hilflosigkeit ließ ihn nicht los und machte ihn deswegen so durcheinander. Sie verweigerte, dass sie sich in ihm entwickelte, weshalb er sich auch auf einmal während unserer Unterhaltung bei dem unmöglichen Tod stur wie ein Kind benahm. Ein Kind, das egoistisch an einer Sache festhielt.
Er ist einfach in der Form, wo es um das menschliche Miteinander geht, stehen geblieben und kaum gealtert. Immer noch egoistisch und dachte bei der Unterhaltung kaum noch an seinen Mitmenschen, als würde er mit denen nicht reden.
Ich fragte mich, warum diese Hilfslosigkeit ihn so egoistisch machte und stellte mir seine Situation in Lambda bildlich vor. Ich stellte mir Lambda aus seiner Perspektive vor und verglich sie mit meiner sowie auch die von den anderen. Durch diese Sicht und unser Gespräch bekam ich auf einmal einen neuen Gedanken, der mich unruhig und besorgt werden ließen.
Dieser Junge war elf Jahre alt als er nach Lambda kam. Lambda, diese Farm, was unethische Forschung betrieb, musste er mit seinen eigenen Augen ständig miterleben. In der Zeit wuchs er mehr zum Jugendlichen heran, der mehr und mehr die Welt und sein eigenes Sein hinterfragte. Dazu noch wurde er, wie bei Winston, permanent beobachtet und durfte nicht auffallen. Bevor er nach Lambda kam hatte er vermutlich schon einige Schicksalsschläge hinter sich. Auch wenn es unwohl klang, bekam er auch Schicksalsschläge in Lambda mit. Vielleicht wurde er auch mit Drogen und Medikamente unterschwellig vollgepumpt. Um das alles noch zu unterstreichen, war er ein ganzes Jahr lang von allem isoliert und konnte sich mit niemanden unterhalten oder austauschen.
Auf einmal sah ich was in einer Sache, die ich mir noch vor kurzer Zeit nicht vorstellen konnte: ihm ging es unter anderen Umständen schlechter in Lambda als bei uns. Cislo und Barbara haben zwar vom körperlichen her mehr gelitten als er, aber wenigstens waren sie sich untereinander, konnten sich sozial austauschen und so das Grausame mit den anderen Kindern verarbeiten. Selbst ich merkte, wie ich durch die Unterhaltungen mit Cislo, Barbara und Vincent die grausamen Sachen vergaß. Durch den sozialen Austausch konnten wir uns durch Gespräche aufstützen.
Genau dieser Zugang blieb diesem Jungen verwehrt. Er besaß keinen einzigen Menschenkontakt und konnte sich mit niemand austauschen. Den einzigen Menschenkontakt, den er noch besaß, existierte nur noch in seiner Vergangenheit. Vermutlich konnte er sich nur mit seinen Erinnerungen trösten und motivieren. Er war innerlich auf sich allein gestellt.
Ich erinnerte mich wieder, was Barbara damals vor einiger Zeit zu mir sagte.
»Lieber würde ich mit dir tauschen als mit diesen Jungen!«, hallte ihre Stimme durch meinem Kopf, »Dieser Kerl wird von allem komplett weggesperrt. Das würde ich nicht aushalten. Lieber nehme ich ein paar Experimente im Kauf und dann euch noch zu sehen, anstatt nie wieder mit einen anderen Menschen zu reden!«
Ich verstand nun, was Barbara damit meinte, die wohl schon damals diese Probleme von ihm erkannte.
Aber trotzdem ließ mich eine Sache von ihm erstaunen. Trotz seiner Isolation und der kaum existenten Kommunikation schaffte er es dennoch alle Kinder nach Lambda wieder Kraft und Mut zu geben und das allein nur durch sein Charisma. Ein Charisma, was nicht nur alle stärkte, sondern auch ihm half und für eine Weile seine Probleme versteckten konnte. Ein Charisma, was er nur erschaffen und aufrecht erhalten konnte, in dem er verschiedene Rollen einnahm und sie sich in der jeweiligen Situation anpassten. Da er auch Pseudonyme besaß, fiel ihm das bestimmt noch leichter. Vermutlich ein weiterer Grund, warum er all diese Pseudonyme verwendete.
Nur verschleierte all das seinen richtigen Charakter und vermutlich ist dieser wahre Charakter in unserem Gespräch kurz ausgebrochen. Das innere, hilflose Kind.
Denn das ist, was der Junge in Wahrheit ist: er ist im innersten immer noch ein traumatisiertes Kind, das seine schrecklichen Ereignisse nicht verarbeiten konnte. Er ist im innersten immer noch der Junge geblieben, der er damals war und nun vergeblich nach Hilfe schreit und weint.
Dieses kleine Kind tauchte für einen kurzen Moment bei uns auf, weshalb ich auch das Gefühl bekam, ich würde kurz mit einer anderen Person sprechen. Ich habe dieses innere Ich kurz aus ihm heraus gekitzelt.
Dieses wahre, innere Ich verfolgt nur ein einziges Ziel: den Menschen wieder zu begegnen, der für ihn sehr wichtig ist. Dieses Ich will alles daran hoffen und setzen, dass sie sich wieder begegnen können. Auch wenn er sich selber dafür verletzen muss.
Er und sie sind zwei Menschen, die ich niemals mit jemand anderen vergleichen kann.
Sie, das Mädchen, dessen Lächeln er unbedingt wiedersehen will, ist die einzige Sache, die ihm noch Kraft gibt.
Selbst wenn sie nur noch in seiner Vergangenheit existiert.
Selbst wenn sie nicht vor seiner Gegenwart gegenüber steht.
Selbst wenn ihn der Weg dahin verwunden sollte.
Ihr Lächeln lässt ihn nicht aufgeben. Da er immer noch an sie glaubt, wird er alles daran setzen seinen Weg durchzuziehen. Ihr Lächeln durchbricht sein eigene Raum und Zeit.
Das ist das, was diesen Jungen ausmacht und mich so an ihn faszinieren lässt:
Er steht immer wieder auf, obwohl er so viel erlitten hat.
Er macht weiter, obwohl sein inneres Ich ihn mit Hilfslosigkeit quält.
Er will sein Ziel durchsetzen, obwohl er davor noch nicht wusste, ob sie und seine weiteren Geschwister fliehen und überleben konnten.
Er gibt allen Mitmenschen Kraft und Mut, obwohl er selber Hilfe braucht.
Er strebt nach der Freiheit, obwohl er zu viel Verantwortung übernimmt und sich überarbeitet.
Er sucht nach Frieden, auch wenn der Hass in ihm tobt.
Er besitzt Hoffnung, auch wenn er viele Sachen einstecken musste.
Er macht etwas, was sich viele von uns am sehnlichsten wünschen, obwohl er das alles nur wegen einer einzigen Person macht.
Er ist jemand, der sich an einen Menschen sehnlichst festhält und niemals aufgeben will.
Er ist jemand, der diesen Menschen niemals verraten wird und kann.
Er ist derjenige, der sich für einen einzigen Menschen aufopfern würde.
Er wird niemals ein Winston Smith sein, der in Raum 101 Panik bekam.
Er wäre ein Winston gewesen, der freiwillig angekettet in Raum 101 sein Gesicht von abgehungerten Ratten zerfleischen ließ und lieber selber diese Folter voller Panik abzukriegen, nur um seine geliebte Julia niemals zu verraten.
Er war im unserem Gespräch für einen kurzen Moment wieder dieser eine Mensch gewesen, den ich vor einer gefühlten Ewigkeit kurz kennenlernte und ihn nicht mehr aus dem Kopf bekam.
Der Junge, der für mich was Besonderes war.
Der Junger, der nicht mehr aus meinen Kopf ging.
Der Junge, der mein Leben verändern sollte.
Der Junge vom isolierten Raum.

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