27. Kapitel
"Weißt du eigentlich, was der Vorteil an Lakritze ist?", fragte Chloe mich mit vollem Mund, während sie gleichzeitig in der Plastiktüte neben sich nach besagter dunklen Süßigkeit suchte, um diese von den restlichen bunten Gummibärchen zu trennen, als sei sie eine der Tauben aus Grimms Aschenputtel. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, wie es da so schön hieß. Nur, dass es hier aus ihrer Perspektive genau anders herum verlief.
"Du meinst Vorteil in dem Sinne, dass ein Drittel deines Freundeskreises sie nicht ausstehen kann und du sie deswegen mit so gut wie niemandem teilen musst?", fragte ich und zog eine Augenbraue in die Höhe, beobachtete, wie sich Chloes Lippen auf diese Antwort hin zu einem breiten Grinsen verzogen. "Du bist gut", kicherte sie und löste sich einen Moment lang von ihrer Arbeit, um verschmitzt zu mir hinauf zu blinzeln. "Färbe ich etwa so langsam auf dich ab oder wie kommt es dazu, dass du so etwas weißt?"
"Du hast es in der letzten halben Stunde ungefähr fünf Mal erwähnt", erwiderte ich schulterzuckend und kam selber nicht um ein kleines, amüsiertes Lächeln drum herum. "Da sollte man sich das so langsam mal merken können."
"Na dann." Mit einer schnellen Handbewegung schob sich Chloe gut gelaunt das nächste gefundene Stück Lakritze in den Mund und lenkte ihren Blick anschließend wieder zufrieden vor sich hin kauend zurück auf den Trainingsplatz direkt vor uns, wo sich geschätzt zwanzig Teenager unter der prallen Nachmittagssonne tummelten und versuchten, einander mit glühenden Energiebällen zu erschlagen. Etwas, was ich hier im Camp immer noch als sehr gewöhnungsbedürftig empfand, auch, wenn ich schnell gelernt hatte, dass Schrammen und blaue Flecken anscheinend zum Alltag gehörten.
Mit einer energischen Bewegung strich ich mir eine vereinzelte Haarsträhne aus dem Gesicht. Zwar durfte ich auf Grund meines eher weniger vorhandenen magischen Talentes noch nicht bei dieser Art des Trainings teilnehmen, aber es war - zumindest laut meiner Mitbewohnerin - nur eine Frage der Zeit, bis auch ich zu den Teenagern auf der Sandlichtung hinzu gestellt wurde, weshalb ich mich vielleicht so langsam mal damit abfinden sollte, dass Verletzungen wie Verbrennungen hier bloß als Kleinigkeiten gehandhabt wurden.
Und bis es so weit war, würde ich wohl oder üblich mit einer Lakritze mampfenden Chloe auf dem dünnen Grastreifen am Rande des Platzes sitzen und dabei zu sehen, wie sich die beiden Jungschamanen rechts von uns gegenseitig die Köpfe einrannten. Oder wie der Junge links von uns von der kleinen Eywa fertig gemacht wurde, die ihm erbarmungslos einen Energiebälle nach dem anderen nur so um die Ohren schleuderte.
Die Anstrengung, sich so gut wie möglich vor dem kleinen, rothaarigen Mädchen zu verteidigen, stand diesem dabei buchstäblich ins Gesicht geschrieben und sein ärmelloses Shirt wies bereits große Schweißflecken auf, die sicherlich nicht ganz alleine von der Hitze her stammten. Am liebsten hätte ich bei diesem Anblick breit gegrinst, da der Typ beinahe das doppelte, wenn nicht auch das dreifache von Eywa an Körpermasse aufwies und dennoch von dieser erbarmungslos attackiert wurde, allerdings, so rief ich mir in Gedanken, würde es mir an seiner Stelle sicherlich nicht anders ergehen, weswegen ich dies doch besser unterließ.
Als der Junge einen erneuten Schlag seiner deutlich jüngeren Gegnerin einstecken musste und sich ein dunkelroter Striemen auf seinem Oberarm abzuzeichnen begann, gab Chloe neben mir ein leises: "Ouuh", Geräusch von sich und ich war um ehrlich zu sein froh darum, in diesem Moment nicht in seiner Haut zu stecken. Es sah wirklich schmerzhaft aus.
Unkontrolliert wankte der Junge vor und zurück, als wolle er wieder seine Balance zu finden, und versuchte die Grimasse, die sich nun über sein Gesicht spannte, so gut wie möglich zu verbergen, um sich nichts anmerken zu lassen, aber vergeblich. Nach einigen langsam verstreichenden Sekunden, in denen er sich die Hand auf die Schulter presste, um die Schmerzen weites gehend zu lindern, nickte er schwer atmend seiner Gegnerin zu und gab sich geschlagen. Eine kluge Entscheidung, wie ich fand, es sei denn, er wollte von der Kleinen krankenhausreif geprügelt werden.
Nachdenklich beobachtete ich, wie er schnellen Schrittes die Sandlichtung verließ und den Weg in Richtung einer der vielen Krankenstationen einschlug, die hier ganz in der Nähe lag. Wahrscheinlich war er genauso wie ich noch neu hier in Cetan Wí und seine Kräfte noch nicht vollständig ausgereift, denn anders konnte ich mir seine Niederlage gegenüber der 13-jährigen nicht erklären. Auch, wenn man wirklich sagen musste, dass Eywa sehr wohl wusste, was sie tat und man sie sicherlich nicht zu seinem eigenen Wohl unterschätzen sollte.
Mit einem leisen Aufseufzen lehnte ich mich gegen die geriffelte Rinde des großen Baumes, unter dem Chloe und ich es uns gemütlich gemacht hatten, zurück und ließ meinen Blick gedankenverloren weiter schweifen. Eigentlich hätte meine Mitbewohnerin genauso wie die anderen Teenager hier in diesem Moment in der prallen Sonne stehen und trainieren müssen, allerdings hatte diese heute spontan beschlossen sich eine kleine Auszeit zu nehmen und etwas Zeit mit mir zu verbringen. Mit mir und ihrer über alles geliebten Lakritze am Rande des Trainingsplatzes. Ihr war wirklich kein besserer Ort dafür eingefallen.
Wahrscheinlich, da es ihr irgendwie Spaß machte, ihren Trainingspartnern dabei zu zusehen, wie sie sich gegenseitig versuchten die Köpfe einzuschlagen. Etwas, über das ich mich eigentlich nicht zu wundern brauchte. Schließlich mochte sie wie ich festgestellt hatte auch das Wrestling im Fernsehen und war ein großer Fan von Muhammad Ali, von dem sie sogar das eine beachtliche T-Shirt-Collektion besaß.
Apropos Muhammad Ali. Langsam ließ ich meine Augen über die zahlreichen Jugendlichen vor mir hinweg gleiten, bis mein Blick auf die verschwommene Gestalt eines Hundes traf, der mitten im Getümmel der trainierenden Jungschamanen saß und den das wilde Treiben um ihn herum nicht im geringsten zu beeindrucken schien. Natürlich nicht. Schließlich handelte es sich bei ihm nicht um einen gewöhnlichen Köter, der von einem Campbewohner aus seinem Leben außerhalb des Zauns mitgebracht worden war, sondern um ein Totemier.
Um genau zu sein Chloes Totemtier, die ihn, wie so oft "mal kurz wieder von der Leine gelassen hatte", wie sie es immer zu sagen pflegte. Eine Ausdrucksweise, die mich auf eine auffallend gute Beziehung zwischen ihr und ihrem Totem schließen lies - andere Geisterwesen währen bei einer solchen Aussage wahrscheinlich höchst beleidigend gewesen.
Nachdenklich kniff ich die Augen zusammen und betrachtete den Hund direkt vor meiner Nase. Cassius hatte Chloe ihn genannt. Wie Cassius Clay, Alis Geburtsname.
Ob ich mein Totem irgendwann genauso benennen würde wie meine Mitbewohnerin? Wahrscheinlich eher nicht, denn mein bisheriges Verhältnis zum Phönix basierte bisher lediglich auf unserer kurzen Begegnung in der Geisterwelt, wo er die Gestalt von Jonathan Grey angenommen hatte, um mit mir zu reden. Ansonsten hatte er sich seitdem nicht mehr gezeigt. Vermutlich, da er besseres zu tun hatte, als sich um ein kleines, sterbliches Mädchen zu kümmern, das nicht mal dazu in der Lage war eine ordentliche Energiekugel zu formen.
Mit einem Ausdruck des eigenen Bedauerns beobachtete ich, wie Cassius seinen Blick langsam über den Himmel über uns gleiten ließ, ehe seine Ohren zuckten und er seinen schmalen Kopf abrupt in meine Richtung wandte, als würde er spüren, dass ich ihn ansah. Wahrscheinlich tat er dies auch in Wirklichkeit, wer wusste schließlich schon, zu was die Totems alle im geheimen in der Lage waren.
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Cassius langsam von seinem Platz in der Mitte des Trainingsplatzes und kam dann träge auf uns zu getrottet. Dabei konnte man trotz der Entfernungen die Muskeln unter seinem Fell spielen sehen, wenn man das, was die Oberfläche seines Körper bedeckte, überhaupt als Fell bezeichnen wollte.
Im Grunde genommen war Cassius einfach eine große Deutsche Dogge und sah somit genauso aus wie Sam Otello, der Hund von Vics Nachbarin. Nur, dass dieses Exemplar hier blau war und aus magischen Energiefäden bestand, welche sich jeden Moment in Luft auflösen konnten. Eine Eigenschaft, die der echte Sam Otello leider zu Vics und meinem Bedauern nie besessen hatte und wahrscheinlich auch nie besitzen würde. Das selbe galt übrigens auch für Cassius' Vorliebe für Lakritze, die er sich eindeutig bei seiner Schamanin abgeguckt hatte. Oder sie hatte sich es bei ihm abgeguckt. Wie auch immer, zumindest hatte ich vorhin beobachten können, wie diese ihm heimlich ein paar Stückchen unter der Hand zugeschoben hatte.
Als auch Chloe schließlich bemerkte, wie sich ihr Totemtier uns langsam näherte, klopfte sie mit einem breiten Grinsen auf die noch freie Stelle neben sich und der blaue Hund ließ sich dort augenblicklich wie geheißen nieder, legte seine große, feucht glänzende Schnauze in ihren Schoß. Sofort hörte meine Mitbewohnerin damit auf sich den Mund mit Lakritze voll zu stopfen und begann stattdessen mit langsamen und bedächtigen Bewegungen über den schmalen Kopf des Hundes zu streicheln, ein liebevolles Lächeln derweilen auf den Lippen.
Als Chloe mir vor geschätzt einer Woche Cassius oder einfach nur Cai, wie sie ihn rief, vorgestellt hatte, hatte sie mir erzählt, dass es sich bei diesem um das Ebenbild ihres geliebten Marshals handelte. Marshal, der Hund ihrer Familie, der vor knapp drei Jahren verstorben war. Ohne Chloes Wissen wohl gemerkt. Sie hatte mir erzählt, wie sie eines nachmittags nach Hause gekommen war und ihren Spielgefährten seit der Kindheit nicht mehr wie erwartet vorgefunden hatte. Ihre Eltern hatten ihr bloß gesagt, dass Marshal alt geworden war und den Punkt erreicht hatte, an dem man ihn hatte einschläfern müssen, um ihn von seinen Schmerzen zu erlösen. Dass er sich in Wirklichkeit an dem im Keller nachlässig ausgelegten Rattengift vergiftet hatte, hatten sie ihr damals verschwiegen. Eine Lüge, für die Chloe ihre Eltern im Nachhinein gehasst hatte.
Noch mehr gehasst, wohl bemerkt, denn insgesamt erschien mir Chloes Beziehung zu ihren Eltern nicht wirklich die schönste gewesen sein. Ihr zu Folge hatten diese sie nämlich in ein Internat nach dem anderen abgeschoben, eines schlimmer als das andere, damit sie endlich selbstständiger und die Flausen in ihrem Kopf los werden würde, wie ihre Mutter es angeblich gesagt hatte. Eine Idee, die, wenn man Chloes blaugefärbte Haare, die zerschlissenen Jeans und die klobigen Militärstiefel betrachtete, eindeutig nach hinten los gegangen war.
Mit einem leisen Seufzen schüttelte ich nur den Kopf und dankte schweigend dafür, dass mir, trotz meiner Venatorenmum, eine solche Kindheit erspart worden war. Nunja, es wäre auch nahezu ein Wunder gewesen, wenn Mum das Geld dafür gehabt hätte, mich auf ein Internat zu schicken. Schließlich hatten wir uns unsere kleine Wohnung in London nur mit großer Mühe finanzieren können und Mum hatte mehr als oft Kredite bei der Bank aufnehmen müssen, damit sie die Miete bezahlen konnte.
"Bist du eigentlich nervös?" Die Frage schnitt vollkommen unvorbereitet in meinen Gedankenstrom ein und holte mich somit verdutzt blinzelnd zurück in die Realität. "Was?", fragte ich überrumpelt und sah fragend zu Chloe hinab, die noch immer damit beschäftigt war Cassius das Köpfchen zu tätscheln. Irgendwie sah er trotz seiner Ähnlichkeit zu Sam Otello echt niedlich aus, wie er dort mit seiner feuchten Schnauze halb auf seiner Schamanin drauf lag und sie aus seinen großen, traurigen Hundeaugen heraus betrachtete, als wolle er am liebsten nach noch mehr Streicheleinheiten betteln. Oder nach noch mehr Lakritze.
"Ob du nervös bist", wiederholte meine Sitznachbarin und hörte einen Moment lang damit auf den Geisterhund neben sich zu betütteln, was dieser mit einem unzufriedenen Fiepen quittierte.
"Wie kommst du darauf, dass ich nervös wäre?", fragte ich verwirrt. "Nunja", erwiderte Chloe nüchtern und zuckte bloß mit den Schultern. "Vielleicht, da du Mutter Erde schon seit gefühlt fünf Minuten ohne Grund die Haare ausrupfst?" Sie nickte in Richtung meiner Hände, die unbemerkt damit begonnen hatten einzelne Grashalme zwischen den mächtigen Wurzeln des Baumes hervor zu zupfen. Augenblicklich hörte ich unter Chloes strengem Blick damit auf.
"Bist du etwa aufgeregt wegen deinem Date?", stichelte diese, kaum, dass ich wieder meine Hände im Schoß gefaltet hatte und grinste mich frech aus ihrer Liegeposition neben mir an.
"Meinem Date?", erwiderte ich und sah skeptisch zu mir hinab. "Ich gehe nur zur Nachhilfe, Chloe. Das ist kein Date." "Nur nicht", antwortete diese mit einem spöttelndem Lächeln auf den Lippen und begann wieder damit Cassius' Schnauze zu streicheln, der daraufhin einen genüsslichen Grunzer von sich gab. "Aber mal im Ernst", sie kniff die Augen zusammen und fixierte mich mit diesen. "Du bist auf einen Nachmittag mit Prince Charming eingeladen und keine Spur aufgeregt deswegen? Ich an deiner Stelle wäre vor knapp drei Monaten wegen dieser Tatsache noch ausgeflippt wie eine Irre."
"Du hattest schließlich auch Fotos von ihm aus dem Jahrbuch in deinem Schrank hängen", wies ich sie trocken zurecht. "Zwischen Liam Hemsworth und Matthew Daddario." "Ja und?" Chloe zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Mir gefallen eben durchtrainierte, dunkelhaarige Typen. Jeder darf seine Vorlieben haben."
"Natürlich darf man das", sagte ich und kam nicht drum herum auf Grund ihrer Antwort mit dem Kopf zu schütteln. "Allerdings steht bei mir im Gegensatz zu dir Prince Charming nicht ganz oben auf der Liste und deswegen nein, ich bin nicht nervös", fügte ich noch hinzu, ehe ich ihr mit einem Blick bedeutete, dass ich das Gespräch an dieser Stelle am liebsten beenden wollte.
Denn ganz ehrlich, ein wenig geschwindelt war meine Aussage nämlich schon. Ich war nervös wegen der Nachhilfe. Nicht, weil ich Keith heiß fand und heimlich Fotos von ihm in meinem Schrank versteckte, nein. Da war etwas anderes an ihm, was mich unter Spannung setzte. Ein Eigenschaft, die er mit seinem Bruder Logan zu teilen schien und die meinen gesamten Körper unter Strom stellte, kaum, dass sich einer von ihnen in meiner unmittelbaren Nähe aufhielt. Eine Eigenschaft, die ich bisher noch nicht wirklich hatte zuordnen können und dennoch wusste ich, dass sie existierte. Die Jungen hatten etwas Unbekanntes an sich. Etwas, was sie mit Mühe versuchten vor der Außenwelt zu verbergen und was ihnen dennoch nicht wirklich zu gelingen schien. Zumindest nicht bei mir.
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