3. Kapitel
Hätte ich gewusst, dass wir heute Schweineaugen sezieren würden, hätte ich ganz sicher weniger gefrühstückt!
Diese Erkenntnis kam mir, als ich mit einer Mischung aus Faszination und Ekel Lilia dabei zusah, wie sie mit einem kleinen Messer den vor uns auf dem Tisch liegenden Glaskörper aufschlitzte.
Wenn man meiner neuen Banknachbarin eines lassen konnte, dann die Tatsache, dass sie wusste, wie man Augen zerlegte, und das ziemlich gründlich.
Mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass sie so etwas eindeutig schon öfters getan hatte, allerdings nicht im Biologieunterricht.
"Willst du auch mal?"
Ohne Vorwarnung schob Lilia mir das Schälchen mit dem Augen zu und mein Mageninhalt begann Polka zu tanzen.
Das Ding in der Glasschale glotzte mich starr und ausdruckslos an und schien jeden Moment zerlaufen zu wollen, wie Vanilleeis im Sommer.
Ich schüttelte angewidert den Kopf. "Danke, aber ich denke, das Auge sollte besser das einzige Unschöne auf diesem Tisch hier bleiben."
Lilia gab ein helles Kichern von sich, welches mich an das Klingeln zahlreicher Silberglöckchen erinnerte, und zog quälend langsam das Projekt wieder zurück auf ihre Bankhälfte.
"Das ist nicht witzig!", beschwerte ich mich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Zugegeben war ich ziemlich stolz darauf, dass mein Frühstück bisher noch nicht hochgekommen war, und das sollte am Besten auch so bleiben!
Lilias Augen glänzten amüsiert unter einem Vorhang aus dichten Wimpern hervor, ehe sie den Kopf wieder über die Schale neigte und nach der Pinzette griff.
Dabei lag das tintenschwarze Haar träge und schwer auf ihren schmalen Schultern und wirkten wie ein Umhang, welcher ihren Oberkörper umhüllte. Einzelne Strähnen fielen ihr in das elfenbeinfarbene Gesicht, welches so glatt und makellos weiß war, als hätte es noch nie das Licht der Sonne gesehen.
Ihre zierlichen Züge erinnerten mich an die einer Fee. Eine Fee mit einem Skalpell in der Hand, die gerade in einem glitschigen Augapfel herumstocherte. Ein etwas befremdlicher Anblick.
Ich verzog das Gesicht und widmete mich lieber dem Gedanken, der schon seit Anfang der Stunde unruhig meinem Kopf umher kreiste, wie ein Goldfisch in seinem Glas.
Es war recht ungewöhnlich, dass neue Schüler genau jetzt dazu stießen, mitten im Trimester. Vor allem, da es sich gleich um eine ganze Gruppe handelte, die anscheinend aus reinen Menschenmagneten zu bestehen schien.
Eigentlich wollte ich die Frage nicht stellen, aber die Neugierde in mir war zu groß: "Wieso seid ihr mitten im Schuljahr gekommen?"
Lilia blinzelte überrascht und hob den Kopf an, wischte das Messer an einem Papiertaschentuch ab, ehe sie mich mit ihren dunklen Augen fixierte.
"Was ist deine Theorie?"
"Meine Theorie?" Ich runzelte die Stirn. "Wieso meine Theorie?"
"Sag schon!" Ein zartes Lächeln zog sich über ihre Lippen. "Warum glaubst du, sind wir mitten im Schuljahr gekommen? Warum glaubst du, sind wir hier?"
Ihre Augen funkelten aufmerksam, wie als erwarte sie eine ganz bestimmte Antwort.
"Ähm", gab ich nicht gerade intelligent von mir und strich eine imaginäre Haarsträhne hinter mein Ohr. "Ihr seit wegen einer Prügelei von eurer alten Schule geflogen und geht deswegen seit Neustem auf die St Marcus Academy?"
Kaum hatte ich das gesagt, hätte ich mir am liebsten mit der flachen Hand gegen die eigene Stirn geschlagen. Etwas noch hirnrissigeres war mir wohl in der Schnelle nicht eingefallen!
"Ein Schulrauswurf? Wegen einer Prügelei?" Lilias Miene schien enttäuscht. "Das ist alles? Ich dachte, du wärst etwas kreativer."
"Kreativer inwiefern?"
"Nunja", sie zuckte mit den Schultern, "Kreativer wie zum Beispiel die Theorie von einem Jungen aus Orléans. Er meinte, wir seien Aliens, die auf die Erde gekommen sind, um sich der Menschheit anzupassen und auf diese Art und Weise unauffällig den Planeten zu besiedeln und zu übernehmen."
"Du meinst New Orleans?" Ich sah sie überrascht an.
"In Louisiana?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Ich meine Orléans in Frankreich. Centre-Val de Loire."
"Wieso warst du in Frankreich auf der Schule?" Verwirrt zog ich meine Brauen zusammen.
"Wieso nicht?" Lilia sah wieder auf das Auge vor sich herab und begann dieses mit Hilfe einer Pinzette zu öffnen.
"Ich war bereits auf vielen Schulen", sagte sie, während sie etwas schwarzglänzendes innerhalb des Glaskörpers zum Vorscheinen brachte. "In New Orleans übrigens auch. Das war wahrscheinlich einer meiner längsten Aufenthalte."
"Einer deiner längsten Aufenthalte?", wiederholte ich. "Wie oft wechselst du eigentlich die Schule? Und vor allem, wie oft wechselst du das Land?"
"Öfters als vielleicht manch Anderer seine Socken."
"Respekt!" Ich nickte beeindruckt. "Sind deine Eltern Diplomaten oder wieso reist du so viel?"
"Meine Eltern?" Ich sah, wie Lilia sich auf die Unterlippe biss und in der Bewegung verharrte. Ihre Gesichtszüge entglitten und für einen Herzschlag lang wirkte ihr Blick kalt und leer, beinahe so, wie die Überreste des Auges vor ihr auf dem Tisch.
Dann ließ sie die Pinzette sinken und atmete einmal tief ein.
"Nein", sagte sie schließlich. "Meine Eltern sind keine Diplomaten. Sie ziehen nicht mit mir um, sie bleiben immer zu Hause."
Sie schien meinen fragenden Blick auf sich zu spüren, denn sie hob den Kopf und zupfte sich eine dunkle Strähne aus dem Sichtfeld. "Ich komme aus China. Aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Jiuquan, um genau zu sein. Und dort steht ihr Haus. Sie sind damals nicht mit mir gekommen, als ich fort gegangen bin."
"Damals?"
"Ich war fünf Jahre alt" Lilia fischte vorsichtig die Linse aus dem Auge hervor. "Ein Onkel von mir brachte mich nach Tibet. Als ich sieben war, ging es dann weiter in die USA und dann immer weiter und weiter und weiter. Und jetzt bin ich augenscheinlich wieder mal hier gelandet. Vor zwei Jahren habe ich bereits ein paar Wochen in Lambeth verbracht. Wenig spektakulär, wenn du mich fragst, aber es hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen."
"Dann wechselst du die Schulen etwa nicht, weil du rausgeschmissen wirst, sondern weil du andauernd umziehst?" Ich entfaltete meine verschränkten Arme und lehnte mich vor.
"Ja", sie nickte. Ihre Miene war verschlossen, als versuche sie ein in ihr aufkommendes Gefühl hinter einer Maske zu verstecken.
"Und wieso tust du das?"
Lilia legte die Linse an den Rand der Glasschale und schüttelte bloß den Kopf. "Lass uns das Thema wechseln. Ich möchte darüber nicht reden."
Ich musterte sie verwirrt, nickte dann jedoch langsam.
Sie schien auf einmal nervös, als sei ich soeben auf einen wunden Punkt gestoßen. Einen Punkt, den sie vor mir verbergen wollte.
"Also", Lilia klapperte mit der Pinzette direkt vor meiner Nase herum und ich zuckte reflexartig zurück, "Was ich mich schon immer über euch Briten gefragt habe: Haltet ihr wirklich täglich diesen Five O'clock Tea ab oder ist das eher ein Klischee?"
Ich zog verwundert eine Braue in die Höhe. "Dein Ernst?"
"Mein voller Ernst!" Lilia nickte und ein Grinsen drückte ihre Mundwinkel nach oben.
Seltsam, wie schnell sie ihre Stimmung wechseln konnte.
***
"Bitte bringen Sie Ihre Ergebnisse vorne zum Pult. Sie werden morgen daran weiter arbeiten!", rief Mrs Primkon gegen den stetig ansteigenden Lärmpegel an, als es zum Ende der Stunde läutete.
Da ich im Gegensatz zu Vic nach Beendung des Unterrichts keine sofortigen Fluchtinstinkte verspürte, verließ ich in Ruhe und als eine der Letzten zusammen mit Lilia den Raum.
Draußen standen bereits die Türen der restlichen Klassensäle sperrangelweit offen und Ströme aus Schülern ergossen sich aus ihnen hinaus, füllten die Gänge. Ich hörte Gekicher und Stimmen, welche Wortfetzen über den Lärm der Anderen hinweg brüllten.
Nebeneinander schlenderten Lilia und ich die Treppe hinab und erreichten die schwere Tür des Gebäudes, welche hinaus auf den Hof führte.
Draußen, direkt neben dem Ausgang, lehnte ein brünettes Mädchen an der Wand. Ihre Augen erinnerten mich an grauen Wolken, kurz vor einem herannahenden Sturm. Sie trug ihren abgewetzten, alten Rucksack lässig über einer Schulter und hatte die oberen Knöpfe ihrer Bluse gewagt weit nach unten aufgeknöpft.
"Riley!" Lilias Schritte beschleunigten sich augenblicklich, als sie das Mädchen erblickte, und sie griff nach meinem Arm, um mich mit sich zu ziehen. Geschickt bahnte sie sich einen Weg aus dem Strom der Schülern heraus und lief mit mir im Schlepptau zu ihrer Freundin herüber. Und ja, ich sage bewusst Freundin, da Riley - so schien das Mädchen zu heißen - unverkennbar zu dem Club der gefallenen Engel gehörte.
Diese verzog ihren Schmollmund, als sie mich bemerkte und stieß sich von der Wand ab. Vom Nahen wirkten ihre grauen Iriden wild und stechend, wie die Klingen zweier Messer. Ihr kastanienbraunes Haar sah aus, als hätte es gerade die Attacke von einem Kleinkind mit Bastelschere hinter sich. Ihre Strähnen waren allesamt ungleich geschnitten und erinnerten mich somit ein wenig an das Fell eines Cairn Terriers, nur deutlich länger.
"Riley, das ist Megan Clark. Megan, das ist Riley", stellte Lilia uns einander vor und fixierte dabei ganz besonders das Gesicht ihrer Freundin, als sei sie auf deren nun folgenden Reaktion mehr als gespannt.
"Megan Clark", wiederholte Riley mit kühler Stimme und nickte kaum merklich. Ihre sturmgrauen Augen musterten mich einmal von Kopf bis Fuß, als überlege sie, in welchen Taschen meiner Uniform ich heimlich Drogen mitführen würde.
"Ein schöner Name", sagte sie schließlich, als ihre Inspektion beendet war und sie sich an Lilia weiter wandte. "Darf ich dich kurz sprechen?"
Sie wartete die Antwort ihrer Freundin gar nicht ab, sondern zog sie einfach mit sich.
In einiger Entfernung blieb sie stehen und begann auf Lilia einzureden. Da ich kein Wort verstehen konnte und das wilde Herumgefuchtel von Rileys Armen nicht sonderlich viel aussagte, fischte ich mein Handy aus der Tasche und ließ den Display aufleuchten, in der Hoffnung, eine Nachricht von Caden vorzufinden.
Keine einzige Nachricht.
Enttäuschung breitete sich in mir aus.
Eilig wählte ich seine Nummer, aber kaum, dass ich den Anruf abgesendet hatte, ging auch schon die Mailbox dran und eine monotone Frauenstimme verkündete mir, dass Caden Austin zur Zeit nicht zu Erreichen wäre.
Ich merkte, wie sich eine Falte zwischen meinen Augenbrauen bildete, welche, laut meiner besten Freundin, immer nur dann entstand, wenn ich wütend oder nachdenklich gestimmt war.
In diesem Moment war ich beides zugleich.
Ich war verärgert, da Caden gegangen war, ohne mir Bescheid zu sagen und nachdenklich, da ich nicht wusste, weshalb und warum.
Zudem konnte man Caden normalerweise immer erreichen - was unteranderem sehr praktisch war, wenn man mitten in der Nacht spontan das Bedürfnis verspürte, jemandem sein Herz auszuschütten.
Er musste bewusst sein Handy ausgeschaltet haben.
Er wollte nicht, dass man ihn erreichen konnte.
Er wollte nicht, dass ich ihn erreichen konnte.
"Wen hast du angerufen?" Lilias Stimme überrumpelte mich und ich zuckte zusammen, ließ beinahe mein Handy fallen.
"Niemand wichtiges." Mit einer raschen Bewegung ließ ich den flachen Apparat zurück in meine Tasche gleiten und bemerkte dabei Rileys sturmgraue Augen, die mich ansahen, als würde sie mir nicht glauben - tat sie sicherlich auch nicht.
"Weißt du eigentlich, wo Caden ist?" Lilias Frage klang beiläufig gestellt, überraschte mich allerdings dennoch. "Caden?"
"Der Junge, der vorhin in der Pause bei dir stand." Sie zupfte ihre Bluse zurecht. "Er ist ein alter Freund von mir, den ich in meiner Zeit in Lambeth kennen gelernt haben. Ich würde ihn gerne noch einmal treffen." Verwirrt kniff ich die Augen zusammen. Ein alter Freund? Seltsam, dass Caden mir davon nichts erzählt hatte. Eigentlich kannte ich so gut wie jeden seiner Freunde und meines Wissens gab es keinen großen Grund, weshalb er mir Lilia verschweigen sollte.
"Er ist gegangen", antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß, nachdem ich sie einen Moment lang überrascht gemustert hatte.
"Oh", Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit und sie tauschte einen schnellen Blick mit Riley, "Wie schade. Ging es ihm nicht gut?"
"Wahrscheinlich", ich zuckte mit den Schultern, "Soll ich ihm etwas ausrichten?"
"Nein, das ist nicht nötig." Sie schüttelte den Kopf. "Sicherlich werde ich ihn hier noch irgendwo antreffen. Schließlich sind wir jetzt auf der gleichen Schule." Sie sah auf eine Uhr, die mir bis gerade eben noch nicht an ihrem Handgelenk aufgefallen war, ehe sie mich entschuldigend anlächelte. "Wir müssen jetzt weiter. Es war schön dich kennen zu lernen, Megan. Vielleicht sehen wir uns bald wieder." Sie hob die Hand und winkte, dann packte sie Riley am Unterarm und zog diese eilig in Richtung Schultor davon.
Verwirrt starrte ich ihnen nach und zuckte gleich darauf ein weiteres Mal zusammen, als jemand mir recht schmerzhaft gegen die Schulter boxte.
"Irre ich mich, oder hast du dich gerade mit Wunderschön-Eins und Wunderschön-Zwei unterhalten?", fragte Vic, die unbemerkt wie ein Geist neben mir aufgetaucht war.
"Wunderschön-was?" Verwirrt drehte ich mich zu ihr um.
"Die beiden Mädchen von gerade eben", erklärte meine Freundin. "Du meinst Lilia und Riley", korrigierte ich sie. "Ihr habt also schon Namen ausgetauscht? Gratuliere!"
Ich zog beide Augenbrauen in die Höhe und schüttelte dann bloß den Kopf. Mein Blick glitt eilig zurück in Richtung Schultor, aber Lilia und Riley waren bereits verschwunden.
Es schien, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.
Einen Moment lang ließ ich meine Augen noch umher wandern, in der Hoffnung, sie doch noch irgendwo zu entdecken, aber dann gab ich es auf und drehte mich zu meiner Freundin um.
Mein Blick fiel auf einen zusammengeknüllten Zettel, der zwischen ihren Fingern klemmte. Er musste aus einem Heft herausgerissen worden sein, nichts Anderes erklärte die unordentlichen, ausgefransten Ränder.
"Was ist das?"
Ein breites Grinsen legte sich über die Lippen meiner Freundin, als sie den Zettel entfaltete und ihn direkt unter meine Nase hielt. Eine Folge aus Zahlen.
"Ich habe seine Nummer", sagte sie freudestrahlend. "Und er hat meine."
"Wer?" Ich nahm das Stück Papier in die Hand und betrachtete die einfach nur wahllos zusammengewürfelt scheinende Zahlenreihe.
"Keith."
"Keith?"
"Der hübsche Neue, der uns vorhin so seltsam angeguckt hat", erklärte sie. "Und soll ich dir eine Sache sagen?"
"Nur zu, ich komme doch so oder so nicht drum herum." Ich seufzte.
"Wohl wahr!"
Vic lachte auf, vollübte einen Trommelwirbel gegen die Wand des Biologiegebäudes und verkündete dann laut und deutlich, sodass es vermutlich jeder Schüler in unserem Umkreis mitbekam: "Ihm haben meine Piercings gefallen! Ich habe die Wette gewonnen!"
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