6. Kapitel
Ich erwachte abrupt, als der Boden plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde unter meinen Füßen hinweg sackte. Erschrocken riss ich die Augen auf und fuhr hoch. Etwas, was ich gleich darauf bereute, als mich augenblicklich eine Welle des Schmerzes überrollte und mich nach Luft schnappen ließ, wie ein Fisch auf dem Trockenen.
"Sehr geehrte Fluggäste", tönte eine monotone Frauenstimme aus einem Lautsprecher direkt über mir. "Wir fliegen durch leichte Turbulenzen. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen und ziehen Sie die Sicherheitsgurte an."
Sehr geehrte Fluggäste?
Ich blinzelte ein paar mal, während das Brennen in meinem Körper schleppend nachließ und ich wieder in mich zusammensank, wie eine leblose Stoffpuppe. Mein Kopf dröhnte, als wolle er jeden Moment zerplatzen und mein Herz raste, als befände es sich gerade auf der Zielgeraden der olympischen Staffel. Das unruhige Ruckeln meines Sitzes veranlasste mich dazu, die Armlehnen zu umklammern, als seien diese ein Rettungsring auf hoher See.
Atmen. Einfach nur ganz ruhig atmen.
Ich hatte mich ganz sicher verhört! Ich befand mich nicht in einem Flugzeug und erst Recht nicht irgendwo in luftiger Höhe, wo der Wind mich gerade versuchte, zurück auf die Erde zu pusten.
Wieder einmal begann mein Magen Polka zu tanzen.
Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf meine Atmung, versuchte so tief und ruhig wie Möglich Luft zu holen, was leichter gesagt war als getan.
Einfach atmen. Atmen, atmen und nochmal atmen, wiederholte ich die Worte meiner Mutter gleich einem Mantra in meinem Kopf. Ein Mantra, dass mich schon mein ganzes Leben lang begleitete.
Das Ruckeln hielt gefühlt eine halbe Ewigkeit an und als es schließlich nachließ, dauerte es die restliche Hälfte der Ewigkeit, bis ich zaghaft wieder meine Augen aufschlug und zu meiner linken Seite schielte, wo verdächtig grelles Tageslicht auf mein Gesicht fiel. Wie vermutet war in der Wand neben mir ein kleines Fenster eingelassen und hinter der doppelten Plexiglasscheibe erstreckte sich ein endlos weiter, endlos weißer Wolkenteppich bis zum Horizont. Er bestätigte meine Befürchtung, dass ich mich tatsächlich an Bord eines Flugzeugs befand, in schwindelerregender Höhe über nebeligen Dunstschwaden. Ein leichtes Ziehen breitete sich in meiner Magengegend aus.
Draußen hörte ich das gleichmäßige Rotieren von Motoren. Es vermischte sich mit den gedämpften Stimmen zahlreicher Menschen, die überall um mich herum verteilt sitzen mussten. Langsam aber sicher beruhigte sich mein heftig schlagendes Herz und auch der Klammergriff meiner Hände löste sich allmählich von den Armlehnen.
Alles war gut. Kein Grund zur Panik. Ich befand mich nur sehr wahrscheinlich kilometerweit entfernt über der Erdoberfläche. In einem verdammten Flugzeug. Über den Wolken.
Ich ließ meinen Kopf gegen die Nackenstütze sinken und meine Augen wanderten über die Rückenlehne meines Vordermanns. Er hatte sie ein Stück nach hinten gestellt, sodass sie gegen meine Kniescheiben stieß.
"Megan?", eine Hand griff nach meinem Unterarm und jagte meinen Puls somit wieder schlagartig in die Höhe. Ruckartig fuhr ich herum.
Blöder Fehler, wie ich augenblicklich feststellte, als ein erneuter Schmerz am Hals mich mein Gesicht verziehen ließ.
"Megan", wiederholte das Mädchen neben mir mit Nachdruck, während ihre Hand beruhigend meinen Arm tätschelte. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor, aber es dauerte einen Moment, bis ich es zuordnen kannte.
"Lilia!", stieß ich schließlich hervor, was ihr ein kleines Lächeln entlockte. "Wie geht es dir?" Ihre Stimme war sanft und weich, als würde sie zu einem Säugling sprechen.
"Wie von einem Lastwagen überfahren." Vorsichtig bewegte ich jeden einzelnen meiner Finger und fügte nach kurzer Überlegung hinzu: "Von einem sehr schweren Lastwagen, der mich sehr gründlich überfahren hat."
"Das ist gut zu hören."
"Inwiefern?" Ich legte meine Stirn in Falten. "Seit wann ist es etwas Positives, wenn man von einem Lastwagen überfahren wird?"
"Das meinte ich nicht." Lilia schüttelte den Kopf und ihr Lächeln wurde ein Stück breiter. "Ich hatte bloß Angst, ich hätte dich ernsthaft verletzt. Die Art und Weise, wie du aufgeschlagen bist, sah nämlich nicht wirklich gesund aus."
"Wie ich aufgeschlagen bin?" Ich sah sie verwirrt an und entzog meinen Arm ihrer Hand, da mir das noch immer anhaltende Tätscheln albern vorkam. "Wovon redest du?"
"Ich rede davon." Sie deutete auf meine nackten Unterarme. Dünne Kratzer zogen sich über meine Haut, verflochten sich auf ihr zu einem abstrakten Muster aus dunkelroten Linien. Mit den Fingerkuppen fuhr ich eine der mit Abstand längsten Schrammen nach, die sich bis zu meinem Handgelenk hinzog.
Woher kamen sie?
Nachdenklich sah ich wieder auf. Nur, damit mein Blick an Lilia vorbei glitt und Riley erfasste, die neben ihrer Freundin saß und mit geschlossen Augen Musik hörte. Dabei wippte ihr einer Fuß im Rhythmus der lauten Bässe, welche dumpf aus ihren Kopfhörern hervordrangen, auf und ab.
"Was macht Riley hier?" Mein Blick wanderte zu Lilia zurück. "Und was machst eigentlich du hier? Und vor allem, was mache ich hier?"
"Oh, das ist eine gute Frage!" Lilia zupfte ihren dunkelblau karierten Rock zurecht. "Und zum Glück weiß ich die Antwort."
"Die wäre?", hakte ich gedehnt nach, als sie keine Anstalten machte, weiter zu sprechen.
"Die wäre", fuhr Lilia nach einer kurzen Pause weiter fort und strich sich mit gespreizten Fingern durch ihr schwarzes Rapunzelhaar, "dass wir nach Nordamerika fliegen."
"Nach Nordamerika?", wiederholte ich ungläubig. "In die USA?"
Sie nickte. "Du hast doch hoffentlich nichts gegen die Vereinigten Staaten, oder?"
"Nein, nein!" Ich hob abwehrend die Hände. "Aber was..."
"Es ist alles in Ordnung, Megan. Okay?", unterbrach sie mich eilig, ehe ich weiter sprechen konnte. "Alles ist in bester Ordnung."
"Alles ist in bester Ordnung?", echote ich wenig überzeugt. "Wieso ist alles in bester Ordnung?" Ich schüttelte bloß den Kopf und antwortete mir selber: "Nichts ist in Ordnung! Überhaupt nichts! Ich befinde mich in einem Flugzeug nach Amerika und weiß weder, wieso ich hier gelandet, noch, wie ich überhaupt an Bord gekommen bin!" Meine Stimme schraubte sich mit jedem Wort eine Tonlage höher. "Ich bin noch nie mit einem Flugzeug geflogen!"
Und ich habe ganz neben bei erwähnt Akrophobie.
Letzteres sprach ich natürlich nicht laut aus. Ich band recht ungern fremden Mensch die Tatsache auf die Nase, dass ich Höhenangst hatte und sich mein Magen augenblicklich krampfhaft zusammenzog, wenn ich auch auch nur daran dachte.
Dass ich noch nie mit einem Flugzeug geflogen war, stimmte übrigens. Die Reiseziele von Mum und mir hatten sich bisher immer nur auf Orte beschränkt, die man mühelos und vollkommen unkompliziert mit dem Bus oder der Bahn erreichen konnte. Ein Auto besaß Mum nicht. Ich war ihr, wie bei vielen Dingen in ihrem Leben, natürlich dazwischen gekommen, sodass sie die Führerscheinprüfung nie wirklich abgeschlossen hatte.
"Gefällt es dir zumindest?" Die plötzliche Unsicherheit in Lilias Gesicht war nicht zu übersehen. Ich schwieg bloß und kniff die Lippen zusammen. Die Miene musste wohl Antwort genug sein.
"Wieso bin ich hier?", wiederholte ich schließlich meine Frage von vorhin. "Wieso bin ich nicht in London? Bei meiner Mum und bei Vic und Caden?" Ich verstummte abrupt und presste mir die Hände vor den Mund, damit mir kein spitzer Aufschrei entwich, als mich die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht traf.
Es war, als hätte Cadens Namen einen Schalter in mir umgelegt, der zur Sprengung einer unüberwindbaren Mauer in mir führte. Eine Mauer, die bis gerade eben noch all meine Erinnerungen an das Geschehene eingeschlossen hatte und die nun auf einmal einriss.
Caden war tot.
Er war tot. Weg. Fort.
Ein leises Wimmern suchte sich zwischen meinen Fingern den Weg ins Freie und Tränen verschleierten meine Sicht.
Vor meinem inneren Auge erblickte ich wieder den Rauch, der von seinen Schultern aufgestiegen war, ehe er den Lichtfäden Platz gemacht hatte. Ich sah das Messer in seiner Hand, sah ihn auf mich zukommen und hörte diese vollkommen wirren Worte, die ihm über die Lippen gekommen waren. Ich spürte wieder die Druckwelle, wie sie mich von ihm fort wirbelte. Spürte, wie ich unsanft auf dem Boden aufschlug.
Ich schloss die Augen, und schluckte einen Tränenklos herunter, der in meinem Hals entstanden war. Nur, damit sich an der selben Stelle ein neuer bilden konnte.
"Lass mich raten", drang Rileys Stimme wie von weiter Ferne an mein Ohr. "Sie erinnert sich."
Ich blinzelte ein paar mal, um in dem Farbgemisch, dass vor meinen Augen ineinander verschwommen war, wieder klar sehen zu können.
Eine kalte Klinge bohrte sich in mein Herz. Geführt von einer sadistischen Hand, die die Spitze quälend langsam immer tiefer und tiefer in mich hinein stieß, während mehr und mehr meiner Erinnerungen an mir vorbeizogen.
Ich sah Logan, den fremden Jungen, der von einer leuchtenden Tiergestalt umgeben war. Ich sah die Klinge in seiner Hand, als er mit ihrer Hilfe Cadens Kehle aufschlitze. Und ich sah das Blut meines besten Freundes, meines ehemals besten Freundes, wie es sich über den Beton ergoss.
Ein Aufschluchzen entwich mir und ich wandte meinen Blick von Lilia ab, um hinaus aus dem Fenster auf den endlosen Teppich aus Wolken zu schauen.
Beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass die weiße Dunstdecke an manchen Stellen Löcher aufwies, durch die ich hinab auf eine dunkelblaue Oberfläche sehen konnte, die in beachtlicher Tiefe vor sich hin glitzerte.
Aber das war mir in diesem Moment egal. Das Flugzeug hätte auch wieder in Turbulenzen geraten können, noch heftigere, als zuvor, und es wäre mir egal gewesen.
Mit den Ballen meiner Hand tippte ich ein paar Mal gegen meine Stirn. Die Schmerzen, die dabei in mir aufloderten, ignorierte ich.
Dann kam die letzte Erinnerung in mir hoch und veranlasste mich dazu, dass mein Kopf wieder herum ruckte. Allerdings diesmal nicht zu Lilia, sondern zu Riley.
"Du!", stieß ich hervor und wischte mir mit dem Handrücken energisch die Tränen aus den Augen, um sie besser fixieren zu können. "Du hast uns beobachtet! Aus der Menge heraus! Du warst da!"
Riley sah mich wenig beeindruckt an. Sie hatte sich die Kopfhörer von ihren Ohren genommen und um ihren Hals gehängt. Das Kabel ringelte sich von dort aus zu ihrem Schlüsselbein herab und verschwand unter ihrem Shirt.
"Wir waren alle da", erwiderte Lilia an Stelle ihrer Freundin ruhig und wollte nach meiner Hand greifen, aber ich zog diese ruckartig zurück.
"Wie meinst du das?", kam es zwischen meinen aufeinander gepressten Kiefern hervor, während ich mich darauf konzentrierte, die Tränen zurück zu halten.
Lilia sah betreten hinab auf ihre Finger, die sie sorgfältig in ihrem Schoß faltete.
"Wir haben ihn umgebracht", Riley erwiderte meinen Blick mit stahlgrauen Augen. "Logan, der Kerl, der Caden", sie zögerte und schien nach dem richtigen Wort zu suchen, "beseitig hat, gehört zu uns."
Wie zum Beweis lehnte sie sich zurück, sodass ich an ihr vorbei auf die andere Seite des Ganges sehen konnte, wo ein Junge mit hellbraunen Haaren saß, die goldenen Augen auf ein dickes, aufgeschlagenes Buch gerichtet.
Ich holte zischend Luft und wollte schon den Mund öffnen, aber Riley schnitt mir unsanft das Wort ab.
"Bevor du irgendwie mit dem Losschreien beginnst, wäre es sehr rücksichtsvoll, wenn du bedenken würdest, dass wir uns nicht in unserem Privatjet, sondern in der Öffentlichkeit befinden."
"Riley!" Lilias Augen schossen empört in die Höhe und diese seufzte laut auf.
"Okay, eigentlich wollte ich sagen, dass du bedenken solltest, was Caden dir angetan hätte, wenn Logan nicht dazwischen gekommen wäre."
Automatisch fuhr ich mir mit der Zunge über meine Unterlippe, schmeckte das getrocknete Blut, welches aus der Einstichstelle hervorgetreten war, als Caden mir die Messerspitze in die Haut gedrückt hatte.
"Du wärst vermutlich jetzt tot, wenn er nicht dazwischen gegangen wäre. Das solltest du im Hinterkopf behalten, Megan Clark. Dein sogenannter bester Freund war auf dem besten Wege gewesen, dich aufzuschlitzen. Mit anderen Worten: Wir haben deinen süßen Hintern vorhin vor einem Venator gerettet."
Ich schwieg und schluckte langsam.
Normalerweise hätte ich wegen des letzen Satzes die Stirn in Falten gelegt und sie mit einem seltsamen Blick bedacht, aber in diesem Moment war mir danach eher weniger zu Mute.
Eine Stimme tief in mir drinnen flüsterte mir zu, dass Riley Recht hatte. Wäre Logan nicht aufgetaucht, wer weiß, was Caden dann mit mir angestellt hätte.
"Aber war sein Tod die einzige Option?", als ich zu sprechen begann, klang meine Stimme rau wie Sandpapier.
Riley kniff den Schmollmund zusammen und ihr Blick wanderte zu ihrer Freundin, die auffallend interessiert ihre Fingernägel betrachtete.
"Er ist tot", sagte sie dann schließlich nüchtern. "Und daran kannst weder du, noch ich, noch Logan, noch sonst wer etwas ändern."
Ich biss mir auf die Unterlippe. Die Art und Weise, wie sie das sagte, ließ mich vermuten, dass das nicht das erste Mal war, dass sie diesen Satz von sich gab. Es klang, als hätte sie ihn schon zahlreiche Male ausgesprochen. Viel zu Oft, für meinen Geschmack.
"Was ist überhaupt ein Ven-Dinsgda?", fragte ich nach einer Weile, in der ich wieder einmal die Rückenlehne des Sitzes vor mir betrachtet hatte.
"Venator", verbesserte Riley mich. "Das sind Menschen, deren Ziel es ist, dich mit einem Messer aufzuschlitzen. Oder sie wollen dich mit einem Pfeil durchbohren. Kommt darauf an, welche Waffe sie bevorzugen."
"Um genau zu sein, töten sie Menschen." Lilia hob wieder den Kopf. "Menschen, wie wir es sind." Sie machte eine Geste, die nicht nur Riley, Logan und sie selber, sondern auch mich mit einbeschloss. "Wir?", wiederholte ich bloß. "Was heißt wir?"
"Das wird dir Sharon erklären", erwiderte sie. "Sie erwartet uns bereits. Sie erwartet dich." Sie machte eine kurze Pause und schien zu überlegen, was sie als nächstes sagen sollte. "Das Einzige", fuhr sie dann fort, "was du bis hierhin wissen musst, ist, dass du kein gewöhnlicher Mensch bist. Du bist genauso ungewöhnlich wie Riley, Logan und ich."
"Und bevor du uns nicht glaubst", warf Riley mit ein, "Du hast den Rauch und die Lichtfäden selber gesehen. Du hast die Taschenuhr und ihre Veränderung gesehen."
"Du musst uns vertrauen", Lilia streckte wieder ihre Hand nach der meinen aus und diesmal ließ ich zu, dass sie diese ergriff. "Du hast nämlich keine andere Wahl."
Das stimmte.
Denn solange ich in diesem Flugzeug saß, war ich mehr oder weniger in ihrer Gewalt.
Auf jeden Fall flüsterte das diese leise Stimme in mir, die sich sehr wahrscheinlich mein Unterbewusstsein nannte.
"Wohin fliegen wir genau?", fragte ich, nachdem ich ein weiteres Mal ausgiebig aus dem Fenster und auf den Wolkenteppich unter uns gestarrt hatte.
"San Francisco", antwortete eine distanzierte Stimme an Stelle von Lilia und Riley. Ich drehte mich verwundert um und erblickte Logan, der mich von der anderen Seite das Ganges her ansah. Seine goldenen Augen bohrten sich in die meinen, sodass mein gesamter Körper sich verspannte.
Denn egal, ob ich ihm vertrauen sollte und er mir sehr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, für mich würde er stets Cadens Mörder bleiben, komme was wolle.
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