2. Kapitel
Einen Moment lang lag der Blick des Jungen noch auf Caden, dann wanderte er weiter zu Vic, blieb schließlich an mir hängen. Sein Grinsen wich Verwunderung und er runzelte leicht die Stirn, als würde ihn meine bloße Anwesenheit überraschen. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er mir geradewegs in die Augen, schien in ihnen etwas zu suchen, dann wandte er sich mit einem Ruck ab.
Verblüfft sah ich ihm nach, als er sich nicht gerade rücksichtsvoll zwischen zwei seiner Freunde hindurchdrängte, um hinter ihren Rücken zu verschwinden.
"Ähm... Was war das jetzt genau?" Vic war die Erste, die schließlich den Mund wieder öffnete und somit die Frage aussprach, die mir ebenfalls in den Gedanken umher schwirrte.
Da ich weder eine wahrheitsgemäße, noch irgendwie eine ironische Antwort wusste, ließ ich ihre Frage leer im Raum stehen und musterte stattdessen besorgt Caden, welcher noch immer wie zu einem Eisblock erstarrt neben mir stand, unfähig sich zu rühren.
Sein Gesicht war leer, als hätte es jegliche Emotionen verloren und seine Augen waren starr auf die Gruppe von Schülern in der Mitte des Hofes gerichtet.
Bitte lass ihn jetzt nicht mit dem Sabbern anfangen!, flehte ich innerlich, was eigentlich eine ziemlich unbegründete Sorge war. Denn im Gegensatz zu Vic und den restlichen Schülern auf dem Hof, wirkte mein Freund vom Anblick der Gruppe weniger verzückt, viel mehr vor Angst gelähmt.
"Caden?" Vic gab ein leises Räuspern von sich, wie als erhoffte sie sich, ihn damit wieder auftauen zu lassen. "Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst nämlich gar nicht gut aus!"
Unser Freund regte sich nicht.
Ich spielte bereits mit der Überlegung, ihm einen Schmerzreiz zu verpassen, aber ehe ich auch nur meine Hand nach ihm ausstrecken konnte, begann er plötzlich wieder zu atmen. Mit einer schnellen Bewegung wich er in den Schatten einer der gewaltigen Eichen zurück, welche den gesamten Schulhof säumten und unter deren Blätterkronen sich die Schüler aller Stufen an besonders heißen Tagen um die besten Plätze stritten. Sein Gesicht war weiß wie Kalk.
"Respekt", stellte Vic fest und musterte ihn gründlich. "Du bist so bleich im Gesicht, da könnte man echt glauben, du hättest Mrs Primkon im Bikini gesehen."
Ich beschloss besser nicht auf diese Aussage einzugehen - obwohl ich Vic am liebsten wegen dem nun in meinem Gehirn entstandenen Kopfkino einen fiesen Seitenhieb verpasst hätte - und sah mich stattdessen wieder nach dem Jungen mit dem seltsamen Lächeln um.
Der hatte sich zu einer Gruppe Gleichaltriger gesellt - welche ihr Glück kaum zu fassen schienen - und hielt Smalltalk.
Verwundert kniff ich die Augen zusammen. Im Gegensatz zu Caden war er vollkommen entspannt, schien sich wirklich wohl zu fühlen, als wäre er nicht erst seit heute, sondern bereits seit Jahren hier auf dieser Schule. Kein Anzeichen an ihm deutete daraufhin, dass er gerade einen anderen Schüler mit einem einzigen Blick zur Salzsäule hatte erstarren lassen. Oder dass er mich zuvor seltsam angestarrt und dann plötzlich das Weite gesucht hatte.
"Was war gerade überhaupt los?" Vic bedachte Caden mit Blicken, die sicherlich jedem Straftäter ein Geständnis entlockt hätten, meinen Freund jedoch kaum zu beeindrucken schienen.
Als ich wieder zu ihm sah, straffte er gerade die Schultern, schüttelte eilig den Kopf und schob sich mit finsterer Miene an uns vorbei.
"Ich muss noch schnell etwas erledigen", murmelte er in meine Richtung, ehe er geschickt wie eine Schlange in dem Getümmel um uns herum untertauchte und eine verwirrte Vic und eine noch verwirrtere Megan zurück ließ.
Am liebsten wäre ich ihm nachgelaufen, aber Vic, die meine Gedanken besser kannte als jede andere Person hier vor Ort, packte mich am Ärmel meiner Uniform und hielt mich zurück.
"Ich glaube, wir sollten ihn erst mal in Ruhe lassen."
Ich kniff die Lippen aufeinander.
Meine Gedanken ratterten, suchten in meinem Kopf nach einer Antwort, die mir Cadens seltsames Verhalten erklären konnte, fanden jedoch nichts.
"Ihm ist sicherlich gerade eingefallen, dass er Stan irgendwie irgendwo noch helfen muss." Vic ließ mich los, um eine lästige Fliege zu verscheuchen, die sich frech auf die bestickte Brusttasche ihrer Jacke gesetzt hatte. "Ich meine, dem Typen muss man dauernd helfen, der hat nur Probleme und du weißt genau, dass Caden davon nie sonderlich begeistert ist."
"Der Typ ist ein Problem", verbesserte ich sie trocken.
Vic kicherte. "So kann man das wohl auch bezeichnen."
***
Als der Gong, dessen Klang mich an das aufeinander Scheppern zweier Topfdeckel erinnerte, über den Lärm der Schüler hinweg schwirrte, verabschiedete Vic sich von mir und ging über den Hof davon in Richtung der Aufenthaltsräume.
Dabei wippte ihr sehr kurzer Rock bedenklich hin und her, drohte jeden Moment hoch zu fliegen.
Ich wusste, dass Vic sich absichtlich ihre Schuluniform immer eine Nummer zu klein kaufte, um ihre Eltern zu ärgern. Die Tatsache, dass jeder Junge, der sich auch nur annähernd in der Pubertät befand, ihr dabei nachstarrte, wenn sie an ihm vorbei lief, war angeblich nur ein netter Nebeneffekt.
Meine Blicke verfolgten sie, bis sie in dem Gewusel aus Jugendlichen verschwunden war, dann wandte ich mich ebenfalls zum Gehen und bahnte mir einen Weg durch einen mir entgegenkommenden Strom Unterstufenschüler hindurch in Richtung des Biologiegebäudes, wo mein nächster Unterricht stattfinden würde.
Caden war in den restlichen Minuten der Pause nicht mehr aufgetaucht. Wahrscheinlich würde er mich bereits in der Klasse erwarten, überpünktlich, wie immer.
Bei diesem Gedanken schlich sich ein dünnes Lächeln auf meine Lippen und ich drückte schwungvoll die Tür zum Biologiegebäude auf, rannte beim Eintreten beinahe einen kleinen Jungen über den Haufen. Geistesabwesend murmelte ich ihm eine Entschuldigung zu und quetschte mich sogleich eilig in Richtung der Treppe, welche in den ersten Stock hinauf führte, davon, was in Anbetracht der sehr schmalen und sehr vollen Gänge leichter gesagt als getan war.
Das Biologiegebäude war mit Abstand der älteste Teil der St Marcus Academy und das merkte man nicht nur an dem unbeschreiblich stickigen Geruch, der einen einfach überall hin verfolgte. Die Luft hier drinnen schmeckte nach Staub, dessen kleine Partikel im Sonnenlicht tanzten, wenn dieses durch die großen Fensterscheiben hinein gegen die ausgebleichten Wände fiel.
Die Tische in den Klassenräumen waren bereits von zahlreichen Schülergenerationen bemalt worden, manche von ihnen hatten eingeritzte Initialen hinterlassen.
Ein gewisser Peter Willow hatte sich sogar an einem Schrank in der Biologiesammlung verewigt. Direkt neben dem großen, ausgestopften Fuchs, der als der ganze Stolz der Sammlung galt.
Eine wahre Heldentat in den Augen von Vic und mir, da wir es selber einmal versucht hatten, erwischt worden und somit an dieser Herausforderung kläglich gescheitert waren.
Vor der offenen Tür von Mrs Primkons Klassensaal blieb ich einen Moment lang stehen und strich den Stoff meiner Schuluniform glatt.
Zugegeben war ich eine der wenigen Personen in meiner Klasse, welche sich auf den Unterricht bei Mrs Primkon freuten. Das lag jedoch nicht an ihrer einschläfernden Stimme oder an ihren Vorträgen, welche sich in meinem Zeitempfinden endlos wie Kaugummi von einem Finger bis zum anderen zogen, sondern an der Tatsache, dass dies das einzige Fach war, in dem ich neben Caden saß. Und zwar ganz alleine, sodass weder eine kleine Vic, noch ein nerviger Stan in unserem Gespräch mitmischen konnte.
Kribbelige Vorfreude machte sich in meiner Magengegend breit, als ich den Klassenraum betrat. Vorfreude, welche schlagartig zerplatzte wie eine Seifenblase, als mein Blick auf Cadens leeren und vollkommen verwaisten Stuhl an unserem gemeinsamen Tisch fiel.
Als er in der Pause gegangen war, hatte ich eigentlich gedacht, er würde mich trotz seiner Salzsäulen-Mutation wie immer pünktlich im Unterricht erwarten. Ganz im Gegensatz zu Vic und mir kam Caden nämlich nie zu spät und der Begriff 'Unterricht schwänzen' schien gar nicht in seinem Vokabular zu existieren.
Aber anscheinend hatte ich mich geirrt und er hatte seinen Wortschatz erweitert, ansonsten wäre er in diesem Moment wohl hier gewesen.
Mit ratloser Miene blieb ich auf der Schwelle stehen und sah mich um. Mrs Primkon stand bereits hinter dem Pult und ihre ohnehin schon runzelige Stirn war durch das überraschte Hochziehen ihrer Augenbrauen noch faltiger, als normalerweise. An manchen Tagen erinnerte ihre Haut mich an die Schale einer Walnuss. Einer sehr alten und sehr verkrumpelten Walnuss, welche niemand mehr essen wollte.
Neben der Lehrerin stand ein Mädchen, welches gerade mit ihr in ein Gespräch vertieft zu sein schien und sich dabei andauernd durch das rabenschwarze Haar fuhr, wie als könne es selber nicht fassen, dass es so lang und glatt war und ihr wie flüssiges Teer über die Schultern floss.
In der Klasse war es auffallend Still, was mir erst jetzt auffiel, da immer noch der Lärm der restlichen Schüler auf dem Flur durch die geöffnete Tür hereindrang. Mit einer eiligen Bewegung schloss ich diese hinter mir und ging an der Wand entlang auf meinen leider immer noch leeren Platz zu.
Okay, zu Cadens Verteidigung: Er hätte ein Magier sein müssen, um sich in den paar Sekunden, in denen ich auf der Türschwelle gestanden hatte, unbemerkt auf seinen Stuhl teleportieren zu können.
„Wo ist Caden?", auf halbem Wege zu meinem Platz blieb ich neben Stan stehen, Cadens besten Freund bereits seit Kindheitstagen.
Stan antwortete nicht. Er bemerkte mich nicht mal, da seine Augen starr auf Mrs Primkon und das Mädchen vorne am Pult gerichtet waren. Ich runzelte die Stirn.
Wow, wenn er wirklich einmal eine solche Konzentration im richtigen Unterricht zeigen würde, wäre seine Versetzung in die nächste Stufe wohlmöglich nicht gefährdet!
Die Betonung lag auf wohlmöglich, denn zugegeben hielt ich Stan nicht wirklich für den zweiten Galileo Galilei auf dieser Welt.
Obwohl der sicherlich, wenn man sein viel zu großes Selbstbewusstsein beachtete, wohl oder übel der Meinung war.
„Sag mal, seit wann findest du Walnüsse so attrak- oh...", ich verstummte augenblicklich, als ich für einen kurzen Moment das Gesicht des Mädchens vorne am Pult sehen konnte.
Dann verstand ich.
Das Mädchen bei Mrs Primkon gehörte unverkennbar zu der Gruppe gefallener Engel von vorhin auf dem Schulhof. Ihre blassen, asiatischen Züge schienen nahezu perfekt, das konnte ich wohl oder übel nicht leugnen.
„Bevor auch du noch in deinem Sabber ertrinkst", wandte ich mich hastig an Stan, ehe ich selber in ihrem Zauber versank, und verpasste ihm einen unsanften Stoß gegen die Schulter, „würde ich mich sehr darüber freuen, wenn du mir mit deinen letzten Worten erklären könntest, wo Caden ist."
„Caden?" Stan blinzelte mich für eine Sekunde lang verwirrt an und ich glaubte wirklich ein paar Spucketröpfchen auf seinem Tisch unter ihm zusehen.
Widerlich! Galileo Galilei währe so etwas sicherlich nie passiert!
„Der ist gegangen." Stans Stimme klang abwesend, als sein Blick wieder zu dem Mädchen zurück gelenkt wurde, als sei diese ein Magnet. „Der kommt heute nicht mehr."
„Und wieso?", fragte ich weiter, bekam jedoch keine Antwort mehr. Diesmal hätte ich ihm sicherlich tausendmal gegen die Schulter boxen können und er währe dennoch nicht wieder aus seiner Trance erwacht.
Ich seufzte resigniert auf und ging mit schnellen Schritten weiter zu meinem Platz, ließ mich mit einem lauten Rumsen auf meinen Stuhl fallen - um meiner Frustration möglichst laut Luft zu machen - und lehnte mich dann schließlich mit verschränkten Armen zurück.
Der Unterricht hier würde wohl oder übel mein sehr langer und sehr qualvoller Tod werden, da war ich mir sicher!
„Okay", gab Mrs Primkon schließlich nach einer Weile, welche sich wie eine Ewigkeit anfühlte, gedehnt von sich, ehe sie sich der Klasse zuwandte und eine Haarnadel in dem strengen Knoten auf ihrem Hinterkopf zurecht rückte. Vic und ich hegten schon lange den Verdacht, dass die Frisur ein eher halbherziger Versuch war, ihre runzelige Haut auf ganz natürliche Art und Weise glatt zu straffen, ohne dabei auf Botox zurückgreifen zu müssen.
„Wir haben wohl eine neue Schülerin." Die Lehrerin lächelte etwas unsicher, als könne sie immer noch nicht wirklich begreifen, dass das asiatische Mädchen nun in ihrem Biologieunterricht sitzen würde. „Ms Liánhuā, wollen Sie sich nicht vorstellen?"
Das asiatische Mädchen strich sich graziös eine Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte liebreizend in den Raum hinein. „Ich denke, das ist nicht nötig. Viele von euch kennen mich schließlich bereits."
Einige Schüler nickten. Ihre Augen klebten an Liánhuā wie tote Fliegen an einer Fensterscheibe.
"Gut." Die Biologielehrerin schien über die Aussage zwar etwas verwirrt, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
Sie ließ ihren Blick über die Klasse schweifen, als suche sie einen freien Platz für die Neue, und ihre Augen blieben an Malvin McUrcan hängen, einem Kerl mit karottenfarbenen Haaren und einem über und über mit Sommersprossen bedecktem Gesicht.
Ich biss mir auf die Unterlippe und beugte mich neugierig vor, um Liánhuās nicht gerade begeisterten Gesichtsausdruck zu betrachten.
Ich nahm es ihr nicht übel, dass sich ihre Freude über einen möglichen Platz neben Malvin in Grenzen hielt.
Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, die Lehrer der Schule in Schleimerei zu ertränken, erwischte man ihn auch oft dabei, wie er vor der Sportumkleide der Mädchen herumlungerte, wahrscheinlich in der Hoffnung, einmal in seinem Leben eines von ihnen in Unterwäsche sehen zu können.
Kurz um: Er war ein Spanner.
Ich zögerte, schob dann hastig meinen Stuhl nach hinten und stand auf, ehe die Lehrerin auch nur den Mund öffnen konnte.
„Mrs Primkon?", lenkte ich die Aufmerksamkeit auf mich. „Caden ist heute nicht da und ich bräuchte noch jemanden, der mit mir an unserem Projekt weiter arbeitet. Vielleicht könnte sie mir dabei helfen." Ich sah in Richtung Liánhuā.
Die Lehrerin blickte mich überrascht an, als hätte sie mit einem solchen Angebot meiner Seite her nicht gerechnet, nickte dann aber langsam zustimmend. „Das ist eine Gute Idee, Ms Clark."
Deutlich spürbare Erleichterung machte sich auf Liánhuās Gesicht breit. Ihre Füße schienen beinahe auf Watte zu schweben, als sie über den Mittelgang, verfolgt von allen Augen in diesem Raum, auf mich zu kam und neben mir Platz nahm.
"Danke!" Ihre dunklen Augen funkelten im Licht der hereinfallenden Sonne wie kleine Onyxsteinchen. Ihre kirschroten Lippen waren zu einem aufrichtigen Lächeln geformt.
„Keine Ursache." Ich nickte und streckte ihr meine Hand entgegen. „Ich bin Megan. Megan Clark."
„Megan Clark", wiederholte Liánhuā langsam, als sein mein Name etwas Besonderes und für einen Moment lang glaubte ich Verunsicherung in ihren Augen aufblitzen zu sehen, ehe sie meine Hand ergriff und ein perlweißes Lächeln aufsetzte, „Mein Name ist Lilia Liánhuā. Freut mich, dich kennen zu lernen, Megan."
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