1. Kapitel
Leichter Regen prasselt gegen Ellas Fensterscheibe. Einzelne Tropfen bilden sich, laufen das Glas hinunter und sammeln sich auf dem Fensterrahmen. Die Lichter der Autos in der Dunkelheit schimmern bunt in den Tropfen und lassen die ganze Szene gemütlich wirken. Zumindest wenn man den Lärm ignoriert, der durch den Verkehr auf der vielbefahren Straße entsteht. Von ihrem Zimmer im Obergeschoss des kleinen Hauses ihrer Eltern aus, hat sie einen perfekten Blick auf die Straße, an der sie aufgewachsen ist. Dieser Blick ist ihr so vertraut wie das prasselnde Geräusch gegen die Scheibe.
Seufzend wendet Ella sich von dem geschäftigen Treiben der Außenwelt ab und streicht sich eine Strähne ihrer langen schwarzen Haare hinter das Ohr. Irgendwie ist es typisch, dass draußen so ein Wetter herrscht, wenn sie nicht arbeiten muss. Immer wenn sie arbeitet, scheint die Sonne und sobald auf ihrem Terminkalender steht, dass sie frei hat, nimmt sich die Sonne ebenfalls einen Tag Auszeit. Zickiger Feuerball, der sie offensichtlich hassen muss.
Ein Blick auf ihr Smartphone verrät ihr, dass er bereits losgefahren ist. In ungefähr einer halben Stunde müsste er klingeln. Jason, der Typ, den sie vor einigen Monaten über Tinder kennengelernt hat. Bei dem Gedanken an diese App schüttelt sie sich innerlich. Sie weiß immer noch nicht, was sie damals dazu veranlasst hatte, sich diesen Mist herunterzuladen. Es muss pure Verzweiflung gewesen sein, anders kann sie es sich nicht erklären.
Nach ihrem Schulabschluss wollte sie ihr Leben endlich selbst in die Hand nehmen. Zwar fühlt sie sich hier bei ihren Eltern wohl, aber so langsam möchte sie Ausziehen und sich ein eigenes Leben aufbauen. Es ist toll, keine Miete zahlen zu müssen und immer ein warmes Mittagessen von ihrer Mutter gekocht zu bekommen, aber ihr fehlt etwas in ihrem Leben. Die meisten Männer und Dates raubten Ella damals zwar den letzten Nerv, aber dieses Mal hatte sie Ehrgeiz, endlich den Prinz unter all den Fröschen zu finden. Und dieser Prinz scheint Jason zu sein. Zumindest sieht er gut aus mit seinen schwarzen dichten Haaren, dem markanten Kinn und den braunen, unergründlich dunklen Augen. Sie hat das Gefühl, dass er einigen Ligen über ihr spielt und wunderte sich, als er sie nach einem Date fragte und damals auch nicht direkt nur vögeln wollte, wie seine Vorgänger. Außerdem hat er einen festen Job als Handwerker und bereits eine eigene Wohnung.
Seufzend blickt sich Ella in ihrem kleinen Spiegel an, der im Zimmer an der Wand hängt. Gleich freut sie sich auch noch darüber, dass er selbstständig atmen kann. Ist sie wirklich so tief gesunken mit ihren Ansprüchen? Oder ist die heutige Auswahl an Jungs so schlecht, dass man anfängt, sich über solch selbstverständliche Dinge zu freuen?
Etwas unsicher zupft sie an ihrem dunkelroten T-Shirt herum, was ihr auf der linken Seite leicht über die Schulter rutscht. Der Träger ihres BH's sticht ihr in die Augen, den man störend sieht. Bei ihrer Körbchengröße könnte man ihn fast weglassen, aber das ist ihr irgendwie zu unangenehm. Das Shirt fällt schön locker über ihren zierlichen Oberkörper und gibt nicht zu viel davon Preis. Auch wenn ihre Jeans etwas enger anliegt, fühlt sie sich in diesem Outfit wohl. Sie versteckt sich nicht, sieht aber auch nicht billig aus, weil sie sich so freizügig kleidet wie viele andere Mädchen in ihrem Alter.
Mit den Händen fährt sie sich durch ihre langen schwarzen Haare, in der Hoffnung, etwas mehr Volumen hineinzubekommen. Kritisch betrachtet sie ihr Spiegelbild und schiebt sich die Brille gerade auf die Nase. Eindeutig ein paar Klassen unter Jasons Niveau. Was will er überhaupt von ihr?
Durch seinen Job auf dem Bau ist er körperlich durchtrainiert und sie wirkt vom Körperbau her wie ein kleines Mädchen, was noch in die Pubertät kommen muss. Natürlich kommt es nicht nur auf die Optik an, erinnert sie sich. Das ist zumindest der Satz, den sie stets von ihrer Mutter zu hören bekam, wenn sie mal wieder wegen ihrem Aussehen verunsichert war. Irgendwie sind die guten Gene in ihrer Familie unfair verteilt worden. Ihre größere Schwester Anne hat langes, leicht welliges glänzendes Haar und einen tollen weiblichen Körperbau, mit dem sie schon einige Männerherzen zum Schmelzen und Brechen gebracht hat. Und dann kommt sie selbst daher. Das absolute Gegenteil von heiß, sexy und begehrenswert.
»Wärst du grau, wären wir beide ein tolles Team der grauen Mäuse.« Unwirsch wendet sich Ella vom Spiegel ab und stattdessen ihrer braunen Maus zu, die sie aufmerksam aus ihrem Käfig mit den dunklen Knopfaugen ansieht. Leicht lächelnd streckt sie ihren Finger durch die Gitterstäbe und lacht kurz auf, als das kleine Tier sanft daran schnuppert und mit der winzigen Zunge darüber leckt.
Hastig wischt sie Heu zusammen, welches ihr süßes Haustier beim Spielen aus dem Käfig geschmissen hat, damit es einigermaßen ordentlich aussieht, wenn ihr Besuch kommt. Im Berufsverkehr könnte er zwar einige Minuten länger brauchen, aber die Uhrzeit verrät ihr, dass es nun in den nächsten Augenblicken klingeln wird. Ihr Herzschlag beschleunigt sich schon, wenn sie nur daran denkt, dass er gleich vor der Tür steht.
Dabei hat sie ihn doch schon so oft gesehen, wieso ist sie noch immer nervös?
Bevor sie darauf eine Antwort finden kann, hört sie das Klingeln. Kurz stockt ihr der Atem, dann prescht sie aus ihrem Zimmer. So schnell es geht, sprintet sie die Treppe nach unten ins Erdgeschoss und auf die Haustür zu. Ihre Eltern sind nicht da, weswegen das Wohnzimmer, an dem sie vorbeikommt, im Dunklen liegt. Fast schon vorwurfsvoll fällt ein einziger Lichtstrahl aus dem Flur auf den braunen Flügel, der dort mittig steht. Ein kurzer Stich schießt durch ihren Oberkörper. Seitdem sie angefangen hat sich mit Jason und vorher den anderen Jungs zu treffen, hat sie das Klavierspielen vernachlässigt. Ihre Schritte werden langsamer, sie spürt ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen.
Vor der Haustür sieht sie die Silhouette ihres Freundes. Zumindest sagte er ihr vor ein paar Wochen, dass sie nun ein Paar wären. Ihr ging diese Entscheidung etwas zu schnell, gleichzeitig sagte ihr Gehirn jedoch, dass sie diese Chance nutzen muss. Einen Typen wie ihn wird sie nicht noch einmal finden. Außerdem wäre sie endlich mal angekommen. Muss nicht weiter suchen, sich ausnutzen und vorführen, oder wie eine Nutte nur zum ficken benutzen lassen. Aber dennoch.
Unsicher gräbt sie ihre Zähne in die Unterlippe. Kurz schließt sie ihre Augen und erinnert sich an das Gefühl, wie ihre Finger über die Tasten flogen und eine wunderbare Melodie das Haus erfüllte. Ihr wird ganz warm und sie muss dem Drang widerstehen, sich genau jetzt auf den Hocker vor dem Klavier zu setzen und ihr Lieblingslied zu spielen.
Es klingelt erneut schrill in ihren Ohren und sie läuft die letzten Schritte bis zur Haustür. Sie kann Jason schließlich nicht noch länger draußen im Regen stehen lassen.
Ihre Lippen verziehen sich zu einem erwartungsvollen Lächeln und sie öffnet die Tür.
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