14. Kapitel
"Komm mit." Sharon drehte sich um und ging zwischen den sich allmählich leerenden Bankreihen hindurch davon, ganz offensichtlich in der Erwartung, dass ich ihr folgen würde. Einen Moment lang zögerte ich und sah zurück zu der Straße, auf der sich Chloe und Zack soeben immer weiter weg in Richtung Hausnummer 17 entfernten, anscheinend in ein anregendes Gespräch verwickelt. Dann gab ich mir einen Ruck und lief Sharon nach, die bereits, in unglaublicher Geschwindigkeit, die Hälfte des Platzes überquert hatte und zielsicher auf die Veranda des Landhauses zusteuerte.
Dort angekommen drehte sie sich abwartend zu mir um und sah mir dabei zu, wie ich mich an einer schwatzenden Gruppe jüngerer Mädchen vorbei auf sie zu schob.
Es war bereits dunkel geworden. Das abendliche Rot der untergehenden Sonne war dem mit Sternen bestickten Tuch der Nacht gewichen, welches sich gleich einem Zelt über dem gesamten Himmel aufspannte. Jemand hatte in der näheren Umgebung der Campingbänke Fackeln und Kerzen entzündet, deren flackerndes Licht das geplünderte Buffett und die leeren Teller auf den Tischen beleuchtete.
Kaum, dass ich die Veranda erreicht hatte, lotste Sharon mich, gleich wie bei unserer ersten Begegnung, an dieser vorbei, hin zu der Wiese hinter dem Landhaus, über deren verbrannten Grasfläche die leuchtenden Körperchen Tausender und Abertausender Glühwürmchen durch die Nacht tanzten.
Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte sie dabei beobachtet, wie sie eine Schleife nach der anderen über das vertrocknete Gras hinweg zogen, aber Sharon hatte offensichtlich andere Pläne. Mit großen Schritten lief sie auf den Saum des Waldes am Rande der Lichtung zu und trat zwischen das Gebüsch. Nur recht widerwillig folgte ich ihr, blieb allerdings an der Grenze zum Wald hin stehen, unsicher darüber, ob ich ihn betreten sollte oder nicht.
Die Nacht hatte sich zwischen den Ästen und Zweigen der Bäume eingenistet, sodass es dort stockdunkel war. Ganz anders, wie bei dem großen Platz vor dem Landhaus, wo das Licht der Fackeln die Umgebung gut beleuchtet hatte.
Sharon, die bereits einige Schritte voraus gegangen war, blieb stehen und drehte sich mit fragender Miene zu mir um. "Oh, natürlich!", hörte ich sie dann einen Moment später leicht zerstreut vor sich hin murmeln. "Ich bin hier aufgewachsen und kenne diesen Wald wie meine Hosentasche, da vergesse ich immer wieder..." Sie schnippte mit den Fingern und wie aus dem Nichts sprossen hellgelbe Lichtfäden aus ihren Fingerspitzen hervor, flochten sich um ihre Hand herum und erleuchteten somit unsere Umgebung. "Tut mir leid. Ich vergesse immer wieder, dass Neulinge diese Wege hier nicht kennen", sagte sie, wobei ihr entschuldigendes Lächeln auf dem von hellem Licht angestrahlten Gesicht nahezu geisterhaft wirkte.
Ich nickte als Antwort nur und trat schließlich nach erneutem Zögern zu Sharon zwischen die Bäume, welche gleich unheimlichen Riesen über uns aufragten. "Und?", fragte diese mich, nachdem sie sich wieder unbeirrt in Bewegung gesetzt hatte und mir somit keine andere Wahl ließ, als ihr zu folgen. "Wie war dein erster Tag hier so? Verstehst du dich gut mit deiner neuen Mitbewohnerin? Gab es irgendwelche Probleme?"
Es sollte wohl der Beginn eines entspannenden Smalltalks sein, aber hier, mitten in einem Wald bei Nacht in Kalifornien, funktionierte das nicht ganz so, wie vielleicht geplant. Um uns herum hörte ich es rascheln, zischen und knurren. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass wir hier nicht alleine waren. Und diese Tatsache gefiel mir überhaupt nicht!
"Nein, nicht, dass ich wüsste", schüttelte ich also nervös den Kopf, während ich mich beeilte, Sharon einzuholen. "Und ja, sie ist nett. Also meine Mitbewohnerin, meine ich." "Das freut mich zu hören." Elegant stieg Sharon über eine Wurzel, die weit aus der Erde heraus ragte, hinweg. Ich folgte ihr um einiges ungeschickter, da ich mich beeilte, dicht hinter ihr zu bleiben. Das Risiko, dass meine Nase in der Dunkelheit eine eher unangenehme Begegnung mit einem der Baumstämme haben könnte, war mir da dann doch zu hoch, als dass ich lieber höflichen Sicherheitsabstand zu ihr hielt.
"Also?", fragte ich nach einer Weile, in der wir ohne ein wirkliches Ziel vor Augen durch die Dunkelheit marschiert waren. "Was wollen Sie mir hier eigentlich zeigen?"
"Habe Geduld", erwiderte Sharon ruhig. "Es dauert noch ein bisschen. Dennoch sollten wir uns vielleicht beeilen, damit wir pünktlich vor Ort sind, wenn das Spektakel beginnt." "Was für ein Spektakel?", fragte ich verwirrt und runzelte die Stirn. Sharon schwieg als Antwort bloß und lächelte geheimnisvoll, während sie den Schein ihrer leuchtenden Hand über die zahlreichen Farnwedel zu unseren beiden Seiten wandern ließ, die den schmalen Weg, den wir entlang gingen, gleich einer niedrigen Barriere vom restlichen Wald abgrenzten.
Das Knurren, Rascheln und Zischen in unserer unmittelbarer Nähe wurde mit jedem unserer Schritte lauter, als würde uns etwas oder jemand, verborgen von den Bäumen und Büschen um uns herum, verfolgen. "Hier in der Nähe hat eine Waschbärfamilie ihr Nest", erklärte mir Sharon leise, als würde sie meine Unsicherheit spüren. "Keine Sorge. Die sind ganz harmlos."
Ich schwieg verbissen. Woher wollte sie schließlich denn wissen, dass dieses Geraschel und das Geknurre geradewegs von den Waschbären kam? Schließlich konnte sich hier so gut wie jedes Geschöpf in der Dunkelheit um uns herum aufhalten. Lauernd und nur den richtigen Moment abwartend, um uns anzufallen.
Hastig schob ich diesen Gedanken beiseite. Ich gruselte mich sowieso schon genug in dieser Dunkelheit, da wollte ich mir nicht noch ausmahlen, was sich sonst noch, außer Sharon, mir und der Waschbärfamilie, dort verborgen aufhielt.
Ich rieb mir über meine Arme, auf denen sich bereits eine Gänsehaut gebildet hatte. Es war kalt geworden. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich eine der Fleecejacken aus meinem neuen Kleiderschrank mitnehmen sollen. Die hätte mich zumindest warm gehalten und somit wenigstens ein bisschen der Anspannung von mir genommen, welche mich beherrschte, seitdem ich den Wald hier betreten hatte. Auch, wenn mir dazu wahrscheinlich keine wirkliche Zeit geblieben wäre. Wir waren schon jetzt in großer Eile. Weshalb genau, wollte Sharon mir nach wie vor nicht verraten.
Ich presste die Lippen aufeinander und duckte mich unter den herabhängenden Ästen einiger Bäume hinweg, welche durch mein Haar strichen, als seien sie in Wirklichkeit knorrige Hände. Knorrige Skeletthände, wohl bemerkt. Ich erschauderte.
"Hast du Angst im Dunkeln?" Sharon drehte sich mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen zu mir um. Überrascht löste ich meinen Blick vom Waldboden, auf den ich unablässig starrte, um möglichst nicht über irgendwelches Gestrüpp zu stolpern, und sah sie an.
Wie hatte sie das von dort vorne bloß mitbekommen? War es so offensichtlich, dass ich mich nicht wohl fühlte? "Sagen wir es so", murmelte ich leise vor mich hin, "in einer Großstadt ist es nicht gerade üblich, bei Nacht durch irgendwelche Wälder zu streifen. Ist dort mit den ganzen vielen Häusern schlecht möglich."
"Natürlich!" Sharon lachte leise auf. "Hätte dein Vater jetzt ebenfalls an deiner Stelle gesagt. Er hat die Dunkelheit auch nicht sonderlich gemocht." Sie machte eine Pause und überlegte kurz. Dann sagte sie: "Shira hingegen schon, aber die hatte sowieso so gut wie vor gar nichts Angst." "Ach? Echt?", gab ich wenig begeistert von mir und blinzelte in das Licht Sharons leuchtender Hand, mit der sie mir nun ins Gesicht leuchtete. "Habe ich denn noch irgendwelche weiteren Gemeinsamkeiten mit meinem Vater, von denen ich eventuell wissen sollte?"
"Die eine oder andere." Sie lächelte matt. "Aber keine Sorge. Ein paar Eigenschaften von deiner Mum hast du sicherlich auch abbekommen." Sicherlich. Ich unterdrückte ein Schnauben. Ich verspürte in diesem Moment keine großartige Lust darauf, über meine biologischen Eltern zu reden. Dass ich bereits vor Sharon deswegen in Tränen ausgebrochen war, reichte mir bereits. Obwohl, eine Frage gab es da doch noch, wie mir einfiel. Auch, wenn sie nicht meine leiblichen Eltern betraf.
"Was ist mit meiner Mum?", fragte ich und stieg über eine weitere Wurzel hinweg, die aus der Erde heraus ragte. "Also meiner Mum in London. Alison. Weiß sie, dass ich hier bin?"
"Ob sie es weiß?", wiederholte Sharon. "Natürlich wird sie es wissen. Alison ist vieles, aber sie ist auf keinen Fall dumm. Informationen verbreiten sich rasch in Reihen der Venatoren und wenn es um den Tod einer von ihnen geht, dann geht das umso schneller. Sie wird sich eins und eins zusammenzählen können, was genau passiert ist."
"Und was wird sie dann machen?" Sharon schwieg. "Ich habe keine Ahnung", gestand sie mir dann nach einer kurzen Weile, in der ich für einen Moment lang ein lautes Zischen direkt neben meinem linken Ohr zu vernehmen glaubte. "Sie könnte natürlich hier her kommen und versuchen, dich zurück zu holen. Sie könnte allerdings auch genauso gut in London bleiben und sich einer neuen Aufgabe zuwenden. Glaube mir, ich habe schon das eine oder andere erlebt."
"Werden denn viele Schamanenkinder von Venatoren großgezogen?", fragte ich. "Wenige", antwortete Sharon. "Und nicht viele von ihnen schaffen es nach Cetan Wí oder in einen der anderen Camps. Ein Großteil von ihnen folgt dem Weg des Menschen, der sie großgezogen hat. Und bist du einmal ein Venator, so kannst du nie wieder zurück."
"Wieso?"
"Als Venator gibt man einen Teil in seinem Geiste auf. Einen Teil, der normalerweise das Gleichgewicht zwischen Dunkelheit und Licht innerhalb unserer Seele hält. Sie können ihn nicht wieder zurück erlangen. Und weil genau dieser Teil in ihnen fehlt, verdirbt es sie."
"Mit anderen Worten, alle Venatoren sind böse?" Ich legte meine Stirn in Falten.
"Das habe ich nicht behauptet." Sharon schüttelte den Kopf. "Sicherlich gibt es Venatoren, die nicht der Stimme ihres Herren Folge leisten, aber so jemanden ist mir bisher noch nie begegnet und eines kann ich dir sagen: ich habe schon viele Venatoren gesehen."
"Aber meine Mum ist nicht böse!" Ich schüttelte energisch den Kopf. "Sie ist kein schlechter Mensch. Im Gegenteil. Sie ist eine der gutmütigsten Personen, die ich überhaupt kenne!"
"Ich weiß, wie sich das alles anhören mag. Dass die Mum nicht die leibliche Mutter ist und einem die ganze Zeit über die Wahrheit verschwiegen hat." Sharon seufzte leise auf. "Es mag sein, dass Alison keine schlechte Mutter war und nach außen hin auch weiß Gott kein schlechter Mensch, aber das ändert noch lange nicht, was sie in Wirklichkeit ist und was sie alles getan hat."
"Was hat sie denn alles getan? Es muss ja etwas Schlimmes gewesen sein, wenn du sie so sehr dafür verurteilst." Trotz mischte sich in meine Stimme. Mir gefiel es nicht, wie sie über meine Mum sprach. Auch, wenn diese mich bezüglich meiner wahren Herkunft belogen hatte.
Sharon schwieg. Sie schwieg lange. Sie schwieg, bis mir auffiel, dass die Äste aufgehört hatten, nach meinen Haaren zu greifen. Dass sie in diesem Teil des Waldes auf einmal viel höher wuchsen als zuvor. Schlanke Stämme mit glatter Rinde, welche sich dem silbrigen Mondlicht entgegen streckten.
Das Gestrüpp um uns herum begann sich allmählich zu lichten. Stück für Stück, bis der Wald auf einmal mit einem Schlag aufhörte.
Wir hatten eine Lichtung erreicht. Sie war mehr als das Dreifache so groß wie die Wiese hinter Sharons Landhaus - was schon einiges zu heißen hatte. Das Gras hier wuchs in einem kräftigen Grün zwischen den Wurzeln der Bäume und Büsche hervor und führte hinab an das Ufer eines Sees, welcher sich über die gesamte breite Fläche hinweg ausdehnte. Dunkel und still lag er in der Nacht da. Umrahmt von silbrig schimmerndem Schilf, dessen Halme sich leicht im zarten Wind bogen und leise vor sich hin rauschten.
"Und hier sind wir", sagte Sharon mit gedämpfter Stimme zu mir, als wolle sie etwas oder jemanden, der hier auf der Lichtung schlief, auf keinen Fall aufwecken, und trat aus dem Schutz des Dickichts hervor. Ich blieb wieder einmal unsicher zwischen den Bäumen am Rande der Lichtung stehen und beobachtete, wie sie langsam, Schritt für Schritt, auf den so friedlich daliegenden See zuging. Das Wasser schimmerte schwarz wie Teer in einer unheimlichen Stille vor sich hin. Keine Bewegung. Keine Unruhen, welche das Wasser hätten aufwühlen können.
"Wir nennen ihn den Nachtblumen-See", erklärte mir Sharon leise, blieb stehen und drehte sich zu mir um. "Wegen der Seerosen auf dem Wasser. Bei Tag wirst du es besser sehen können. Er hat seinen Namen von ihnen bekommen." Sie deutete mit ihrem leuchtenden Finger hinaus auf das Gewässer, wo ich tatsächlich einige Seerosen nahe dem Ufer erkennen konnte. Sie hoben sich nur schwer von der dunkeln Wasseroberfläche ab, allesamt mit schwarzen Blütenblättern bestückt.
Zögerlich trat ich auf die Lichtung hinaus und kam langsam auf Sharon zu. "Und das wollten Sie mir genau weshalb zeigen?", fragte ich dann, als ich bei ihr angekommen war. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich diesen See auch so irgendwann gefunden hätte. Ohne ihre nette kleine Führung durch die Dunkelheit.
"Spürst du es denn nicht?", fragte Sharon. "Was sollte ich denn spüren?" Verwirrt kniff ich die Augenbrauen zusammen. "Konzentrier dich", erwiderte sie. "Konzentrier dich und achte auf jede kleine Einzelheit in deiner Umgebung. Auf jedes Geräusch, jeden Geruch und jedes Gefühl. Vielleicht solltest du die Augen schließen, dann funktioniert es meist am besten." Ich warf ihr für einen kurzen Moment lang einen zweifelnden Blick zu, aber dann gehorchte ich schweigend, schloss die Augen und horchte, so gut wie ich es eben konnte, in die Dunkelheit hinein.
Ich hörte das Sirren irgendwelcher Nachtkäfer, die ich allerdings nicht zuordnen konnte. Ein Zischen, ein Schaben, ein Rascheln in weiter Ferne. Der Wind ließ das silbrige Schilf am Seeufer sich unter seinem Atem biegen. Der süßliche Geruch eines mir unbekannten Gewächses stieg mir in die Nase. Und dann war da noch etwas anderes. Es war kein Geräusch, kein Geruch, nein. Es war viel mehr ein Gefühl, welches mich auf einmal beschlich und unwillkürlich erschaudern ließ. Etwas begann in mir zu kribbeln. Eine Art elektrische Spannung legte sich über mich, zog sich über jeden einzelnen Zentimeter Haut auf meinem Körper. Die Feinen Härchen in meinem Nacken richteten sich wie elektrisiert auf.
Es war die gleiche Spannung, wie ich sie am Flughafen wahrgenommen hatte, als Keith den Beamten hypnotisiert hatte. Nur um einiges intensiver. Viel intensiver, um genau zu sein
"Was ist das?" Ruckartig öffnete ich meine Augen und starrte auf meine Arme, auf denen sich wieder eine Gänsehaut gebildet hatten, welche diesmal allerdings ganz sicher nicht von der Kälte her stammte. "Das", sagte Sharon langsam, wobei sie sich ein zartes Lächeln nicht verkneifen konnte, "ist Magie." Sie drehte sich um und ging einige Schritte auf das Ufer des Sees zu. "Vor dir liegt unser Tor zur Geisterwelt. Die Verbindung zwischen Cetan Wí und den Totemtieren, die mit uns ihre Kraft teilen." Sie breitete die Arme aus und im genau selben Augenblick sah ich, wie die bis gerade eben noch so still daliegende Wasseroberfläche in Wallungen gebracht wurde.
Winzige, kreisförmige Wellen zogen sich von der Mitte des Sees aus bis zu dessen Ufer hin, wo sie leise gegen das Schilf schlugen, um wieder eins mit der spiegelglatten Oberfläche zu werden. Leise Gluckgeräusche, welche schon nach wenigen Sekunden wieder der allgegenwärtigen Stille wichen.
Das elektrische Spannungsgefühl auf meiner Haut verstärkte sich merklich, wurde schon beinahe unangenehm, als stände mein gesamter Körper unter Strom. Gerade wollte ich den Mund öffnen und Sharon darauf ansprechen, als sich in diesem Moment etwas über dem Wasser zu regen begann und sich eine geisterhafte Lichterscheinung aus der Nacht löste.
Ein majestätischer, blauweißer Hirsch, der in der Schwärze über dem See Gestalt annahm und langsam über diesen hinweg, direkt auf uns zu stolziert kam. Seine schimmernden Hufe schienen beinahe über das schwarze Wasser unter ihm hinweg zu schweben, berührten es kaum. Und wenn sie es doch taten, dann blieb die Oberfläche ruhig und vollkommen unberührt, glatt wie ein schwarzer Spiegel.
In einiger Entfernung von uns blieb der Hirsch stehen, legte den Kopf schief und musterte uns argwöhnisch. Ich hielt den Atem an. Das Tier starrte mich mit seinen hellen Augen geradewegs an, durchbohrte mich, als wolle es mit ihnen tief in meine Seele schauen. Und vermutlich wäre das ihm auch gelungen, hätte nicht plötzlich dieses rostrote, ebenfalls leuchtende Eichhörnchen direkt vor seinen Hufen Gestalt angenommen, wäre kurz um seine langen Beine im Kreis herumjagt, ehe es anschließend in die Richtung davon huschte, aus der er gekommen war.
Überrumpelt sah der Hirsch dem Neuankömmling nach und unterbrach somit unseren Blickkontakt, ehe er dann den Kopf mit dem prächtigen Geweih schüttelte und anscheinend beschloss, sich ebenfalls wieder zurück zu der Mitte des Sees zu bewegen. Mit großen Augen starrte ich ihm nach, als er sich langsam umwandte und elegant von dannen schritt.
Ich klappte meinen offen stehenden Mund zu, was allerdings nicht für besonders lange anhielt, da bereits einen kurzen Augenblick später das nächste Geisterwesen in meinem Sichtfeld auftauchte.
Eine grünlich schimmernde Schlange reckte ihren diamantenförmigen Kopf direkt zwischen dem Schilf aus dem See empor, schwamm auf das Ufer zu, um sich von dort aus direkt an uns vorbei in Richtung Wald zu winden. Sprachlos verfolgte ich mit meinen Augen ihren geschuppten Leib, wie er nur geschätzt einen halben Meter an mir vorbei durch das dunkle Gras glitt.
"Das kann doch nicht wahr sein!", murmelte ich benommen vor mich hin, als ein weiterer Neuankömmling, ein bernsteinfarbener Adler, der sich von dem dunklen Wasser aus dem Mond entgegen schwang, meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. "Sind das etwa alles..." " "Totemtiere", vollendete Sharon meinen Satz und nickte, als ich keine Anstalten machte, weiter zu sprechen. "Ja, das sind Totemtiere." Sie lächelte schwach. Dann legte sie ihre beiden Hände - die leuchtende und die nicht leuchtende - aneinander und schloss die Augen.
Ich sah, wie sich die Lichtfäden von ihrer einen Hand auf die andere übertrugen, hell und strahlend aufleuchteten und dann sich von ihren Fingern lösten, um in der Gestalt einer sandfarbenen Gazelle in Richtung des Sees davon zu springen. Fasziniert verfolgte ich sie mit den Augen, bis sie hinter den Leibern zweier großer Bären, die sich gemächlich dem Ufer genähert hatten, verschwand. "War das gerade Ihr Totem?", fragte ich dann und betrachtete die sanft schimmernde Hufspur, die die Gazelle auf ihrem Weg zum Schilf hin zurück gelassen hatte. Wieder nickte Sharon. "Sind sie nicht wunderschön?", fragte sie mich, wobei ihre Augen dem Flug einer auffallend großen, saphirblauen Libelle folgten, welche an uns vorbei schwirrte. "Sie lieben das Licht des Mondes. Wenn er scheint, dann kommen sie immer wieder hier her, in die Welt der Sterblichen, um sich von ihm zu nähren. Er gibt ihnen Kraft und Stärke."
Sie trat neben mich zurück und sah wieder hin zum See, wo immer mehr Lichtgestalten aus der Dunkelheit hervor traten. Mal große, mal kleine. Manche blieben auf dem Wasser des Sees, manche jagten, kaum, dass sie die Nähe des Ufers erreicht hatten, in Richtung des Waldes davon.
"Morgen ist Vollmond", sagte Sharon leise und ging in die Knie, um auf gleicher Augenhöhe zu einem zotteligen Hund zu sein, welcher sich uns mit wachsam aufgestellten Ohren vorsichtig genähert hatte. Zaghaft schnupperte er an ihrer ausgestreckten Hand, als handele es sich bei ihm tatsächlich um ein leibhaftiges Tier. "Morgen werden sie alle hier versammelt sein. Und einer von ihnen wird einen Schamanen auswählen, mit dem er sich verbinden und mit dem er seine Kraft teilen wird, bis das der Tod sie scheide." Sie sah auf und lächelte sanft. "Und soll ich dir eine Sache verraten, Megan Frye? Dieser Schamane, der wirst du sein."
A/N:
Hey Leute,
ich hoffe euch hat dieses Kapitel gefallen. Es ist zwar etwas länger geworden, als die üblichen Kapitel, aber ich hoffe dennoch, dass dies euch nicht stört. :)
Ich bin vor kurzem noch einmal ein paar Kapitel in "Totems" durchgegangen, wo ich eventuell Änderungen vornehmen wollte und überlege zur Zeit, Kapitel 10 (wo Megan die Wahrheit bezüglich ihrer biologischen Eltern erfährt) umzuschreiben bzw. komplett neu zu schreiben, da ich mit gewissen Sachen (unteranderem den Gründen, warum Alison nicht Megans Mum ist) nicht zu frieden bin.
Was meint ihr?
Soll ich das Kapitel eventuell durch ein ganz neues austauschen oder einfach versuchen, nur die Stellen umzuschreiben, wo ich Änderungen vorgesehen habe und den Rest des Kapitels dann einfach beim Alten belassen?
Lg
Raven
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