47. Lange nicht gesehen...
Noch nie klang seine Stimme so zerbrechlich und rau. Als würde er versuchen seine aufkommenden Tränen zu ersticken. Seine Knie drohten nachzugeben und er ballte seine Hände zu Fäusten, als würden sie ihm dadurch mehr Kraft verleihen.
Er schüttelte kaum merklich seinen Kopf und setzte wieder seine Stahlwand auf, die niemandem zuließ, in sein inneres zu schauen. Ich gab trotzdem nicht so schnell auf.
"Wie hast du sie verloren?"
"Es reicht!"
"Sag es mir..."
"Es reicht sagte ich! Du hast schon zu viel herausgefunden. Und bei diesen Informationen bleibt es auch!" Er wirkte wie ausgetauscht.
"Nimm Abschied. Dies wird euer letztes Treffen sein."
Ich wollte noch einen Blick auf ihn werfen und mich, wie Joel es sagte, Verabschieden, doch Joel kam mir zuvor und schaltete das Licht aus und schloss die Tür ohne mir eine realistische Chance dazu zu geben.
Ich nahm mir die Instrumente, die ich benötigte und verstaute sie in meinem Wagen. June hatte sich auf meinen Befehl hin umgezogen. Sie trug das selbe Kleid, was die Puppe, die sie nachstellen sollte, auch trug. Ein schwarzes, Knie langes Spitzenkleid. Ich erinnerte mich, sie trug dies schon einmal und immer noch sah sie unwiderstehlichen darin aus. June's Haare waren zu einem hohen Zopf mit einer hellblauen Schleife zu gebunden. Einen leicht schimmernd rosa farbenen Lippenstift hatte sie aufgetragen und ihr Gesicht in ein perfektes, blasses makeup eingehüllt. Obwohl sie, seit dem sie wieder hier lebte, sowieso schon blasser geworden war. Somit hatte sie mir so einige Arbeit abgenommen. Man kann jemanden so brillianten nicht noch mehr perfektionieren.
Sie sprach die ganze Fahrt über kein Wort. Jedes mal, wenn sie so stumm war, kam mir jede schweigsame Stunde wie ein Jahr vor. Die Stille wurde unerträglich und so schaltete ich das Radio an und summte leise mit. Es war eine lange Fahrt!
Die Sonne begann schon langsam unter zu gehen als wir ankamen. Ein umfangreiches, leuchtend gelbes Sonnenblumen Feld nahe an einem Fluss. Ein frischer Windhauch strich uns ins Gesicht.
Nun meldete sich doch wieder zu Wort. "Wo sind wir hier."
Ich war noch perplex und auf eine unbestimmte Art wütend, doch dies legte sich, als ich ihre beruhigende Stimme hörte. Diesmal strafte ich sie mit schweigen. Ich sah sie an. Ihre Haare ließen sich vom Wind tragen, sie schloss die Augen und genoss die Freiheit, keine Frage.
"Wirklich schade, warum es so schnell enden muss. Wir hatten eine schöne, abwechslungsreiche und spannende Zeit miteinander."
"Spannend, ja da hast du recht." Ihr Ton nicht mehr als ein flüsternder Hauch. Nun starrte sie in die Ferne.
Mein ganzer Körper zitterte innerlich. Am liebsten würde mein Verstand weglaufen, doch mein Körper trug mich keinen Millimeter. Er hörte nicht auf meine Befehle. Es war das trügerische Gefühl von Hoffnung, dass mich so weit gebracht hat und mich die ganzen psychischen als auch physischen Qualen aushalten ließ. Es war der perfekte Ort für einen Abschied. Eine Stumme Träne floss aus meinem Auge, doch mehr kam nicht. Wahrscheinlich floss sie auch nur wegen dem wunderschönen Ausblick. Mein Tod stand mir kurz bevor und ich konnte nichts tun.
"Joel", Anspannung und deutlich die Angst waren aus meiner Stimme raus zu hören, "ich will Leben!"
Er kam langsam auf mich zu und wusch mir die im Abendlicht glänzende Träne weg.
"Ich weiß, es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, doch es muss sein."
Etwas knotete sich in mir zusammen als ich ihm in die Augen geblickt hatte und die tiefe und pure Entschlossenheit darin zu sehen bekam. Ich verspürte ein schmerzhaftes stechen im Nacken, als ich ihm den Rücken zu wand.
"Shhht, die schmerzen sind bald vorbei. Dies ist nur ein Muskelrelaxan, damit du die Idee, dich gegen mich zu stellen, nicht in Erwägung ziehst."
Mein angst erfülltes Zittern bemerkte ich erst jetzt. War es schon die ganze Zeit da? Warum hatte ich es nicht gespürt? Doch es ebbte langsam ab, bis ich mich schließlich kein bisschen rühren konnte. Schließlich kippte der Boden unter meinen Füßen und ich fiel direkt in Joels Arme. Ich schloss meine Augen und wollte dies alles schnell hinter mich bringen.
Dass ich eingeschlafen war, bemerkte ich erst, als sich mehrere Ledergürte in meine Haut schnitten. Jeweils eins an jedem Gelenk. Die Sonne war fast unter den Sonnenblumen verschwunden, doch jetzt strahlte sie ein viel intensiveres Rot aus als zuvor. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen und die Luft war angenehm trocken und schleuderte den Geruch der Sonnenblumen mir entgegen. Heute wäre ein schöner Tag gewesen.
"Ich hoffe, es tröstet dich, dass ich dich nicht töten werde. Du wirst weiterhin essen, trinken, schlafen und hübsch aussehen müssen."
"Was ist dann der unterschied, zu unserer jetzigen Situation?", ich versuchte ihn skeptisch anzusehen, doch sowohl das sprechen als auch jede andere Geste oder Mimik fiel mir schwer. Joel lachte und darin schwang Vorfreude und Verzweiflung mit.
"Lass es uns einfach hinter uns bringen, okey? Ich habe lange auf den Augenblick gewartet und möchte ihn nicht durch eine endlos lang erscheinende Diskussion zerstören." Er hatte all die Werkzeuge aus seinem Auto herausgenommen und ordentlich auf einen kleinen, selbstgebastelten Holztisch zurechtgelegt. Darin befand sich auch sein speziell für mich angefertigtes Skalpell mit Diamantklinge. Ich kniff meine Augen zu, als er eine Hand an meine Wange legte.
"Nicht weinen, du zerstörst noch dein bildhübsches Gesicht." Weinen? Ja, ich hatte nicht bemerkt, dass ich weinte. Musste wohl an dem Muskelrelaxan liegen, dass die Patienten im Krankenhaus für eine Operation bekommen, damit sie bewegungsunfähig wurden.
Jahrelang hatte ich für mein Medizinstudium gekämpft, Wochenlang nur durchgearbeitet, jede einzelne Stunde gelernt, nur um hier zu enden? Nein, dass konnte ich nicht wahrhaben. Ich wollte noch so vieles Unternehmen, so vieles lernen. Wollte meine Fähigkeiten dazu benutzen, Menschenleben zu retten. Doch dieses Privileg wurde mir genommen. Anstatt zu retten wurden meine Fertigkeiten dazu benutzt zu töten. Mein eigenes Können gegen mich und andere eingesetzt. Bis sie schlussendlich dazu benutzt wurden, einem kleinen Mädchen namens Zoey das Leben zu nehmen. Das Leben, das vielleicht selbst einmal das eines anderen rettete. Nun war ich hier, aufrecht gefesselt. Mein Leben, so wie ich es kannte, würde bald enden. Sehr bald.
"Jetzt öffne deine Augen, June Blair. Lass mich deine Angst sehen, ich werde sie dir nehmen. Nur dir." Joel sprach leise und bestimmt. Erneut ließ ich meine Augen nach rechts und links fahren. Ich war auf einem Kreuz fest gebunden, wie Jesus als er für die Menschheit sein leben ließ. Das Kreuz wurde in den Boden gerammt.
"Wieso dieser Ort?"
"Als wir Kinder waren haben wir den Ort oft besucht."
"Was ist mit Isabelle passiert?", hauchte ich in dem Augenblick, ich dem ich seinen Blick entgegnete. Wir hatten bisher nicht mehr darüber gesprochen. Zumindest er. Ich versuchte ihn darauf anzusprechen, doch er umging jede noch so kleine Andeutung oder ignorierte mich komplett. Ich hatte einen Wunden Punkt getroffen, das wusste ich.
"Ich werde es dir eines Tages erzählen, das verspreche ich dir. Nur wirst du nichts dagegen äußern, noch darüber nachdenken können. Du wirst nur da sein, unbeweglich, ohne ein komplett funktionstüchtiges Bewusstsein. Doch du wirst mich lieben und ich werde dich lieben. Mehr als ich es jetzt schon tue." Er versuchte immer auf ein anderes Thema zu lenken, doch dies soll mir Recht sein.
Besonders jetzt, wo er sein Skalpell mit Diamantklinge in die Hand nahm und langsam auf mich zu schritt.
"Ich werde dich nicht 'entstellen', wie du es so schön ausgedrückt hast! Du bist mein Meisterwerk und ich habe Jahre damit verbracht einen Plan für jemanden wie dich zu entwerfen. Und jetzt ist endlich der lang ersehnte Moment gekommen. Ich Danke dir, June Blair. Du machst meinen Traum wahr."
"Keine Ursache!", zischte ich wütend und verständnislos. Joel war immer noch ein Geistesgestörter, der Leben nimmt. Ein Arsch und ein Sadist seiner eigenen Art.
Jetzt war es so weit. Meine letzten Minuten die ich so, wie ich war, auf dieser Welt verbringen würde. Ich wusste zwar nicht, was er genau mit 'ohne ein komplett funktionstüchtiges Bewusstsein' gemeint hatte, aber ich wusste, dass ich nicht mehr ich wäre.
Ich versuchte meine Atmung zu kontrollieren, als er ganz nah an mein Gesicht heran kam und leicht mit der freien Hand mein Gesicht nach fuhr. Joels Berührungen hinterließen ein brennendes Kribbeln. Eine Vorwarnung, von dem, was noch folgte.
Er schaute konzentriert auf die Umgebung von meinem Mund und atmete hörbar aus. Joel plazierte einen langen, fast feinfühligen Kuss auf meinen Mund und löste sich ab.
"Na dann woll'n wir mal."
Es war ein leichter Stich, den er durch das Skalpell hervorbrachte. Er ging langsam und präzise an die ganze Sache heran. Joel erhöhte den Druck auf meinen Mundwinkel und erzeugte ein heißes ziehen auf meinem Gesicht. Doch es war paradoxerweise aushaltbar und nur leicht schmerzhaft. Womöglich könnte ich nicht nur im psychischen, sondern auch im körperlichen Bereich abgehärtet sein. Ein leichtes Gefühl der Erlösung schwang darin mit und ein kleines bisschen Eifersucht auf Joel, doch dieses Gefühl verdrängte ich abrupt. Mit einem schnellen Ruck zog er es in einem leichten Bogen bis unter mein Kinn. Es entlockte mir ein leichtes aufstöhnen. Joel schaute kurz belustigt hoch bis er sich wieder an sein Werk machte.
Er wiederholte diesen Schritt auch auf der anderen Seite und ich spürte schon wie mir das Blut entrann, sich an meinem Kinn sammelte und zu Boden tropfte. Mit meiner Zunge fuhr ich mir meine brennende Unterlippe entlang. Sie war taub. Joel hatte das Skalpell womöglich komplett durch meine Mundwinkel gedrückt. Ein Wunder, dass ich sie überhaupt noch, trotz des Muskelrelaxans, leicht bewegen konnte.
Joel lachte leicht auf und trat einige Schritte zurück, um mich zu mustern.
"Wie zwei einfache Schnitte mich bei dir dermaßen befriedigen können! Wie unglaublich du einfach bist. Schau her!" Er hielt mir einen Kopf großen Spiegel hin, wo ich mich selbst betrachten konnte.
Tatsache! Meine Unterlippe wirkte wie ein großer Schmollmund und die Schnitte erinnerten an eine geschnitzte Puppe. Das dunkelrote Blut gab einen satten Kontrast zu meiner, durch fehlende Sonnenstrahlen blass gewordene Haut.
"Gefällt es dir?", fragte Joel mich ernst, als wollte er mich auf eine Probe stellen. Seine Augen waren nur auf mich gerichtet.
"Ja", antwortete ich kalt und abwesend. Erschüttert von meinem Anblick und der Vorstellung, was mir noch bevorstehen könnte, bemerkte ich es erst, als der Knall ertönte. Joel setzte einen neuen Schnitt an, doch...
Ein Knall, der durch das ganze Feld schallte und meine Ohren betäubte. Der Schock stand mir groß ins Gesicht geschrieben. Es war ein Schuss. Ein Schuss, von dem Mann, der mir merkwürdig bekannt vor kam. Der Lauf der Pistole war in unsere Richtung gerichtet, doch die Kugel wurde schon abgeschossen. Ich konnte meinen Kopf nicht drehen, um das Einschussloch des Projektils zu erkennen. Nach zwei Sekunden erwies sich dies allerdings als überflüssig. Joels Blut spritzte auf mein Gesicht.
Ein feuchtes Tuch drückte sich von hinten auf meinen Mund. Ich konnte nicht erkennen wer es war. Ein entschuldigender Blick und lautlose, mit den Lippen geformte Worte von Joel, bevor er zu Boden sank. Das Tuch ließ mich müder und müder werden. Es waren nur noch vier kleine, leise Worte, die ich hörte, doch sie waren deutlich genug um mich in eine Angstattacke zu stürzen, bis ich Ohnmächtig wurde.
"Lange nicht gesehen, Schwesterherz!"
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