
Geisterbesessenheit
„Nein, wirklich. Ich erkenne Stella nicht wieder. Sie verhält sich so eigenartig", berichtet Lyra ihrem Bruder zum x-ten Mal.
Es kommt Jubin schon aus den Ohren raus. Stella ist Lyras Sitznachbarin und eine gute Schulfreundin. Sie verbringen die Pausen gemeinsam und haben sich privat das eine und andere Mal getroffen. Jubin erinnert sich, wie betroffen Joleen zu Beginn dieser Freundschaft war. Ihr Blick war todtraurig, als hätte sie das Wertvollste in ihrem Leben verloren. Aber mit der Zeit lernte sie, zu akzeptieren, dass Lyra ihr nicht allein gehörte.
„Weißt du, Lyra. Vielleicht durchlebt Stella gerade die Hölle. Ein Familiendrama, Stress mit dem Freund ...wer weiß das schon."
Lyra hebt den Blumenkohl aus der Einkaufstüte und betrachtet ihn wie einen Künstler einen Schädel, als wolle sie gleich poetisch werden.
Jubin rechnet damit, dass sie das Thema vertieft. Was aber nicht der Fall ist, denn seine Schwester fragt ihn nun: „Sag mal, hast du Maxim gesehen? Er reagiert auf keine Nachricht, auf keinen Anruf und war heute nicht in der Schule."
Jubins Alarmglocken klingeln und sein Beschützerinstinkt meldet sich. Wenn Maxim seiner Schwester das Herz bricht, dann kann selbst die jahrelange Freundschaft zwischen ihnen nichts retten.
Wie aus dem Nichts zerspringt das Glas mit eingelegten Champions in seiner Hand. Der Inhalt übergießt sich über seinen Arm hinweg und klatscht hinab. Zum Glück befindet er sich über der Spüle, sodass der größte Teil im Becken landet. Lyra spricht ihn besorgt an, reißt an der Küchenrolle und eilt zur Pflasterschublade. Rotes Plasma tropft aus Jubins Schnittwunde und hinterlässt dickflüssige Farbflecken im Becken. Doch sein Blick gilt nicht seiner Verletzung, sondern Stella, die ihm gegenüber steht. Zwar trennen eine Hauswand und ein kleines Rasenstück die beiden Jugendlichen voneinander und doch blicken die beiden sich in die Augen. Stellas durchbohrender Blick verursacht Gänsehaut auf seinen Armen.
Würde Stella ihr fliederfarbenes Kleid nicht tragen, hätte Jubin sie nicht wiedererkannt. Der dünne Stoff und die Tatsache, dass das Kleid ärmelfrei ist, machen die heißen Sommertage für Stella erträglicher. Für ihre hübschen Sommeroutfits ist Lyras Klassenkameradin bekannt und der schwarze Schal mit den goldenen Sternen passt hervorragend zu dem Outfit. Die kirschroten Lippen stechen ihm sofort in die Augen und da Stella ihre Sonnenbrille abgezogen hat, kann er direkt auf den Spiegel zu ihrer Seele blicken. Grün und strahlend wie Jade. Die viele Schminke, das teure Outfit, die himmlischen Kurven - alles deutet daraufhin, dass es sich um Stella handelt. Nur die sonst so perfekt geglätteten Haare der Brünette ähneln einem Vogelnest.
Jubin bekommt nicht mit, wie seine Schwester auf Krankenschwester spielt und seinen Kratzer versorgt. Vielmehr hält er mit dem unheimlich wirkenden Mädchen ein Blickduell, woraufhin die Brünette beschließt, zur Haustür zu schreiten. Stella bewegt sich geschmeidig wie eine Gazelle. Mit erhobenem Haupt setzt sie ein Bein vor dem nächsten wie ein Topmodel. Ihr Hals ist lang und erinnert ihn an den eines stolzen Schwanns.
Kaum läutet die Türklingel, brummt Lyra miesmutig. „Wer ist das denn jetzt?"
„Stella", es ist mehr ein Flüstern, das aus ihm dringt.
„Sie verhält sich einfach so anders, Jubin. Ich meine, ich dachte, ich kenne sie. Aber sie ist mir ehrlich gesagt, etwas unheimlich geworden", berichtet seine Schwester und brummt lauter, als die Türklingel erneut zu ihren Ohren dringt.
„Ich gehe schon", beschließt Jubin und löst sich aus den Klauen seiner Schwester.
„Was? Warte, du bist verletzt."
„Schon gut." Er betrachtet seinen Finger, worauf nun ein Pflaster mit einem ekelhaften süßen Bärenaufdruck prangt. „Du hast mich ja verarztet."
„Okay. Dann räume ich das Chaos hier auf", beschließt Lyra zögernd.
Es folgt von seiner Seite ein Nicken, schließlich begibt sich Jubin zur Tür. In dem Moment, wo er diese öffnet und die Mittagshitze einen Weg hinein findet, steigt ihm ein starker Verwesungsgeruch entgegen. Stella, die sonst so traumhaft nach Duftrosen riecht, stinkt, als hätte sie sich in Aas gewälzt. Am liebsten möchte Jubin ihr die Tür vor der Nase zuschlagen und doch lächelt er höflich, während Stella ihn interessiert mustert.
„Hey, Stella", bringt er zwischen seinen Zähnen hervor.
„Stimmt was nicht, Jubin?"
Er kann die Wahrheit nicht länger für sich behalten und fragt sie nun: „Sag mal, was ist das für ein Gestank, den du bei dir trägst?"
Stella reagiert beleidigt. „Spricht man so mit einem Mädchen?"
„Entschuldige." Nervös legt Jubin seine Hand auf den Hinterkopf. „Aber geht es dir gut?"
„Warum fragst du?"
„Deine Haare?"
„Die Geschichte würdest du mir nicht glauben."
„Sicher? Sieht aus, als hättest du einen schlechten Tag gehabt."
„Kann man so sagen."
Jubin nickt verständnisvoll und fragt nun nach: „Was führt dich hierher?"
„Ist Lyra zu Hause?"
„Schon."
„Ich muss sie sehen!"
Stella rückt ihm augenblicklich auf die Pelle und der Gestank wird intensiver. Sein Magen rebelliert und das Frühstück kündigt sich an.
„Ich habe keine Zeit, Stella!", ruft Lyra aus der Küche heraus.
„Du hast keine Zeit?"
Stella klingt empört.
Ein kurzes Schulterzucken und die Sache hat sich für Jubin erledigt. „Du hast sie gehört."
In der Hoffnung, sie gibt nach und zieht Leine. Aber Stella denkt nicht ans Verschwinden und tritt nun ein. Als Jubin nach ihr greifen möchte, handelt das zierliche Mädchen. Ein schneller Griff, ein wenig Kraftaufwand und das schreckliche Geräusch, als sein Knochen bricht, dringt an sein Gehör. Jubin verzieht sein Gesicht vor Schmerzen. Er atmet schwer. Stella belastet mit Absicht seinen kaputten Arm und lässt ihn jaulen. Ihre Augen funkeln erregt, als er sich vor Schmerzen unter ihrem Gewicht windet. Sie drückt ihn mit Leichtigkeit hinab zu Boden und genießt den Anblick.
Ein Griff in ihre kleine Handtasche und schon regnet es Fotos. Einige landen auf Jubin und manche neben ihnen auf dem Boden. Es sind Bilder mit dunklen Hintergründen. Verewigte Momente, die sein Inneres zum Brodeln bringen. Als Jubin den grauenvollen Anblick zu Gesicht bekommt, schreit er Lyras Namen. Er befiehlt ihr, schnell zu verschwinden und die Polizei zu rufen. Denn auf den Fotos bekommt der junge Teenager Maxims entstellten Körper zu Gesicht. Sein bester Freund blutet stark. Eine Platzwunde prangt an seiner rechten Schädelseite und dann sind da die vielen Schnittwunden auf seinem nackten Oberkörper.
Ein Blick hinauf und Jubin sieht die Tatwaffe in Stellas Handtasche aufblitzen. Neben dem Hammer entdeckt er Joleens verlorengegangener Freundschaftsanhänger. Die Sorge um seine Schwester ist groß. Aber nicht nur um Lyra. Was ist aus Maxim geworden? Jubin hofft, sein bester Freund hat irgendwie überlebt. Der Schrecken ist überwunden und der Zorn schlägt Wellen. Seine Muskeln spannen sich an. Er möchte zuschlagen, ungeachtet, ob er Joleen gewachsen ist oder nicht.
Die smaragdgrüne Farbe in Stellas Augen verblasst, ihre Augen werden farblos und ihre Haut blasser. Ein weiter Griff in die Handtasche und schon ist Stella ausgerüstet mit einer weiteren Waffe. Die Klinge schnellt hervor, schwingt hinab und nagelt seine Hand im Boden fest. Ein Schrei, ein pochender Schmerz und hastige Schritte. Lyra eilt herbei. Sie brüllt seinen Namen. Stella dreht sich schwungvoll um und es folgt ein Kinnhaken. Mit nur einem Schlag knockt sie seine Schwester aus.
Lyras Körper stürzt brutal zu Boden. Jubin schreit ihren Namen, ruft um Hilfe durch die offene Haustür. Genervt nähert sich Stella ihm. Sie holt mit dem Bein aus und tritt zu. Jubin keucht, der Schmerz an seiner Hand wird unerträglich. Dagegen ist der Tritt gegen seine Rippen ein Witz. Mahnend blickt Stella zu ihm hinab, bevor sie zu Lyra geht und sich zu ihr hinunterbeugt. Stellas Blick ändert sich, ihre Züge werden weicher. Zaghaft haucht sie seiner bewusstlosen Schwester einen Kuss auf die Lippen, streicht ihr behutsam über die Wange.
Jede Sekunde zählt. Noch ist die Angreiferin abgelenkt. Daher greift Jubin nach dem Messer und versucht es, hinauszuziehen, aber die darauffolgende Schmerzwelle hindert ihn daran, die Klinge selbst ein winziges Stück zu bewegen. Als er jedoch beobachtet, wie Stella seine Schwester mit Leichtigkeit aufhebt und wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter wirft, beschließt Jubin, sich von diesem Messer zu befreien, egal wie schmerzhaft es sein wird. Seine schwitzigen Finger finden Halt an dem Griff der Waffe. Mit zusammengebissenen Zähnen, tanzenden Lichtflecken vor seinen Augen und einem pochenden Schmerz zieht er den spitzen Gegenstand aus seinem Fleisch. Stella erreicht ihn jedoch zu schnell für seinen Geschmack. Kaum steht er auf den Beinen, drückt sie ihn gegen die Wand und hält ihm die Klinge bedrohlich an die Kehle.
„Ich verzeihe dir, Jubin. Denn von euch drein warst du der Einzige, der mir zur Hilfe eilte und der versucht hat, Rücksicht auf meine Gefühle zu nehmen. Ich verspreche dir, deine Schwester ist keine Gefangene. Es liegt ihr nach einer Unterhaltung frei, zu gehen, wenn ihr danach ist. Aber sie soll die Wahrheit kennen. Du hattest Recht. Ich war feige und bereue es, nicht auf dich gehört zu haben. Aber nun bin ich stärker und motivierter, meine Fehler zu Lebzeiten auszubügeln. Lass mich dir zum Schluss sagen, dass Lyra ein riesen Glück hat, dich als Bruder zu haben. Du bist so furchtlos und wären da nicht die giftigen Worte, die mich zu Lebzeiten schwer getroffen haben, dann würde ich dich sogar als heldenhaft betiteln. Ich bin mir sicher, wir sehen uns wieder und ich freue mich auf unser nächstes Treffen. Danach sind wir beide sicherlich verändert."
Flehend betrachtet er seinen Angreifer. „Ich bitte dich, geh und lass uns in Frieden. Erkennst du denn nicht, was aus dir wurde, Joleen? Du bist eine Mörderin!"
Ihre Augen verengen sich und die Besessene versinkt kurz in Gedanken. Damit bietet sich eine Gelegenheit zu handeln. Wie auch immer Jubin es angestellt hat, befindet sich das Messer kurzdarauf in seiner Hand. Er hat sie entwaffnet. Anders als er selbst, ist sein Gegenüber wenig beeindruckt und ein Faustschlag reicht aus, damit ihm schwarz vor Augen wird.
Als sich seine Augen schließlich wieder öffnen, fühlt sich Jubin schlapp. Die Wunde an seiner Hand ist verarztet. Die weiße Decke über seinem Kopf und der starke Geruch nach Desinfektionsmittel lässt sein Herz schneller schlagen. Angeschnallt auf einer Liege befindet er sich in der hellen Transportfläche eines Krankenwagens, umgeben von zwei Sanitätern.
„Nein!", spricht er seinen Gedanken entsetzt aus. „Meine Schwester! Lyra!"
Er wollte sich aufsetzen, aber die Gurte halten ihn auf und einer der Sanitäter drückt ihn wieder hinunter
„Bleiben Sie bitte liegen, wir bringen Sie ins nächste Krankenhaus."
„Wo ist meine Schwester?", wird Jubin laut.
Aber die Sanitäter kennen die Antwort darauf nicht, auch die Polizei tappt in Dunkeln. An diesem Tag sah er seine Schwester zum letzten Mal, Lyra gilt als vermisst und nach Stella wird nun landesweit gesucht. Maxim hat seine Entführung nicht überlebt, denn Joleen hat ihn an seinen Wunden verbluten lassen. Sie hat ihn mit Stellas Körper in seinen eigenen vier Wänden aufgelauert und in dem Keller seiner Eltern schrecklich gefoltert. Lyras hatte es bereits erkannt, Joleens Persönlichkeit ist fort. Ein Monster hat ihren Platz eingenommen. Noch viel schlimmer ist die Erkenntnis, dass er und seine zwei Freunde eine Teilschuld tragen. Ihre Schikane hat dieses Monster erst erschaffen. Sie sind der Grund für das Knäuel Hass und Zorn, das Joleen antreibt. Jubin bereut vieles in Bezug auf Joleen. Sie mag ihn verziehen haben, aber nun gehört es zu seinen Aufgaben, sich selbst zu verzeihen.
Mit Lyras Verschwinden bleibt eine Leere zurück, die Jubin nicht füllen mag. Schuldgefühle plagen ihn. Er kann sich auf die Gesetzeshüter nicht verlassen. Zu einem werden sie ihm nicht glauben und zum anderen sind sie auf solche paranormale Begegnungen nicht geschult. Also sucht sich Jubin Hilfe bei dem Betreiber der Website. Nach einem kleinen Informationsaustausch wird ein Treffen vereinbart. Ein Hoffnungsschimmer, den Jubin wahrnimmt. Joleens Gefühle zu seiner Schwester sind das einzig Gute an der Sache. Lyras Überlebenschance ist hoch und bevor sich das ändert, möchte Jubin handeln und sich auf die Suche nach Lyra machen. Er hat Joleen unterschätzt, geglaubt, die Gefahr wäre überstanden. Aber er hat sich geirrt und dementsprechend verlor er alles, was ihm lieb und teuer war.
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