4. Kapitel
Als ich nach Hause kam, roch es nach Zimt.
Einen Moment lang blieb ich stehen und atmete tief die würzige Luft ein, ehe ich die Tür aufschloss und über die Schwelle trat. Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen und lief auf Strümpfen in Richtung Küche, wo ich wie erwartet meine Mum dabei antraf, wie sie gerade ein Blech Zimtschnecken aus dem Ofen holte. Die gesamten Arbeitsflächen um sie herum waren bereits mit dem gedrehten Gebäck bedeckt, sodass man kaum noch einen freien Zentimeter sehen konnte. Aus dem Radio drangen die leisen Töne von Fool's Gardens Lemon Tree und füllten den Raum mit Musik. Meine Mum, ganz und gar in ihre Arbeit vertieft, summte gut gelaunt mit, was eigentlich nur eines zu bedeuten hatte.
"Wer ist es diesmal?", fragte ich und meine Mutter zuckte erschrocken zusammen wie ein Kind, das gerade beim Klauen von Süßigkeiten erwischt worden war.
Beinahe wäre das Blech ihren Fingern entglitten, aber im letzten Moment packte sie noch dessen Enden und balancierte es eilig auf einen kleinen Holzhocker zu, der mitten im Raum stand und noch die einzige unbenutzte Fläche aufwies.
Wie lange sie wohl dafür gebraucht hatte? Mit ein paar Stunden konnte ich sicherlich rechnen!
Meine Mum stellte das Blech ab und richtete sich auf.
"Megan!" Winzige Lachfältchen bildeten sich um ihre Mundwinkel herum, als sie diese in die Höhe zog. "Ich habe dich noch gar nicht erwartet!"
Einige Strähnen hatten sich aus ihrem dunklen Zopf gelöst und hingen ihr wirr in die Stirn. Ihre Schürze und auch die Jeans, die darunter hervorlugte, war mit feinem Mehlstaub bedeckt.
"Wir hatten heute früher Schluss", erklärte ich und verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere, um mich gegen den Türrahmen zu lehnen. Dabei spürte ich an meinem Unterarm deutlich die in das Holz geschnitzten Markierungen, auf die meine Mutter an jedem Geburtstag bestand, damit sie mein Wachstum bereits seit meinem dritten Lebensjahr festhalten konnte.
"Also", ich betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf, "Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wer ist es diesmal?"
Mit einem verlegenem Gesichtsausdruck streifte sich meine Mum die Backhandschuhe von den Fingern und hängte sie an einen Haken direkt neben dem Herd.
"Sein Name ist Niall Clearwater", sagte sie dann, wobei ihre Wangen einen rosafarbenen Hauch annahmen.
"Der Typ, der neuerdings bei euch hinter der Theke steht?", hakte ich nach.
"Wer sonst?" Mum zwinkerte mir verschmitzt zu und löste das Band, welches ihren Zopf zusammen hielt, aus ihrem Haar. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durch die dunklen Wellen.
Ich betrachtete sie derweilen nachdenklich.
Meine Mutter gehörte wohl oder übel zu der Generation von Frauen, welche nie älter zu werden schienen als fünfundzwanzig und selbst ohne Botox eine faltenfreie Stirn vorweisen konnten. Okay, dazu muss vielleicht noch gesagt werden, dass Mum erst dreiunddreißig war, also deutlich jünger als der Großteil der Elternschaft meiner Klassenkameraden.
Alison Clark war eine wahre Naturschönheit mit glänzendem, dunkelrotem Haar und strahlendgrünen Augen, bei deren Farbe jeder Wellensittich blass vor Neid werden konnte.
Sie war unverheiratet, was immer wieder zu großer Überraschung in der Männerwelt führte, sie selber allerdings nie wirklich großartig zu stören schien. Ehen, bis das der Tod sie scheide, waren nicht wirklich nach ihrem Geschmack, wie sie jedes Mal betonte, wenn sie darauf angesprochen wurde.
Mum hatte mich mit gerade mal siebzehn Jahren auf die Welt gebracht und da ihre Beziehung mit meinem Vater nach der Geburt mehr als nur den Bach herunter gelaufen war, hatte dieser sich nach dem Schulabschluss von einem auf den anderen Tag aus dem Staub gemacht und sich seitdem nie wieder blicken lassen.
Hauptsächlich nannten Mum und ich ihn nur: Das Arschloch.
Schlicht, einfach zu merken und passend wie die Faust aufs Auge.
"Und?", unterbrach Mum meinen Gedankengang, "Wie war dein Tag?"
"So wie immer?", gab ich die gewohnte Antwort von mir, drückte mich vom Türrahmen ab und rückte den verrutschten Riemen meiner Schultasche wieder auf der Schulter zurecht.
"Jetzt übertreib aber nicht mit den Details, Schätzchen!" Mum löste sich den Bund ihrer Schürze von der schmalen Taille und hängte diese gleich neben die Backhandschuhe.
"Er war gut." Ich schnappte mir eine noch warme Zimtschnecke von der Arbeitsfläche direkt neben mir und biss herzhaft in sie hinein. Ich hatte Hunger.
"Aber auch ein bisschen seltsam", nuschelte ich mit vollem Mund. Ich überlegte, schluckte, und sagte dann wieder deutlich: "Wir haben ein paar neue Schüler, die von unserer gesamten Schule wohl für das achte Weltwunder gehalten werden. Zwei Mädchen und drei Jungen. Vic findet sie heiß."
"Ach?" Mum zog eine Braue in die Höhe und ich hörte einen abwertenden Unterton in ihrer Stimme mitschwingen. "Die Mädchen oder die Jungen?" "Mum!" Ich verdrehte die Augen.
Es war kein sonderlich großes Geheimnis, dass Mum meine beste Freundin nicht leiden konnte. Und mit nicht meinte ich überhaupt nicht.
In den Augen meiner Mum war Vic nicht nur ein schlechter Umgang für mich, sondern auch das perfekte Beispiel für eine verwöhnte Göre mit unendlich reichen und unendlich eingebildeten Eltern, wie man sie aus zahlreichen Hollywood-Filmen kannte.
Dabei war das Problem wohl weniger Vics zugegeben etwas temperamentvoller Charakter, sondern eher die Tatsache, dass sie quasi in Geld schwimmen konnte, wenn sie wollte. Dies hatte sie bei dem ersten Treffen mit meiner Mum recht unvorteilhaft zur Geltung gebracht, sodass diese das nie vergessen und meine beste Freundin augenblicklich als abgehoben und über alle Maßen verwöhnt abgestempelt hatte.
Schon oft hatte ich versucht, ihre Meinung über Vic zu ändern, aber vergeblich. Meine Mum war in diesem Fall unbeweglich wie ein Marmorklotz.
"Was weiß ich, für wen Vic sich mehr interessiert." Mum klopfte sich das Mehl von der Jeans und begann anschließend Teller aus den Küchenschränken herauszusuchen, um das Gebäck auf ihnen zu gigantischen Türmen zu stapeln.
"Wie auch immer", sprach ich hastig weiter. "Auf jeden Fall hat Caden die Begegnung mit dem achten Weltwunder so gar nicht gut vertragen. Er ist einfach abgehauen."
"Ach wirklich?" Meine Mum horchte auf und sah mich mit gerunzelter Stirn an. "Was meinst du genau mit: Er hat es so gar nich gut vertragen?"
"Nunja", ich strich mir eine imaginäre Strähne hinter mein Ohr, was ich immer tat, wenn ich verlegen war. "Er hatte...", ich zögerte und suchte nach der richtigen Bezeichnung dafür, "Angst?" Es war mehr eine Frage als eine Antwort.
"Angst?", wiederholte meine Mum.
Ich nickte.
Sie sah mich einen Augenblick lang an, gab dann: "Oh", von sich und senkte anschließend den Kopf rasch wieder über einen der Teller hinab, sodass ihr die roten Wellen ins Gesicht fielen und ich ihre Miene nicht erkennen konnte.
Mit einem Moment auf der anderen schien unser Gespräch beendet.
Ich runzelte die Stirn.
Ich wusste, dass Mum Caden ziemlich gut leiden konnte. Sehr gut, um genau zu sein - sie musste schließlich wenigsten einen meiner Freunde gerne haben.
Es irritierte mich, dass ihre Antwort auf meine Beschreibung hin nur eine Silbe beinhaltete. Das war selten ihre Art, besonders, wenn es um das Thema Caden ging.
Ich glaube, sie wünschte sich schon lange, dass wir irgendwann irgendwie so etwas wie ein Paar werden würden, aber darauf konnte sie sehr wahrscheinlich noch lange warten! Was das Thema Freund-und-Freundin anging, so waren Caden und ich längst nicht so weit, wie meine Mutter vielleicht dachte.
Da Mum anscheinend auch nicht vor hatte, weiteren Worte hinterher zu schieben, teilte ich ihr über das Klappern des Geschirrs hinweg mit, dass ich in meinem Zimmer sei, drehte mich um und lief mit der angebissenen Zimtschnecke in der Hand den Flur hinab.
***
In meinem Zimmer angekommen, schloss ich die Tür hinter mir und ließ den Riemen meiner Schultasche die Schulter hinab gleiten, sodass diese dumpf auf dem Boden landetet. Das Geräusch erinnerte mich an einen Sack Reis, der gerade umgekippt war.
Mit einem lauten Seufzen ließ ich mich mit dem Bauch voran auf mein Bett fallen und vergrub mein Gesicht in dem gigantischen Kissen, welches ich seit neuestem mein Eigen nennen konnte. Meine Arme und Beine hatte ich von mir gestreckt, sodass ich sehr wahrscheinlich an den Tigerteppich aus 'Dinner for One' erinnerte, vor dem ich mich früher immer so gegruselt hatte.
Aber in diesem Moment war mir diese Tatsache egal. Ich lag einfach nur da und spürte die bleierne Müdigkeit in mir, welche mich nach jedem Schultag mit nach Hause begleitete.
Dann fiel mir die angebissene Zimtschnecke in meiner Hand wieder ein, welche sicherlich gerade damit beschäftigt war, meine Bettdecke voll zu krümeln.
Mit einer trägen Bewegung rollte ich mich auf den Rücken und stopfte mir den Rest des Gebäcks in den Mund.
Selbst in meinem Zimmer hing der würzige Geruch von Zimt, was für Eingeweihte die erste Stufe bedeutete.
Wenn meine Mutter zu Hause in der Küche stand und wie eine Verrückte Zimtschnecken buk, konnte das nur zwei Dinge bedeuten: Entweder es stand Weihnachten vor der Tür, oder meine Mum war wieder neu verliebt.
Da aktuell erst der Sommer begann und die langen, kalten Winternächte noch so ziemlich außer Sichtweite waren, konnte ich den ersten Punkt augenblicklich ausschließen und musste mich mit Letzterem befassen.
Meine Mum arbeitete bereits seit Jahren in der kleinen Konditorei in der Nähe von Covent Garden und um untertrieben zu sagen: Sie war eine fantastische Bäckerin.
Eine fantastische Bäckerin, die sich, kaum dass sie eine neue Flamme gefunden hatte, in eine Irre verwandelte und ein Blech nach dem anderen in den Ofen schob. Es war, als würden Massenproduktionen an Essen in unserem Haus stattfinden.
Stufe Zwei bestand übrigen aus mit flüssiger Schokolade gefüllten Muffins. Das bedeutete dann für mich, dass ich bald Mums neuen Mr Perfect bei einem gemeinsamen Abendessen kennen lernen durfte.
Was Stufe Drei an Gebäck war und was sie genau bedeutete, wusste ich nicht, da wir sie bisher immer übersprungen hatten. Auf Stufe Zwei folgte nämlich bisher immer Stufe Vier, Kekse mit bunten Streuseln, was eine erneute Trennung bedeutete.
Warum meine Mutter genau dann bunte Streusel als Dekoration benutzte, war mir ein Rätsel. Wahrscheinlich ein sehr liebloser Versuch, sich selber aufzumuntern.
Es war wie ein ewiger Kreislauf: Wieder und wieder verliebte meine Mum sich in einen neuen Mann, der ihr zuerst das Herz stahl und es anschließend brach.
Es war wie ein Fluch, der nie enden wollte.
Zugegeben war ich kein sonderlich großer Fan von Mums Liebesleben, aber solange mir nicht eines Tages unser schmieriger Postbote beim Abendessen gegenüber sitzen würde, war noch alles in Ordnung.
Mein Handy klingelte.
Die Töne von 'My Heart Will Go On' klangen dumpf aus meiner Schultasche hervor, erstickten beinahe zwischen den Büchern und Heften. Vic, die dem dazugehörigen Film willenlos verfallen war, hatte das Lied mir als Klingelton eingestellt und gedroht, augenblicklich unsere Freundschaft zu beenden, falls ich ihn umändern würde. Bei allem, was auch nur annähernd mit Leonardo DiCaprio zutun hatte, verstand sie nämlich keinen Spaß.
Am liebsten hätte ich das Handy einfach weiter klingeln gelassen, aber da Céline Dion nicht damit aufhören wollte, über Herzschmerz und das gesamte Programm zu singen, rollte ich mich ächzend aus dem Bett und suchte zwischen dem zusammengepressten Papier nach der Quelle der Musik.
Caden.
Ich hatte ihn gefühlte tausend Mal auf dem nach Hause Weg versucht anzurufen, aber immerzu hatte mir die dämliche Frauenstimme auf der Mailbox geantwortet, sodass ich sie nun auf die Betonung genau nachäffen konnte.
Okay, ich gebe zu, dass das keine große Kunst war, aber dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass diese Stimme mich ab heute nun bis in meine tiefsten Alpträume verfolgen würde.
Mit leicht zitternden Fingern nahm ich den Anruf an und klemmte mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, damit ich beide Hände frei hatte, um die vor mir auf dem Boden verstreuten Papierbögen aufzusammeln.
Am Ende war das Ausschütten meiner gesamten Schultasche eben der schnellste Weg gewesen, um die liebe Céline verstummen zu lassen.
Zuerst hörte ich nur ein leises Rauschen, welches sehr wahrscheinlich von einer Straße stammte, dann Cadens Stimme: "Megan? Wir müssen reden."
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