42. Wendung
Ich zuckte kurz zusammen, bevor ich meine Augen öffnete. Langsam richtete ich mich auf und streckte mich erleichtert. So gut hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Ich war Wahrscheinlich auf June eingeschlafen. Mit einem kleinen Lächeln auf meinen Lippen musterte ich den schlafenden Engel vor mir. Ihre leicht geöffneten, trocken und blassen Lippen, die bei jedem Atemzug bebten, waren nur zu einladend. "Du wirst schon wieder, keine Angst." Ich strich ihr über die Wange und beugte mich nach vorn. Mit einen leichten Kuss verabschiedete ich mich von ihr.
Es war unheimlich still in meinem Haus geworden. Alle Gäste waren verschwunden. Manchmal fühlte ich mich schon einsam, in einem so großem Haus, ganz alleine. Doch jetzt hatte ich June bei mir. Seit dem sie bei mir eingezogen ist, wurde dieses Meisterwerk an Gebäude wieder Lebendig, wenn man sich meinen Leichenkeller weg denkt. Ich würde Sophie hier noch so einiges aufräumen lassen, bevor ich ihr Schicksal bestimme und sie die Welt nur noch von unten sieht. 'Ne, ich glaube, sogar dass wird sie nicht. Sie hat es nicht verdient beerdigt zu werden. Außerdem wollte ich mir noch ihr die Augen entnehmen. Oder sollte ich June das machen lassen? Vielleicht kann ich ja für meinen kleinen Engel etwas originelles herrichten. Mir schwirrt da schon was im Kopf.' Als ich mich nach oben in mein Zimmer machte, kam mir Michael entgegen. "Michael, wo ist der Bastard?", fragte ich monoton. "Ich habe ihm etwas Etryptamin zur Beruhigung verabreicht." In meinem Gesicht spiegelte sich ein Lächeln wieder. "Oh Michael. Du böser Junge, ist dieses Mittel nicht verboten?" Michael schenkte mir ein ebenfalls teuflisches Lächeln, wie ich ihm. "Wo liegt er jetzt?", fragte ich nach. "Ich hab ihm am ende des Ganges einquartiert, viel Spaß noch mit ihm." Er ging an mir vorbei. Ich musste tief lachen.
Ich schwankte zwischen Bewusstlosigkeit und ewige Dunkelheit. Mein Leben könnte jeden Moment enden, ohne, dass ich es stark mitbekommen würde. Jede noch so kleine Stelle meines Körpers fühlte sich schwer an. Ich besaß kein bisschen Kontrolle über ihn. Automatisch öffneten sich meine Augen, als wollten mir meine Umgebung und mein Verstand etwas sagen, doch alles um mich herum war unscharf. Mein Kopf dröhnte schrecklich. Es fühlte sich an, als würde die Welt um mich herum kippen und ich könnte nichts dagegen unternehmen. Durch starke Konzentration vernahm ich ein abgeschirmtes, regelmäßiges Piepsen, wahrscheinlich von einem EKG. Lag ich etwa erneut im Krankenhaus? Schatten schlichen sich erneut vor meine Augen, doch diesmal nicht von der bevorstehenden Bewusstlosigkeit. Vor mir war etwas, oder eher gesagt, stand jemand. Ich bekam Panik. Ein Wunder, dass das in diesem Zustand noch möglich war. Der Schatten wurde größer und näherte sich meinem Gesicht. Etwas schwang vor meinen Augen hoch und runter, als wollte jemand mit der Hand testen, ob ich überhaupt reagierte und mich zurück ins Leben rufen wollte. Vergebens. Die Gestalt nahm ab und wich zur Seite. Das dumpfe Geräusch des EKG wurde unregelmäßig, bis es abrupt verstummte. Mein Herz flatterte, meine Lungen bekamen keinen Sauerstoff und mein Körper zuckte. Ich verlor mich und war wieder im absoluten Traumland.
"Na wie geht es uns denn so", fragte ich erfreut, als ich ihn so benebelt vor mir liegen sah. Er sah ängstlich aus und fiel fast von der Couch, auf die Michael ihn gesetzt hatte. Ich beugte mich zu ihm runter und gab ihm einen leichten Schlag ins Gesicht. Er wachte in dem Sinne nicht auf. Ich wusste zwar, dass er so leicht nicht wieder bei vollkommenen Bewusstsein kommen würde, doch es hielt mich nicht auf ihm noch eine zu verpassen, nur fester. Es war ein erlösendes Gefühl, alles an ihm raus zu lassen. Ich schlug erneut zu. Ich hörte erst auf, als ich an meiner Hand nur noch ein brennendes Kribbeln vernahm. "Komm mit runter, ich werde dich so lange dort einquartieren, bis die Zeit gekommen ist", sprach ich und stützte ihn, damit ich mit ihm runter konnte. Einen speziellen Raum. Meinen speziellen Raum. Dort hatte ich die meiste Zeit meines Lebens verbracht, und nun bin ich es, der von oben auf diese Zelle hinab blickte. Nun war ich dran. Ich hatte die Macht. Ich ließ ihn mit einem selbst erbauten Mechanismus hinunter und verschloss diesen Raum. Es war einfach und simpel. Ich sperrte ihn ohne Essen, Wasser und Licht in dieses Loch, bis es ihn zum verzweifeln brachte und seinen Willen brach. Aus verschiedenen Öffnungen konnte ich verschiedene Gase hinein pumpen lassen. Manche erstickten daran und verharrten in ihrer Position, da dass Gift in den verschiedenen Gasen nur ihr Inneres beschädigten, von außen wirkten sie immer noch Lebendig. Ich tat dies mit den meisten meiner jetzigen Puppen, doch June wollte ich anders innerlich zerstören. Doch langsam schwindet meine Geduld. Ich wollte mein Meisterwerk endlich vollenden. Ich wollte sie vollenden. Ja, June war, ist und bleibt mein Meisterwerk.
'Jetzt zurück zu Andrew und Aiden, danach kann ich wieder nach meinem Schatz sehen.' Leicht summend machte ich mich auf dem weg zu ihnen. Heute hatte ich einigermaßen gute Laune, trotz meinem schlafenden Liebling. Vor ihrer Tür blieb ich stehen und lauschte, doch nichts war zu hören. Misstrauisch betrat ich den Raum. "Wo verdammt ist Andrew!", schrie ich aus mir heraus, doch keiner hörte mich. Es glich in diesem Raum einem Massaker. Er hatte meinen ganzen taktischen Plan zerstört, Arbeit von Monaten wurde einfach so vernichtet. Aber wo war Sophie? Ich trat nach vorne und blickte auf den halbtoten Aiden hinab. Er hatte einen sehr schwachen Puls. Etwas weiter von ihm entfernt lag Ginger. Beide hatten schlimmere Verletzungen als ich dies ihnen zufügen könnte. Ganze Hautstücke wurden entfernt. Mehr konnte man von den beiden durch die restlichen Verunstaltungen nicht erkennen. Ich versuchte meistens sie zu meinen persönlichen Kunststücken umzuwandeln, meine eigenen Puppen. Doch Andrew war da anderer Meinung. Er fand meine Sichtweise absurd und unnötig, seine Kühlräume enthalten nur Reste und Abfall, der einstigen Menschen, die er als 'abstrakt dargestellt' bezeichnet. Er ist ein größeres Monster als ich es jeh sein werde.
Ich drehte mich um. Etwas blitzte in meinem Augenwinkel metallisch rot auf und richtete meine Aufmerksamkeit auf sich. Wütend hob ich eine kleine, kaum erkennbare, Skalpellspitze auf. Sie war voller Blut. Das war seine Waffe. Er müsste sie wohl bei sich versteckt haben. Wahrscheinlich hatte er sogar seine Gefangennahme geplant. Von Ginger konnte man rein gar nichts erkennen, sie war nur noch ein schwabbliges Stück Fleisch mit einzelnen, kleinen Knochenfragmenten. Aiden hatte er ganz gelassen. Und ich wusste auch wieso. Ich spielte mit der Skalpellspitze mit meinen Fingern herum, wobei es sich einige male in mein Fleisch schnitt, was mich allerdings nicht im geringsten störte. Als ich gerade dabei war aus dem Zimmer zu treten, schlich sich ein leises, angestrengtes Lachen in mein Ohr. Ich wusste zwar, dass Aiden noch am leben war, wenn man das so überhaupt nennen dürfte, doch dass er noch sprechen konnte, hätte ich nicht vermutet. Auf der stelle drehte ich mich um und blickte auf ihn herab. Ich hatte mir sein Lachen tatsächlich nicht eingebildet. "Er wollte, dass du es zu Ende bringst. Du sollst nämlich genau so wie er werden. Also tu es, töte mich und wir haben alle etwas davon", sprach er angestrengt und schloss seine Augen, als wartete er auf meine Gnade. "Ich werde dich nicht töten, dass war schon immer dein Ziel gewesen. Ich werde kein kaltblütiger Mörder werden. Diese Genugtuung werde ich dir und ihm nicht überreichen. Ich werde niemals so werden wie ihr." Meine Stimme war nur noch ein wütendes Flüstern, das vor Abneigung trotzte. "Du wirst es tun, ich weiß es, und es wird dir gefallen. Genauso wie es dir damals gefallen hat, als du deine eigene Mutter umgebracht hast. Leugne es nicht, ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Du kannst dich nicht gegen deine Abstammung und Bestimmung wehren. Irgendwann wird die Zeit kommen. Andrew und ich wissen es und du weißt es auch." "Ich werde nicht so werden wie ihr. Es war Andrews und deine Schuld, dass sie tot ist. Halt deine Klappe! Halt deine Klappe! Halt deine Klappe!", schrie ich mit geschlossenen Augen und stach mit der Klinge zu. Immer wieder, immer weiter, immer tiefer, immer fester. Es gab mir ein befreiendes Gefühl. Nach einigen weiteren Hieben öffnete ich meine Augen, ließ die Klinge fallen und schlenderte einige Schritte zurück. Ich schaute hinab zu meinen roten Händen. In meinem Kopf hörte ich immer noch Aidens lachen. Ich hielt mir mit den offenen Handflächen die Ohren zu, als würde es die Stimme dazu bringen zu verstummen. "Nein!", schrie ich hysterisch. Er hatte jetzt bekommen was er schon seit meiner Geburt an von mir wollte. In meinem Kopf war alles so durcheinander. 'Ich habe versagt.' Leise Geräusche, die von einem entfernten, dumpfen Schrei kamen, zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Es waren die von einer ängstlichen Frau. Ich drehte mich um und stolperte aus dem Zimmer. Es kam von oben. Ich eilte, so wie es mir mein verletztes Bein erlaubte, zur Haustür und erblickte Sophie. Sie hing an zwei Stahldrähten, die jeweils um ihre Handgelenke gebunden waren, über der Tür an der Wand. Da der Eingangsbereich eine erhöhte Decke besaß, die bis zum zweiten Stock reichte, hing sie gut fünf Meter über dem Boden. Ich war von der Grausamkeit, die Andrew ihr zugefügt hatte, entsetzt und zugleich auch fasziniert. Man konnte ihre Verletzungen nicht einmal ansatzweise beschreiben. In einer Hinsicht bewegte es mich sogar. Ihr Gesicht war voller getrockneter Tränen, dessen Bahnen sich neue hinzufügten. Sie lebte noch. Es war ein Wunder, das man mit diesen Verletzungen überhaupt noch Atmen konnte. Andrews Arbeit war bemerkenswert. Man brauchte jahrelange Übung, um einen Schnitt so gekonnt, so perfekt setzen zu können, so lange, um die richtige tiefe zu finden, so lange, um den besten Druck auszuüben, damit das Opfer, oder laut meiner Hinsicht, die Leinwand oder die Skulptur noch lebte. Etwas in mir rotierte wie ein Uhrwerk. Meine Gedanken ordneten sich neu. Meine Sicht auf die Welt änderte sich. Das einzige, was gleich blieb, war der unstillbare Zorn gegen Andrew und Aiden. Ja, obwohl Aiden Tod ist, hasste ich ihn immer noch. Sophie hörte nicht auf zu schluchzen. Sie war stark, dass sie überhaupt lebte. Respekt.
Es dauerte einige Zeit, bis ich sie runter bekam. Sie fühlte sich so zerbrechlich und schwach an. Sie war wie eine kleine lebende Puppe. Mein bisheriges Ziel war es, meine eigene perfekte Welt zu schaffen. Alles in einem Moment still festzuhalten. Die Zeit sollte still stehen. Doch erst jetzt bemerkte ich, dass das Leben viel kostbarer wird, wenn die Zeit Stück für Stück abläuft und ich festlegen kann, wann es soweit ist.
Sophie blutete stark. Ich hob sie auf meine Arme und trug sie hinunter. Alles was meine Freizeit betrifft, sollte sich im Keller abspielen. Zu meiner Verwunderung schlang sie ihre Arme um meinen Hals und vergrub ihren Kopf an meine Schulter. "Bitte, Joel, bitte lass mich nie wieder allein mit so einem." Ihre verweinte Stimme wurde mit schluchzern unterstrichen. Zu meiner Überraschung hatte sie keine Angst mehr von mir, was mir ihr nicht zitternder Ton verriet. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob das gut oder schlecht war. 'Wie hat er sie in so eigenen kurzen Zeit dort hinauf bekommen? Hat er Aiden als Ablenkung am Leben gelassen? Vermutlich. Dass heißt, bis vor kurzem war er noch hier.'
Ich wollte Sophie ins Krankenzimmer bringen, doch eine seltsame Stille war von dort zu hören. Ich hörte keine Lebenserhaltungs-Maschinen. Ich setzte Sophie ab und lief rein. Die Maschinen wurden abgesetzt. "Michael!", schrie ich, doch er kam nicht. Ich versuchte das Beatmungsgerät anzuschließen, doch der ganze Strom im Zimmer wurde abgestellt. Ich hatte Angst. Mein Herz machte vor Verzweiflung einen Sprung. Ich fühlte ihren Puls und lachte. "Ich wusste, dass du so leicht nicht aufgeben wirst."
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