44. Kapitel
London war von schweren, bleigrauen Wolken überschattet, als wir den Flughafen verließen und hinaus auf die viel beschäftigte Straße traten.
Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte hinauf in den von Grau verschleierten Himmel. Es kam mir alles so surreal vor. Der Lärm, der Geruch von Abgasen und die zahlreichen Menschen, die um uns herum wuselten. Alles Dinge, von denen ich geglaubt hatte sie nicht mehr in den nächsten Jahren erleben zu dürfen. Zumindest solange nicht, bis meine Ausbildung in Cetan Wí abgeschlossen war. Doch nun war ich hier. Wieder zurück in London. Zurück zu Hause.
Ein Schauder ergriff mich bei diesem Gedanken und ich merkte, wie sich meine Mundwinkel automatisch nach oben drückten. Wie hatte ich es doch vermisst! Trotz den schmerzlichen Umständen, unter denen ich diese Stadt einst verlassen hatte. Aber an die wollte ich in diesem Augenblick nicht denken. Zumindest nicht für die ersten zehn Minuten, in denen wir vor dem Heathrow Airport standen und am Bordstein auf ein Taxi warteten.
Zwar standen bereits zahlreiche der klassischen, schwarzlackierten Taxen in einer Schlange aufgereiht neben uns und warteten nur darauf, Passagiere aufnehmen zu können. Allerdings hatte man uns, so Logan, bereits im vornherein einen Fahrdienst herausgesucht, der als vertrauenswürdig durchging und uns somit ohne irgendwelche unangenehme Zwischenfälle direkt zu der Wohnung meiner Mum fahren sollte. Ich seufzte leise auf und wechselte mein Gewicht von einem Standbein auf das nächste.
Im Flugzeug hatte ich vor Aufregung beinahe kein Auge zugetan und die Auswirkungen machten sich leider so langsam bemerkbar. Müdigkeit kroch meine Beine hinauf und ließ diese mir träge und steif erscheinen. Doch ehe sie weiter voran kriechen und meinen gänzlichen Leib umspinnen konnte, hielt mit quietschenden Bremsen ein mit goldgelben Krönchen beklebtes Taxi vor uns an und ein ungeduldiges Hupen drang an mein Ohr.
Überrascht blinzelnd stolperte ich einen Schritt vom Bordstein zurück, während Logan neben mir vollkommen ungerührt stehen blieb und durch die verdunkelten Scheiben der Taxe hinein in den Wagen spähte. Dann nickte er zufrieden und zog die Beifahrertür auf.
"O'Sullivan?", hörte ich ihn fragen. "Aye, Mr Chavelier." Die Stimme, die aus der Dunkelheit des Taxis heraus drang klang tief und rau und der starke, irische Akzent, der dabei mitschwang, war nicht zu überhören. "Worauf warten Sie? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."
Logan drehte sich zu uns um und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Rückbank, ehe er neben dem Fahrer auf einen Sitz kletterte und die Tür hinter sich zu zog.
Dass es sich bei Mr O'Sullivan ebenfalls um einen Schamanen handeln musste, erkannte ich auf den ersten Blick, auch wenn ich im Rückspiegel nur eine Reihe ergrauter Bartstoppeln und ein Paar wässriger Augen von ihm erkennen konnte. Doch der sanft vor sich hinschimmernde Salamanderanhänger am Bund seines Autoschlüssels war nicht zu übersehen und unmissverständlich.
"Was die Venatoren können, können wir schon lange", flüsterte Keith, der meinen Blick bemerkt haben musste, mir zu und grinste verschmitzt. "Sie mögen zwar zahlreicher und stärker vertreten sein als wir, aber ein zuverlässiges Informationsnetz innerhalb einer Großstadt lässt sich schneller und leichter aufbauen als man sich vorstellen kann." Er lehnte sich auf seinem Platz selbstzufrieden zurück und sah mit einem kleinen Lächeln auf seinen Lippen hinaus aus dem Fenster.
Nachdenklich klopfte ich mit meinen Fingerkuppen auf der Schnalle meines Sitzgurtes herum. Das hatte Logan also mit einem vertrauenswürdigem Fahrdienst gemeint. Ein Schamane, der uns ungehindert zu der Wohnung meiner Mum bringen sollte, ohne dass wir das Auge eines Venatoren auf dem Weg dorthin ungewollt auf uns lenkten. Ich atmete einmal laut aus und sank dann gleich Keith ebenfalls in meinem Sitz zurück.
In meiner Zeit in London war ich nur selten Taxi gefahren, da sich der Fußweg dank des zähen Verkehrs meistens immer als deutlich schneller erwies als der Weg mit einem öffentlichen Verkehrsmitte, die Londoner U-Bahn davon mal ganz ausgeschlossen.
Ach, London. Wie ich es doch vermissthatte. Ich erwischte mich dabei, wie mir ein sehnsüchtiges und gleichzeitig verträumtes Lächeln auf die Lippen glitt, während ich durch all die wunderbaren Erinnerungen hindurch schwelgte, die sich hier innerhalb dieser Stadt zugetragen hatten.
Die zahlreichen Jahrmärkte im Hyde-Park, die ich immerzu mit Vic an meiner Seite besucht hatte. Die Milkshake-Bar nur wenige Ecken entfernt von unserer Schule, die sich nach Schulende immer zum Haupttreffpunkt sämtlicher Schüler entwickelt hatte. Und der kleine, irische Pub nur wenige Straßen von unserer alten Wohnung entfernt, in den mich Mum an manchen Abenden mitgenommen hatte.
Jener kleine, irische Pup, an dem wir soeben vorbei fuhren und der mir schlagartig bewusst werden ließ, wie nahe wir eigentlich schon meiner alten Wohnung gekommen waren. Und wie das Hauptziel unserer Mission mit jeder Ampel, die das Taxi überquerte, unweigerlich näher rückte.
Ich schluckte und richtete mich auf einmal kerzengerade wieder auf. Eine plötzliche Anspannung befiel meinen Körper. Eine Anspannung, die ich noch bis gerade eben gut gewusst hatte zu unterdrücken. Nervös schielte ich hinüber zu Keith, der, wie die Ruhe in Person, nach wie vor gelassen aus dem Fenster starrte. Auch bei Logan waren, so ließ mich zumindest sein Spiegelbild im Rückspiegel vermuten, keine Anzeichen einer plötzlichen Nervosität zu erkennen. Im Gegenteil. Als seine goldenen Augen den meinem im Spiegel begegneten, zog dieser bloß mit vollkommen entspannter Miene eine Augenbraue in die Höhe, eher seinen Blick wieder von mir los ließ und hinaus auf die Fahrbahn vor uns richtete.
Und dann waren wir mit einem Mal da. Das Taxi hielt vor einer mir nur allzu bekannten Häuserreihe an und der Fahrer, Mr O'Sullivan, schob den Schirm seines karierten Schlapphutes, den er ganz klischeehaft tief in die Stirn gezogen hatte, ein Stück weit nach oben. "Da wären wir", grunzte er und stellte den brummenden Motor ab. "Wie lange werdet ihr brauchen?" Logan warf einen kurzen Blick nach hinten in meine Richtung. Ich zuckte mit den Schultern, sagte dann aber: "Rechnen Sie eine halbe Stunde ein."
"Gut." Der Schamane nickte langsam und sah auf die digitale Armbanduhr, die sich um sein kräftiges Handgelenk herum wand. "Wenn ihr bis dahin noch nicht draußen seit, dann komme ich rein. Wie ist der Name deiner Mum nochmal?" Seine wässrigblauen Augen bohrten sich durch den Rückspiegel hindurch in die meinen, sodass ein Schauer meinen Nacken hinab lief. "Clark. Alison Clark. Dritter Stock." Meine Stimme war nur noch ein leises Flüstern. Einen Augenblick lang verharrte der Blick von Mr. O'Sullivan auf mir, als wollte er am liebsten fragten: "Hast du wirklich keine Angst, kleine Megan Frye?" Doch dann nickte er bloß stumm und machte eine fahrige Handbewegung, als wollte er somit einige lästige Fliegen verscheuchen. Und diese lästigen Fliegen waren wohl oder übel wir.
Mit einem Spur der Erleichterung stieß Keith neben mir die Wagentür auf und kletterte hinaus auf den Bürgersteig. Ich folgte ihm so schnell wie ich konnte nach.
Doch kaum war ich aus dem Taxi draußen, spürte ich, wie mich erneut die Anspannung in mir wie eine riesige, unberechenbare Welle überrollte. Und diesmal viel stärker und gewaltiger als zuvor im Wagen. Langsam ließ ich meinen Blick die weißverputzte Hauswand meines alten Hauses hinauf wandern, ehe er an jenem Fenster hängen blieb, das einst zu meinem Zimmer gehört hatte. Ich schluckte und presste anschließend meine beiden Kieferknochen aufeinander, um somit die in mir aufwallende Angst zu unterdrücken.
Die Mission konnte beginnen.
~~~
Wir gingen nicht sofort zu der Wohnung meiner Mum. Wie denn auch? Schließlich fehlte mir nicht nur der Schlüssel zu besagtem Zuhause, sondern auch der Schlüssel zum gesamten Haus. Ich hatte die beiden an jenem Abend, als Caden versucht hatte, mich aus der Welt zu schaffen, nicht bei mir getragen.
Nein, zuerst gingen wir zu den Nachbarn, Mr und Mrs Finkelson, die eine Etage über uns wohnten. Mr und Mrs Finkelson, die ich seit jeher nicht sonderlich leiden konnten, da sie sich über jede Kleinigkeit augenblicklich den Mund zerrissen.
Als ich klingelte, dauerte es eine Weile, bis jemand an die Gegensprechanlage kam. Aber kaum dass Mrs Finkelson ein schrilles: "Megan? Bist du es wirklich?", durch den Lautsprecher geplärrt hatte, wurde auch mit einem Surren die Tür zum Treppenhaus meines alten Heims geöffnet."Na das ist aber eine Überraschung!", quietschte sie uns schon auf dem Weg nach oben mit aufgedrehter Stimme entgegen, kaum, dass die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war. "Dich habe ich ja bereits eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Wie geht's deiner Mutter?"
"Ihr gehts... bestens", erwiderte ich, als ich ihr Gesicht zu Gesicht gegenüber stand und schenkte ihr dabei ein falsches Lächeln. Schließlich musste sie nicht wissen, wie es um meine Mum derzeit in Wirklichkeit stand. Ein für mich unbeschriebenes Blatt Papier, das ich nicht in den richtigen Ordner einzuordnen wusste. "Sie besucht derzeit Freunde in Eastbourne und kuriert sich dort ein wenig aus. Der Arbeitsstress, Sie wissen schon."
Ich sah, wie ein überraschtes Lächeln über Mrs Finkelsons Gesicht huschte, doch dann schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und kicherte gekünstelt. "Natürlich, natürlich. Ich Dummerchen! Das habe ich ja total vergessen!"
"Kein Problem." Wieder lächelte ich und strich dann den Stoff meiner schwarzen Trainingsjacke glatt, die ich trug. "Eigentlich sollte ich heute nachkommen, allerdings habe ich leider meinen Schlüssel verloren und komme deswegen nicht mehr in die Wohnung hinein, um mein Gepäck zu holen. Meine Mum meinte, dass sie Ihnen einen Zweitschlüssel gegeben hat. Sie haben doch einen Zweitschlüssel, oder?" Die falsche Freundlichkeit triefte mir beinahe wie Speichel aus dem Mund - ich konnte diese Frau und ihre neugierigen Augen wirklich nicht ausstehen. Aber der Zweitschlüssel war in diesem Moment die einzige mir bekannte Möglichkeit, wie wir ohne Gewalt in meine alte Wohnung eindringen konnten. Und Magie, so hatte Sharon entschieden, sollten wir vorerst nicht anwenden. Wer wusste denn schon, wer diesen Eingriff alles mitbekommen konnte - und damit meinte sie nicht nur die anderen Menschen, die einst mit mir zusammen in diesem Haus gewohnt hatten.
"Aber selbstverständlich!" Mrs Finkelson verschwand zurück in ihre Wohnung und kam kurz darauf mit dem silbernen Zweitschlüssel meiner Mum in der Hand zurück. Die Neugierde, die ihr dabei ins Gesicht geschrieben stand, war unübersehbar. "Ich hoffe, dass sich deine Mutter gut erholen kann. Ich habe sie so lange schon nicht mehr gesehen. Was muss das wohl für ein Arbeitsklima gewesen sein, dass die Gute so erschöpft davon ist? Ich habe meinem Mann ja gleich gesagt, dass sie diese ganzen gottlosen Arbeitszeiten nicht mehr lange aushalten-" Sie verstummte abrupt. Erst jetzt schien sie Logan und Keith zu bemerken, die gleich zwei Leibgardisten direkt hinter mir standen und die Frau mittleren Alters vor ihnen mit argwöhnischen betrachteten.
"Und die beiden Herren sind?"
"Freunde. Freunde aus Eastbourne", erwiderte ich so knapp wie möglich und nahm ihr den Schlüssel aus der ausgestreckten Hand. "Vielen Dank, Mrs Finkelson. Ich werde Ihnen den Schlüssel gleich wieder zurück bringen."
Ich schenkte ihr ein letztes, überaus klebriges Lächeln, ehe ich auf dem Absatz umdrehte und schnurstracks die Treppe hinab zurück zu meiner alten Wohnung lief. Ein Fluchtinstinkt, den ich bereits vor Jahren extra für Mrs Finkelson und ihre falsche Freundlichkeit entwickelt hatte.
"Ist deine Nachbarin eigentlich immer so ... mitteilungsbedürftig?", flüsterte Keith mir zu, als er hinter mir die Treppe hinab gelaufen kam und dann genauso wie ich vor dem zerschlissenen Fußabtreter vor unserer Wohnungstür zum stehen kann. "Normalerweise ist sie sogar noch schlimmer. Das hier war nur eine Kostprobe", erwiderte ich trocken, während ich meinen Blick auf meine Hände hinab lenkte, um den silbernen Schlüssel zögerlich zwischen meinen Fingern hin und her zu drehen.
Mit einem Schlag wurde mir wieder die Ernsthaftigkeit dieser Mission bewusst und mein Herz schlug mir mit einem mal hinauf bis in den Hals. Wenn hinter dieser Tür nun ein Haufen Venatoren auf uns warten würde, bereit dazu uns die Kehlen aufzuschneiden, dann waren wir geliefert. Und nur das dünne Blatt der Tür war es, das sie und uns in diesem Augenblick noch voneinander trennten.
Ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte mein wie wild pochenden Herzschlag zu kontrollieren. Dann holte ich tief Luft und schob den Schlüssel ins Schloss.
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Logan ein silbernes Messer aus der Tasche seines Mantels hervor zog. Jenes Messer, mit dem er Caden einst die Kehle aufgeschlitzt hatte. Gleichzeitig vernahm ich das elektrische Knistern von Energie auf meiner anderen Seite. Grüne Energiefäden flochten sich in rasanter Geschwindigkeit um Keiths Fingerknochen herum und ich sah, wie er seine Hände zu Fäusten ballten, sodass diese umso heller aufglommen.
Klack.
Das Schloss klickte, als ich mit zitternden Händen den Schlüssel herum drehte und dann die Tür mit einer sanften Bewegung aufstieß. Sie quietschte leise in den Angeln, aber dieses Geräusch verklang bereits Sekunden darauf.
Stille strömte uns aus dem verlassen daliegenden Flur entgegen. Unersättliche, hungrige Stille, bereit dafür Logan, Keith und mich mit Haut und Haar zu verschlingen.
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