46. Kapitel
Lautes Bellen empfing uns, als wir die Auffahrt zu Vics Haus hinauf erreichten und augenblicklich zuckte ich zusammen, als eine dunkle Hundesilhouhette am Zaun des Nachbargartens auftauchte.
Sam Otello.
Die riesenhafte, schwarze Dogge von Mrs Withower, Vics Nachbarin, die einst bei einem Nachbarschaftstreffen Vics Lieblingspupe mit ihren scharfen Reißzähnen in tausende und abertausende Bestandteile zerlegt hatte.
Ich merkte, wie sich meine Schultern augenblicklich strafften, als ich an dem Hund mit seinen wildglühenden Augen vorbei lief. Trotz all der Jahre, die ich dieses Vieh bereits kannte, fürchtete ich mich immer noch vor ihm und seinem vor Spucke nur so triefendem Maul.
Eine Bestie, wie sie im Buche stand und die dazu in der Lage war, jedem Einbrecher, der sich auf rund zehn Meter Entfernung dem Gartentor näherte, mir ihrer bloßen Erscheinung Beine zu machen.
"Was für ein Vieh", murmelte Logan neben mir, als wir den Zaun passierten und warf dem unruhig auf und ab laufenden Hund einen abschätzigen Blick zu. "Ich hoffe deine Freundin hält sich nicht auch so ein Ding zu Hause."
"Mit großer Sicherheit nicht", erwiderte ich so gelassen wie möglich und stapfte an ihm vorbei die mit Kies ausgelegte Einfahrt hinauf. "Und wenn doch, dann wäre es jetzt auch schon zu spät und von uns dreien nur noch jede Menge Hackfleisch übrig."
Ich warf ihm einen kurzen, vielsagenden Seitenblick zu und sah, wie Logan Ich-lass-mir-normalerweise-keine-Angst-anmerken-und-bin-kalt-wie-ein-Stein einen verunsicherten Blick über seine Schulter hinweg zu Sam Otello warf. Anscheinend schien er Hunde nicht sonderlich gerne zu mögen. Oder zumindest keine sonderlich große Hunde, die Geiferfäden spuckten und sich laut bellend gegen hohe, mit Metallspitzen versehene Zäune warfen.
"Ist er nicht niedlich?" Ich verzog den Mund zu einem gespielt entzückten Lächeln - das dem von Mrs Withower wirklich Konkurrenz machen konnte, wenn sie über ihren kleinen 'Sammy' sprach-, dann konzentrierte ich mich wieder auf den Weg vor mir.
Mit schnellen Schritten erklomm ich die weißen Marmorstufen, die hinauf zu Vics Haustür führten und klingelte dann dreimal Sturm. So wie ich es immer tat, wenn ich Vic zu Hause besuchte.
Einen Moment lang war es still. So still, sodass ich beinahe schon befürchtete, Vic währe gar nicht zu Hause und wir hätten diesen Umweg umsonst eingeschlagen. Doch dann vernahm ich zu meiner Erleichterung Schritte, wie sie die Treppe hinab polterten und sich der Tür näherten, ehe diese von innen mit viel Schwung aufgerissen wurde und ich einem mir nur allzu bekannten Mädchen gegenüber stand.
"Ja?" Vic sah unverändert aus. Genauso wie damals an jenem Tag, an dem ich London verlassen hatte und nach Amerika gebracht worden war.
Ihr langes, schokoladenbraunes Haar floss ihr glatt und glänzend über die Schultern. Der Rock ihrer Schuluniform, den sie noch nach wie vor trug, saß etwas zu knapp über den Knien.
Der müde Ausdruck auf ihren Gesichtszüge war mir nur allzu bekannt, erhellte sich allerdings auf der Stelle, als sie mich erkannte.
Für den Bruchteil einer Sekunde stand sie wie angewurzelt im weißen Türrahmen ihres überdimensionalen Hauses, Verwirrung und Fassungslosigkeit in großen Buchstaben in ihre Augen geschrieben. Dann stolperte sie schnellen Schrittes vor, packte mich an den Schultern und drückte mich an sich, als versuchte sie mich gleich einem Sumoringer im Kampf zu erwürgen.
"Hekzz." Das war alles, was ich von mir geben konnte, ehe mir die Luft abgedrückt wurde und mir eine Ladung Haare mit voller Kraft voraus ins Gesicht peitschte.
Einen Moment lang standen wir beide wie zu Stein erstarrt da. Nunja, viel mehr stand Vic wie zu Stein erstarrt da, während ich verzweifelt versuchte, den Druck um meine Luftröhre herum zu verringern, ohne mich dabei gleichzeitig aus der Umarmung meiner besten Freundin zu lösen. Etwas, was ich in diesem Augenblick nämlich unter allen Umständen vermeiden wollte.
Wie ich sie doch vermisst hatte.
Vic, meine beste Freundin aus Kindertagen, mit der ich zusammen einen ätzenden Schultag nach dem anderen durchgestanden hatte und das bereits seit Jahren. Vic, der ich mich stets hatte anvertrauen können und die mir immerzu geglaubt hatte. Egal ob ich mich schon wieder über das bloße Dasein Caspers aufgeregt oder ihr die Existenz magiebetreibender Schamanen und ihrer leuchtenden Totemtiere enthüllt hatte. Sie hatte mir immer geglaubt. Sie hatte mir immer zugehört.
"Meggie!" Endlich löste sich Vic wieder von mir und sah mich mit vor Glück geweiteten Augen an. Ein Ausdruck, den ich das letzte Mal gesehen hatte, als sie von ihren Eltern ganz und gar unerwartet ein Meerschweinchen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen und ihre Eltern hatten gemeint, dass es nun endlich für sie an der Zeit war zu begreifen, was das Wort 'Verantwortung' bedeutete.
Lange Geschichte kurz: Das Meerschweinchen Mr Walters - so hatten Vic und ich den kleinen Racker damals genannt- war nach nur zwei Wochen Aufenthalt wieder ins Tierheim zurück verbannt worden, da Vics Mum Meerschweinchenköttel in ihrem Ehebett gefunden hatte.
"Großer Gott, wie habe ich dich vermisst!"
Ich kam nicht drum herum ebenfalls breit wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen, als sie mich in eine erneute Umarmung hinein zog. Diesmal zum Glück ohne Sumoringer-Würgegriff.
"Was machst du hier?"
„Dir 'Hallo' sagen?" Ich kicherte leise und versuchte dabei das übertrieben breite Grinsen in meinem Gesicht ein wenig zu lockern, da meine Wangenmuskeln allmählich zu schmerzen begannen. „Wonach sieht es denn sonst aus?"
Wieder löste sich Vic von mir und öffnete soeben den Mund, um etwas daraufhin zu erwidern, als ihr Blick an mir vorbei glitt und an Keith und Logan hängen blieb, die sich gleich zwei Leibwächtern hinter mir aufgestellt hatten und das ganze Geschehen vor sich mit so neutraler Miene wie nur irgendwie möglich beobachten zu schienen. Und mit einem mal war die glückliche, ausgelassene Stimmung meiner Freundin wie in Luft aufgelöst.
"Du!", gab Vic mit plötzlich frostiger Stimme von sich und ich merkte, wie sie sich auf einmal kerzengerade aufrichtete und ihre Schultern straffte. Sie hob den Finger und deutete mit diesem an mir vorbei auf Keith, der augenblicklich ein kleinwenig zu erbleichen schien. Als wisse er genau, weshalb Vic ihn mit einem solch eisigen Blick bedachte und ganz so, als hätte er das auch mehr oder weniger verdient.
"Du bist ein elendiger Vollidiot!"
Logans und meine Augenbrauen schossen beinahe zeitgleich in die Höhe. Keith öffnete den Mund, um etwas auf die Aussage meiner Freundin hin zu erwidern. Aber ehe er auch etwas von sich geben konnte, hatte Vic sich bereits wieder von ihm abgewandt und fixierte Logan nun mit einem Blick, bei dem anderswo das Vieh tot umgefallen wäre. Ein Blick der Wut und der Verachtung, den bisher in meiner Anwesenheit bloß Vics Exfreund Bruce David abbekommen hatte.
"Logan, nicht wahr?" Wenn ihre Stimme zuvor eisig geklungen hatte, so befand sie sich nun mindestens weitere - 100 Grad zusätzlich unter dem Gefrierpunkt. Logan, der ihren Blick ein wenig irritiert erwiderte, nickte kaum merklich und schielte kurz fragend zu seinem Bruder hinüber. Doch bevor dieser irgendwie eine Reaktion von sich geben konnte, fegte Vic mit einem irrsinnigen Tempo an diesem vorbei auf Logan zu. Ein lautes Klatschen ertönte, dann wurde Logans Gesicht von der Wucht der Ohrfeige zur Seite geschleudert.
Ich hörte, wie ihm ein leiser Zisch-Laut entfuhr und sah, wie er - unvorbereitet wie er war - einige Schritte zurück taumelte.
"Das war für Caden!", hörte ich Vic mit vor Wut erfüllter Stimme schreien. Ihre schmalen Schultern hoben und senkten sich hektisch mit ihrer Atmung. Dann wirbelte sie auf den Absatz herum, packte mich an der Hand und schleifte mich an den beiden sehr verwirrt dreinblickenden Jungen vorbei über die Schwelle ins Haus. Laut knallte die Haustür hinter uns ins Schloss, dann blieb sie wie angewurzelt im Flur stehen und lehnte sich schwer keuchend gegen die mit riesigen Spiegeln verkleidete Garderobe.
"Wow." Das war das Einzige, was ich über meine Lippen brachte, während ich teils schockiert, teils verblüfft meine Freundin anstarrte.
"Sag nicht, er hätte es nicht verdient", knurrte diese und strich sich eine zerzauste Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus der glatten Perfektion ihrer Mähne gelöst hatte. "Caden mag zwar ein Verräter gewesen sein, der versucht hat dich umzubringen, aber er ist dennoch mein Freund gewesen."
Sie holte einmal tief Luft und betrachtete dann mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Handinnenfläche. Anscheinend hatte der Schlag nicht nur auf einer Seite weh getan. „Du willst gar nicht wissen, was ich getan hätte, hätte Caden nicht versucht dich aufzuschlitzen."
Ich nickte schweigend und biss mir auf die Unterlippe. Das wollte ich mit großer Sicherheit in der Tat nicht wissen. Schließlich war Vics Temperament nicht umsonst nicht zu unterschätzen. „Und Keith?" Ich lehnte mich auf der anderen Seite gegen ein mit Mahagoni-Holz getäfeltes Schuhregal und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wieso ist der ein 'elendiger Vollpfosten'?"
Vic knirschte schweigend mit den Zähnen. Dann sagte sie mit belegter Stimme: „Er hat mir an Stelle seiner Handynummer die Telefonnummer eines Tierheimes für Katzen gegeben." Sie verzog das Gesicht zu einer leicht gekränkten Miene. Dann stieß sie sich trotzig mit dem Fuß von dem Spiegelglas hinter sich ab und machte ein paar Schritte in Richtung des riesigen Salons, der nur einige Türen entfernt von uns am Ende des Flures lag.
"Und du willst die beiden tatsächlich draußen vor der Tür stehen lassen?", fragte ich und sah verunsichert über meine Schulter zu der weißen Wohnungstür hinüber, die fest ins Schloss gefallen hinter uns lag.
"Hätten sie zumindest verdient", erwiderte Vic plump ohne sich dabei umzudrehen. "Aber vermutlich ist das nicht so ganz sicher wegen eurer Schamanen-Venatoren-Sache, richtig?"
"Sie können ja hier im Flur warten", schlug ich vor und meine Freundin seufzte leise auf, ehe sie sich zu mir umdrehte. "Aber nur im Flur. Keinen Schritt weiter, verstanden?"
"Absolut, Boss." Ich salutierte, was Vic ein kleines Grinsen auf das Gesicht trieb, dann drehte ich mich um, um meinen beiden Begleitern ebenfalls die Tür zu öffnen.
~~~
"Und die Wohnung war tatsächlich vollständig verlassen?", fragte Vic und runzelte nachdenklich die Stirn.
"Als wäre sie in Wirklichkeit nie von ihr bewohnt gewesen", erwiderte ich und strich mit monotonen Bewegungen über den samtigen Stoff des Kissens, das in diesem Augenblick auf meinem Schloß lag. Aus rotglänzendem Stoff bestehend und mit goldenen Quasten an jeder seiner vier Ecken. Ein recht teures Kissen, wie ich auf den ersten Blick hin festgestellt hatte. Genauso teuer wie die restliche Einrichtung hier in diesem Haus, in dem ich mich nun bereits seit einer guten halben Stunde befand und mich mit Vic unterhielt.
"Und wie geht es dir damit?" Die Unsicherheit in der Stimme meiner Freundin war nicht zu überhören. Unsicherheit, weil sie sich genau denken konnte, was in diesem Augenblick in mir vorging.
Emotionslos zuckte ich mit den Schultern. "Wie soll es mir schon gehen?" Ich zupfte an einer der Quasten herum, ehe ich mich wieder dem weinroten Stoff zuwandte. "Mein zu Hause ist weg. Meine Mum ist fort und ich stecke in einem Camp fest, in dem jeder glaubt ich sei die neue Auserwählte und dazu bestimmt unser 'Volk' zu retten." Mit beiden Händen malte ich jeweils zwei Anführungszeichen in die Luft, dann ließ ich sie wieder hinab sinken und bearbeitete weiter das Kissen vor mir.
"Und dabei kann ich nicht einmal richtig meine Fähigkeiten benutzen." Ich machte eine kurze Pause und betrachtete nachdenklich meine Hände, wie sie über den weichen Stoff hinweg glitten. Dann fuhr ich weiter fort: "Lilian glaubt, es würde an einer Art Blockade liegen, die sich in meinem Kopf befindet. Eine Blockade, die verhindert, dass ich meine vollständigen Kräfte als Schamane des Donnervogels entwickeln kann."
"Und du hast keine Ahnung, was das für eine Blockade sein könnte", schlussfolgerte meine Freundin nachdenklich und ich nickte zustimmend.
"Keinen blassen Schimmer."
"Und wenn du einfach deine Mum fragst?" Vic beugte sich vor und griff nach der Tasse Tee, die sie sich zuvor gemacht hatte und die nun vor ihr auf einem kleinen Glastischchen stand. "Immerhin hat sie dich nicht angelogen, als sie dir gesagt hat, dass du ungestört in eure Wohnung nach London zurückkehren kannst. Und um das zu testen bist du schließlich hier her zurück gekommen, wenn ich mich nicht ganz irre, nicht war?"
"Aber das war auch nur der Test für ein Versprechen", erwiderte ich und sah an ihr vorbei hinaus aus dem riesigen Fenster, das sich an der Ostseite des Raumes erstreckte und aus dem man einen hervorragenden Ausblick in den gigantischen Garten von Vics Familie hatte."Das heißt noch lange nicht, dass ich ihr vollständig vertrauen kann. Sie steht nach wie vor auf der Seite der Venatoren."
"Was nicht heißen sollte, dass sie dich umbringen will."
"Aber es ist gut möglich." Ich biss mir auf die Unterlippe und sah hinab auf meine Hände, die sich - von mir ganz und gar unbemerkt - bei diesem Gedanken zu Fäusten geballt hatten. "Wer auch immer auf der Seite der Venatoren steht, folgt dem Ruf Arkyns. Und Arkyn ist das letzte Geschöpf auf dieser Erde, das wollen würde, dass ich meine Kräfte voll und ganz entfalte."
Ich schwieg und für einen Augenblick erfüllte Stille den Raum. Vic sah mit ratloser Miene hinaus aus dem Fenster in den grauen Wolkenhimmel hinauf, der gleich wie bei unserer Ankunft schwer wie Blei über Londons Hausdächern hing. Dann fiel ihr Blick hinab auf meine zitternden Hände, die sich nach wie vor verzweifelt zu Fäusten krümmten.
"Du vermisst sie, nicht wahr?"
Ihre Stimme war leise, aber dennoch laut genug, sodass ich jedes einzelne ihrer Wörter hören konnte. "Du willst es dir nicht selber eingestehen, aber du willst sie wieder zurück haben. Du willst wieder eine Mutter haben."
Ich schwieg verbissen.
Und erst als Vic sich von ihren Platz mir gegenüber erhob und zu mir herüber auf die andere Seite des weißen Ledersofas geklettert kam, merkte ich, wie wieder unwillkürlich die Tränen in meinen Augen zu brennen begannen. Nur, dass ich sie dieses mal unverzüglich hinunter schluckte. Ich wollte nicht mehr weinen. Das hatte ich heute bereits genug getan.
Vic griff nach meinen beiden Händen löste diese sanft aus ihrer verkrampften Haltung. Dann sagte sie mit ruhiger und gefasster Stimme: "Es ist in Ordnung Meggie, okay? Es ist in Ordnung, dass du so empfindest." Sie drückte meine Hand sanft und ich merkte, wie ich dabei merklich ausatmete.
"Aber vielleicht", sie zögerte und für einen Moment wirkte sie unschlüssig, als wisse sie nicht genau, welche Worte sie am besten wählen sollte, "Vielleicht solltest du dieses Empfinden allmählich beiseite schieben. Von der Bildfläche lösen."
Irritiert blinzelte ich meine Freundin an, aber diese fuhr unbeirrt weiter fort: "Sie mag vielleicht deine Mum gewesen sein, aber nicht deine vollzählige Familie. Und nur, weil sie jetzt fort ist, heißt das noch lange nicht, dass du nun ganz und gar alleine bist.
Da sind immer noch deine Freunde aus Cetan Wí. Da bin immer noch ich. Und auch deine leiblichen Eltern, selbst wenn sie tot sind." Ein dünnes, zuversichtliches Lächeln zog sich über ihre Lippen. Dann sagte sie: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie genau in diesem Augenblick hinter dir stehen und auf dich acht geben, egal in welcher Dimension sich ihre Seelen gerade befinden. Sie mögen zwar tot sein, aber sie sind immer noch für dich da."
"Wer sagt das?", erwiderte ich, um einiges skeptisch klingender als eigentlich von mir beabsichtigt.
"Ich sage das. Oder viel mehr mein Beste-Freundin-Aufheiterungs-Optimismus sagt das", erwiderte Vic gelassen und zupfte sich ihren karierten Rock über dem Knie zurecht.
Ich schnaubte leise auf und schüttelte den Kopf, konnte allerdings das kleine, zögerliche Lächeln auf meinen Lippen nicht vollständig unterdrücken. "Du kennst sie doch gar nicht, Vic. Ich meine, nicht mal ich kenne sie. Und ich bin ihre Tochter."
"Dann ist es wohl höchste Zeit, diese Tatsache zu ändern." Vic nickte zuversichtlich. "Wozu bist du schließlich ein Schamane und besitzt die Fähigkeit, in die Geisterwelt einzutauchen und mit Totemtieren zu kommunizieren?"
Ich presste die Lippen aufeinander und schwieg für einen kurzen Augenblick lang. Das Lächeln auf meinen Lippen, das Vics hoffnungsvolle Stimmung ausgelöst hatte, bereits wieder verblasst. Dann sagte ich mit belegter Stimme: "Mein Vater ist nicht in der Geisterwelt, Vic, schon vergessen?"
"Aber deine Mutter ist es." Meine Freundin, der die plötzliche Veränderung meiner Mimik nicht entgangen war, sah mich eindringlich an. "Und auch, wenn es deine ... komplizierte Vater-Tochter-Beziehung meiner Meinung nach vorerst durchaus nötiger gehabt hätte, ist das zumindest schon einmal ein guter Anfang."
"Ein Anfang wofür?"
"Um loszulassen, Meggie. Um die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und um wieder nach vorne zu sehen." Vic löste vorsichtig ihre Hand aus der meinen, ihr Blick nun vollkommen ernst. "Es ist an der Zeit, dass du Alison hinter dir lässt und dich wieder auf deine Zukunft konzentrierst. Auf deine Kräfte, auf die Barriere in deinem Kopf und wie du sie überwinden kannst.
Das ist es, was aktuell zählt. Nicht Alison, nicht deine altes Leben hier in London. Das musst du hinter dir lassen, um dein neues Leben als Schamane des Donnervogels wirklich wahrnehmen zu können. Und ich weiß, dass du das schaffen wirst. Vertrau mir Megan, du kannst das. Auch wenn du das vielleicht in diesem Augenblick nicht wirklich glauben willst."
Ich öffnete den Mund, um etwas daraufhin zu erwidern, aber ehe ich auch nur ein Wort von mir geben konnte, klopfte es an der großen Salontür, die zum Flur hinaus führte und Keith steckte seinen Kopf in den Raum.
"Ich möchte euch beiden ja nur ungerne unterbrechen", sagte er und räusperte sich nervös, als er auf ein neues mit Vics kalten Killerblick konfrontiert wurde, "aber ich denke, dass es wieder an der Zeit ist zu gehen. Tut mir leid, aber je länger wir hier bleiben, desto mehr konzentriert sich unsere Energie auf diesen Ort und desto auffälliger werden wir für Venatoren. Und ich glaube es liegt in der Interesse aller Anwesenden hier, dass diese nicht auf dieses Haus aufmerksam werden. Es sei denn man will ungebetenen Besuch bekommen."
Er warf uns einen entschuldigenden Blick zu, während Vic abermals an diesem Tag verdrießlich das Gesicht verzog. Und diesmal tat ich es ihr gleich.
~~~
Mr O'Sullivan hatte sein Taxi in einer Seitenstraße in der Nähe von Vics Haus geparkt. Nahe genug, sodass wir es schnell wieder erreichen konnten und dennoch weit genug entfernt, sodass sich seine sowie unsere Energie nicht auf einem Fleck konzentrierte und sich somit als einen großen Appetithappen für Venatoren darbot.
Als wir schnellen Schrittes um die Ecke der Gasse bogen, in der unser Fahrer uns hinaus gelassen hatte, stand das Taxi unverändert am Rande des Bürgersteigs und wartete bereits auf uns. Eilig näherten wir uns ihm, doch als wir gerade noch drei Meter von dem mit goldenen Krönchen beklebten Fahrzeug entfernt waren, blieben Keith und Logan plötzlich wie angewurzelt stehen und rührten sich auf einmal nicht mehr von der Stelle. Irritiert tat ich es ihnen gleich.
Da war ein leises Surren zu hören, das mit einem Mal die Luft um uns herum zu erfüllen schien. Ein kaum merklich, elektrisches Surren, wie ich es nur von den magischen Energiefäden der Schamanen kannte. Logan und Keith tauschten einen schnellen Blick miteinander aus. Dann stürzte Logan vor, hechtete zum Wagen und riss die Fahrertür auf.
Mit vor Schreck aufgerissenen Augen starrte er in das Innere des Wagen und bevor Keith nach mir greifen und mich zurück halten konnte, folgte ich ihm nach.
Auf dem Fahrersitz des Taxis saß Mr O'Sullivan. Ruhig und gelassen, die Hände ums Lenkrad gelegt, die wässrigen Augen auf die Straße vor uns gerichtet. Doch irgendetwas stimmte nicht an ihm und es war bereits zu spät, als ich begriff.
Ein erstickter Schrei entfuhr mir, als seine Hände mit einem mal schlaff vom Lenkrad abglitten. Sein Kopf kippte zur Seite, sodass ihm sein Schlapphut aus der Stirn rutschte, und knickte leblos hinab auf seine Schulter. Dabei entblößte sich eine rote Linie, die sich lang und dünn seine Kehle entlang zog. Eine rote Linie, die sein hellblaues Hemd unter dem dunklen Mantel mit Blut tränkte, kaum sichtbar in der vorherigen Position des nun schlaffen Körpers.
Die leeren, wässrig blauen Augen waren nach wie vor durch die Windschutzscheibe hindurch geradewegs auf Keith und den Ort, an dem Logan und ich soeben noch gestanden hatten, gerichtet. Die weißen Lippen blutleer zu einem stummen Ausdruck der Überraschung verzogen.
Entsetzten erfasste mich und ich stolperte blindlings einige Schritte zurück. Dabei knirschte etwas verdächtig unter meinen Schuhen und als ich hinab auf dem Boden sah, bemerkte ich Mr O'Sullivans Eidechsenanhänger, der in zahlreiche Splitter zerbrochen auf dem Asphalt zerstreut lag.
Die elektrische Spannung um uns herum verstärkte sich merklich. Ich hörte Keith: "Passt auf!", schreien und spürte, wie Logan mich im gleichen Augenblick packte und von dem Taxi fort und zurück zu seinem Bruder stieß.
Keine Millisekunde zu spät.
Es ertönte ein lauter Knall, wie bei einer Explosion, dann zerbarst die Realität um uns herum in tausende und abertausende Splitter.
Risse zogen sich knisternd und knackend durch die Luft um uns herum, hier und da brachen vereinzelte Splitter heraus und zerschellten auf der Erde, hinterließen Löcher schwarzer Finsternis an den Stellen, wo sie herausgebrochen waren. Splitter aus dem Mauerwerk zu unseren beiden Seiten. Splitter aus dem Himmel, die sich gleich einem Regen aus Glasscherben über unseren Köpfen ergossen.
Ich hörte ein lautes Zischen und nahm verschwommen durch die zusammenbrechende Welt um uns herum war, wie sich ein dunkler Riss in rasanter Geschwindigkeit an genau die Stelle fraß, an der Logan und ich soeben noch gestanden und auf den toten Mr O'Sullivan gestarrt hatten. Knisternd und Knacken klaffte er zu einem riesigen Spalt neben dem nun etwas verkohlt wirkenden Taxi auf. Groß genug, sodass ihm drei dunkel gekleidete Gestalten entsteigen konnten.
Zwei Männer und eine Frau, hinter denen sich die Realität mit ihren herausgebrochenen Splittern zischend wieder zusammen fügte und erneut zu dem verschmolz, was sie eigentlich bis gerade eben hin noch gewesen war: Eine ruhige und friedliche Seitenstraße inmitten einer der nobelsten Wohngegenden Londons.
"Venatoren", murmelte Keith alarmiert neben mir, als er mit zurück auf die Beine half. Seine Stimme klang gepresst, sein Körper dabei maximal angespannt.
"Venatoren", äffte einer der Männer - der Größere von den beiden - seine Stimme nach und lachte laut auf, als hätte er soeben einen einfach nur brillanten Witz gerissen. "Das hast du aber gut erkannt, Kleiner."
"Was wollt ihr?" Logan, der ebenfalls wieder auf die Beine gekommen war, zog wie schon einmal an diesem Tag sein langes Messer aus der Tasche seines Mantels hervor. Diesmal umtanzten jedoch zusätzlich noch orangfarbene Energiefäden das helle Metall der Klinge. Gleich kleinen Flammen, die dazu bereit waren, ihren Gegner mit Haut und Haar zu verspeisen, käme dieser ihnen nur zu nahe.
"Na na, Junge." Der Mann, der soeben gesprochen hatte, schüttelte tadelnd den Kopf und trat dabei provozierend einen Schritt in unsere Richtung vor. Logan neben mir ging in Kampfhaltung. "Begrüßt man so etwa alte Freunde?"
"Wir sind keine Freunde!", knurrte Keith und auch er hatte seinen grünen Magiefäden wieder um seine Arme geschlungen und ballte seine Hände kampfbereit zu Fäusten.
"Natürlich nicht." Spöttisch verzog der Mann seinen Mund und ließ seinen Blick einmal prüfend über die beiden Brüder wandern, die geduckt wie Raubkatzen vor ihm standen. Dann glitten seine Augen weiter und blieben an mir hängen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich Überraschung in seinen dunklen Augen aufflackern zu sehen, dann steigerte sich das spöttische Grinsen in seinem Gesicht jedoch zu einem höhnischen Lachen.
"Na sieh mal einer an! Der Phönixträger!" Er fuhr sich mit seiner Zunge begierig über die Unterlippen und bleckte seine tadellos weißen Zähne.
"Da habt ihr ja einen beachtlichen Fang gemacht! Auf euch ist aber auch immer Verlass, nicht war, Jungs?" Er grinste breit und ich sah, wie sich schattenhafter Rauch um seine Finger herum zu winden begann. Gleich dem Rauch, den ich damals im Hinterhof gesehen hatte, als Caden versucht hatte mich umzubringen.
"Ihr enttäuscht uns wirklich nie, ihr Söhne Arkyns!"
A/N:
Hey Leute,
Jap, ich melde mich auch mal wieder zurück zum Dienst.
Wisst ihr noch, als ich euch von diesen speziellen Szenen erzählt habe, auf die man sich bereits den gesamten Schreibprozess über freut?
Nunja, was soll ich sagen? Auch wenn diese letzte Szene nun etwas anders geworden ist, als ursprünglich in meinen Gedanken, haben wir hiermit Szene Nummer Zwei erreicht, der ich seit Anfang dieses Buches hier bereits entgegen gefiebert habe. :D
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen und bin mal gespannt darauf, ob jemand eine konkrete Idee hat, was unser lieber Herr Venator mit seinem letzten Satz hier gemeint haben könnte. ^^
Lg
Raven
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