10. Kapitel
Wie lange genau ich Sharon wortlos anstarrte und versuchte, das, was sie soeben zu mir gesagt hatte, zu verarbeiten, wusste ich nicht. Vermutlich ziemlich lange, denn im Grunde genommen war ich immer noch nach wie vor damit beschäftigt, mit dieser Magier - pardon - Schamanensache fertig zu werden.
Aber als ich dann auch endlich dies abgeschlossen hatte, merkte ich, wie ein breites Grinsen allmählich meine Mundwinkel nach oben drückte, gefolgt von einem Lachen, welches zuerst nur leise, dann immer lauter über meine Lippen kam.
Hatte sie gerade wirklich behauptet, dass meine Mum nicht meine echte Mutter war? Dass sie mich nicht geboren und all die Jahre unter einer Lüge großgezogen hatte? Das war doch nicht ihr Ernst!
Lachend schüttelte ich nur den Kopf und bemerkte den Blick, den Sharon mir dabei zuwarf, erst, als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Das Traurige und Mitleidige in ihren Augen war mit einem Schlag verschwunden und mir fiel auf, dass sie die Lippen verdrießlich verzogen hatte, als empfände sie meine Reaktion mehr als unpassend.
"Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein, oder?", presste ich hervor, darum bemüht, mein Lachen angesichts ihrer wenig begeisterten Miene zu zügeln. "Ich meine, schön und gut, ich glaube Ihnen das mit den Schamanen und den Totemen. Aber auch nur, weil ich mir das alles hier ansonsten nicht anders erklären könnte." Ich machte eine allumfassende Geste - die übrigens auch meine Begegnung mit Logan im Hinterhof, sowie meine unfreiwillige Reise inklusive Hypnose des Beamten am Flughafen mit einfassen sollte - und wischte mir eine kleine Lachträne aus dem Augenwinkel. "Aber das meine Mum nicht meine Mutter ist", fuhr ich anschließend fort, "Nein! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!"
"Ach, kann es das nicht?", Sharon zog eine Augenbraue in die Höhe, wodurch sich eine kleine Falte auf ihrer makellosen Stirn bildete. Von ihrem Blick her zu urteilen, schien sie das Gesagte nicht auch nur im Entferntesten amüsant zu finden - im Gegenteil.
"Nein!", ich schüttelte den Kopf, noch immer dieses für meine Verhältnisse überbreite Grinsen im Gesicht. "Wieso sollte mir meine Mum das schließlich verheimlichen? Das ergibt doch keinen Sinn!"
"Oh doch, das ergibt sehr wohl Sinn, Megan!" Sharon verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Schließlich hatte sie mehr als genügend Gründe dafür, dir dieses klitzekleines Detail über deine wahre Herkunft zu verschweigen."
"Und was für Gründe sollen das bitte schön sein?" Ich kniff die Augen zusammen, um sie besser fixieren zu können, wobei das Grinsen auf meinen Lippen merklich verblasste. "Und jetzt sagen Sie mir bitte nicht, sie sei eine Geheimagentin, deren Auftrag es war, mich als ihre leibliche Tochter großzuziehen, bis Sie mich finden und gegen meinen Willen hier her bringen würden. Das wäre nämlich sehr unglaubwürdig."
"Aber vielleicht dennoch nicht so weit von der Realität entfernt, wie du glaubst." Sharon seufzte leise auf, wandte mir den Rücken zu und machte ein paar Schritte in den klimatisierten Raum hinein, der sich vor mir als ein sehr geräumiges Wohnzimmer eröffnete.
Es wirkte trotz seiner großen Fläche gemütlich, mit zahlreichen Sesseln und Sofas in zarten Cremefarben ausgestattet, die sich zu kleinen Sitzecken an der Querseite des Zimmers entlang um niedrige Couchtische herum drapierten. An den Wänden hingen zwischen hohen Bücherregalen farbenfrohe, mit abstrakter Kunst bemalte Leinwände. Recht hübsch, um ehrlich zu sein, auch, wenn ich kein sonderlich großer Fan von verwirrenden, abstrakten Formen war, die beim Betrachten lediglich einen Knoten in meinem Gehirn verursachten.
Der Geruch von frisch gemahlenem Kaffe lag in der Luft, ähnlich wie bei uns zu Hause. Nur, dass hier eindeutig noch die feine Note an Kakao und Zimt fehlte, die in unserer Wohnung Dank Mums berüchtigter Backmarathons nahezu nicht mehr wegzudenken war.
"Was genau meinen Sie damit?" Langsam folgte ich Sharon, die auf eines der großen Bücherregale zusteuerte, nach und beobachtete, wie sie sich dort angekommen streckte, um ein gerahmtes Bild von einem der obersten Regalbretter herunter zu holen. "Wieso soll das nicht weit von der Realität entfernt sein?"
Sharon antwortete nicht. Stattdessen trat sie langsam einige Schritte von dem Regal zurück, das Bild in ihren Händen gedankenversunken betrachtend. "Weißt du, warum ich dich zuvor Megan Frye genannt habe?", fragte sie dann schließlich nach einer Weile ohne aufzusehen. Ich schwieg. "Weil du einzig und alleine unter diesem Namen hier existierst, Megan." Ihre Stimme klang ruhig und kontrolliert, als habe sie diesen Satz bereits zahlreiche Male ausgesprochen. "In London magst du dich vielleicht Megan Clark nennen, aber hier, in Cetan Wí, bist du unverkennbar eine Frye. Auch, wenn du vielleicht anderer Ansicht bist."
Sie machte erneut eine kurze Pause und warf mir diesmal einen schnellen Blick zu: "Ich weiß nicht, was Alison dir alles über deinen Vater erzählt hat, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen. Sie haben sich während ihrer Schulzeit kennen gelernt, nicht wahr? Sie ist früh von ihm schwanger geworden und kaum, dass du geboren warst, ist er abgehauen, hat euch einfach verlassen und sich seitdem nie wieder gemeldet." Sie kniff ihre hellen Augen zusammen und konzentrierte sich wieder auf das Bild in ihren Händen.
Mir kippte der letzte Rest meines Grinsen nun endgültig aus dem Gesicht und ich kam nicht drum herum, sie sprachlos anzustarren. Woher wusste sie das? Mum und ich hatten so gut wie nie in der Öffentlichkeit über meinen Erzeuger gesprochen und auch in unserer gemeinsamen Zweisamkeit fiel sein Name mehr als selten. Es war wie ein verbotenes Thema zwischen uns beiden, mit dem wir uns hauptsächlich nur im Stillen und ganz für uns alleine beschäftigten, nie großartig mit anderen darüber sprachen.
Vic und Caden hatte ich an Stelle der Wahrheit immer bloß erzählt, dass meine Eltern getrennt seien und meiner Vater auf Geschäftsreise war, weit weg von London, am anderen Ende der Welt. Eine verdammt lange, über sechzehn Jahre andauernde Geschäftsreise, wohl bemerkt.
Mir war bewusst, dass sie mir das nie auch nur für eine Sekunde lang abgekauft hatten, aber zu meiner Erleichterung, hatten sie dennoch nie genauer nachgefragt, was nun wirklich mit meinem Erzeuger los war und weshalb er nie bei mir war.
"Habe ich Recht?" Mit ihrem Ärmel wischte Sharon ein paar mal über das Glas des Rahmens, als versuchte sie angesammelten Staub wegzuwischen. "Sie hat dir erzählt, dass er dich im Stich gelassen hat, ohne jeglichen Grund, und einfach abgehauen ist, wie ein Feigling."
Ich presste die Lippen schweigend aufeinander. Eine häufige Reaktion von mir, wenn es um meinen Erzeuger ging.
"Du solltest wissen, dass dich dein Vater nie freiwillig verlassen hat, Megan." Sharon starrte noch immer unablässig das Bild in ihren Händen an. "Er hätte alles darum gegeben, dich aufwachsen zu sehen und dich großzuziehen. Egal, was Alison dir genau erzählt hat, er ist nie freiwillig fortgegangen."
"Ach? Und das wissen Sie bitte woher?" Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie skeptisch an.
Sharon warf mir für einen kurzen Moment lang einen undefinierbaren Blick zu, dann kam sie langsam auf mich zu. "Ich habe deinen Vater gekannt", sagte sie leise. "Er war ein guter Mann und er wäre sicherlich auch ein fantastischer Dad für dich gewesen."
"Sie haben ihn gekannt?", wiederholte ich und legte meine Stirn in Falten. Mir entging nicht, dass sie von ihm in der Vergangenheit sprach, als sei er...
"Vielleicht nicht so gut wie manch anderer, aber ja, das habe ich." Sharon war inzwischen bei mir angekommen und drückte mir, ohne eine wirkliche Reaktion meinerseits abzuwarten, das Bild - oder um genauer zu sein war es ein Foto - in beide Hände. "Bitte, schau es dir einfach nur an", sagte sie sanft. "Vielleicht verstehst du dann, was ich meine."
Das Erste, was mir an dem Foto auffiel, war, dass es auch gut aus einem dieser mir verhassten Klatschmagazine stammen könnte, die es überall an den Kiosks von London zu kaufen gab. Das Paar, welches eng umschlungen im Fokus des Bildes stand, lachte in die Kamera, als hätte es soeben einen Sechser im Lotto gewonnen. Es fehlte nur noch eine reißerische Überschrift über ihren Köpfen, die etwas über ihren neusten Beziehungsstand bekannt gab, und dann hätte man es ausgezeichnet auf die Titelseite eines dieser Pärchenratgeber klatschen können, die Mum immer im Wartezimmer des Zahnarztes las.
Den Mann konnte ich anhand der blaugrünen Augen und dem braunen, von hellen Strähnen durchzogenen Haar augenblicklich als meinen Erzeuger einordnen, der beide Arme um den zierlichen Körper der Frau neben sich gelegt hatte. Seine Hände ruhten auf einem kleinen, runden Babybauch, der sich leicht unter ihrem geblümten Kleid bemerkbar machte. Die Frau musste ähnlich wie er erst Anfang zwanzig sein, ihrer dunkel gebräunten Haut und den schwarzen Haaren und Augen zufolge indigener Herkunft. Ihr Gesicht kam mir unglaublich bekannt vor, aber es dauerte, bis ich es wirklich zuordnen konnte. Und dann, als ich begriff, keuchte ich überrascht auf. Das war mein Gesicht, dass mich von diesem Foto aus anlächelte. Mein Gesicht, bloß mit dunkleren Augen und noch dunkleren Haaren, die der Frau auf dem Bild in seidig glänzenden Locken über die Schultern fielen.
"Aber-", stieß ich verwirrt hervor und bemerkte, wie meine Finger zu zittern begannen, "Das kann doch nicht..."
"Nicht wahr sein?", vollendete Sharon meinen Satz und seufzte leise auf. "Doch, das kann sehr wohl wahr sein. Darf ich vorstellen, Megan? Shira Pamuy, deine leibliche Mutter."
"Meine leibliche Mutter?", echote ich, das Bild der Frau wie hypnotisiert anstarrend. Ihre schwarzen Augen schienen mich geradewegs durch das Glas hindurch anzusehen, als versuchte sie stumm Kontakt mit mir aufzunehmen.
"Sie war damals mit dir schwanger." Sharon nickte und deutete auf das Foto. "Sie war eine so talentierte Schamanin. Kein Wunder, dass sich dein Vater geradewegs in sie verliebt hat."
"Sie war eine talentierte Schamanin?", echote ich und sah verwirrt auf.
"Ja." Sharon biss sich auf die Unterlippe. Wieder erfüllte Traurigkeit ihren Blick. "Sie ist seit sechzehn Jahren tot. Genauso wie dein Dad."
"Moment!" Hastig drückte ich ihr das Bild zurück in die Hände, da ich bei dem unkontrollierten Zittern meiner Finger befürchtete, es jeden Moment fallen zu lassen, "Dann meinten sie vorhin mit, dass mein Erzeuger mich nie freiwillig verlassen hätte, dass er..." Ich verstummte. Sharon nickte.
"Warum glaubst du, war es so leicht für Alison, dich zu adoptieren und dich als ihre leibliche Tochter auszugeben? Warum glaubst du, ist dein Vater immer nur in ihren Erzählungen aufgetaucht?"
"Weil er niemals wirklich hätte vorbeikommen können", flüsterte ich leise und bemerkte, wie sich das Zittern in meinen Händen immer mehr verstärkte. Weil er nie wirklich hätte anrufen, niemals hätte Kontakt mit mir aufnehmen können.
Sharon nickte bloß und stellte das Bild des schwangeren Paares, meiner Eltern, beiseite auf einen der zahlreichen Couchtische.
"Aber wie hätte meine Mum das alles möglichen machen können? Ich meine, wie kann sie ein Kind als das ihre ausgeben, wenn das nicht stimmt? Sie ist doch kein kriminelles Superhirn oder so etwas in der Art! Und warum hätte sie das eigentlich tun sollen?"
"Weil sie eine Venatorin ist", antwortete Sharon. "Und weil sie dadurch durchaus in der Lage ist, sich originale Dokumente zu beschaffen, die dich als ihr leibliches Kind ausweisen."
"Dann will meine Mum mich also auch umbringen?" Mir wurde schlecht.
"Nein." Sharon schüttelte den Kopf. "Zumindest jetzt noch nicht. Du solltest wissen, dass nicht alle Venatoren töten. Manche von ihnen lassen Schamanen auch am Leben, um sie zu beobachten oder gegebenenfalls auf ihre Wege zu ziehen. Ich schätzte, letzteres war auch der Plan von Alison. Dich unbewusst auf ein Leben als Venator vorzubereiten und dich so von uns fern zu halten. Gar nicht so dumm, um ehrlich zu sein. Zumindest hätte es beinahe funktioniert."
"Nein!", murmelte ich und bemerkte die Tränen, die in meinen Augen zu brennen begannen. "Das kann nicht Ihr Ernst sein! Das ist eine Lüge! Bitte sagen Sie mir, dass eine Lüge ist! Ein verdammter Scherz!"
"Tut mir leid." Sharon schüttelte den Kopf. "Aber über so etwas macht man keine Scherze. Zumindest nicht in unserer Welt."
Nun begann auch meine Unterlippe zu zittern, ähnlich wie bei einem Kleinkind, welches kurz vor einem Weinkrampf stand. Eilig wandte ich den Blick von Sharon ab, damit sie das nicht bemerkte, und ließ meine Augen wieder hin zu dem Bild des vor Glück strahlenden Paares wandern. Mein Herz krampfte sich zusammen, als mir nochmals schlagartig bewusst wurde, wie ähnlich mir doch diese Frau auf dieser Fotografie sah, ganz im Gegensatz zu meiner Mum.
Ohne große Vorwarnung spürte ich, wie die erste Träne über meine Wange rann, dicht gefolgt von einer weiteren.
In diesem Moment kam mir mein Leben vor wie ein Kartenhaus. Ein Kartenhaus, dass ich Mühsam Stück für Stück über lange Zeit hin aufgebaut hatte und das nun, durch einen einzigen Windstoß, vollkommen in sich zusammen fiel.
A/N:
Und wieder ist ein Monat vergangen und ich habe es erneut nicht geschafft, ein weiteres Kapitel hochzuladen... Jap, irgendwie habe ich das Gefühl, dass das so langsam hier zu Gewohnheit wird.
Wie im Kapitel zuvor werde ich auch hier sehr wahrscheinlich noch an dem einen oder anderen im Nachhinein herumwerkeln, hoffe allerdings dennoch, dass euch dieses Kapitel gefallen hat. :)
Lg
Raven
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