Kapitel 20
Es sind wirklich seine Lippen, die mich küssen. Wirklich! Ich kann mich kaum bewegen, fühle mich wie eine Puppe, die er bewegt, um mich bestens zu schützen. Seine Hände umrahmen und verdecken weitestgehend mein Gesicht, während seine Lippen mir den schönsten Kuss geben, den ich jemals bekommen darf. Genieß es! Mach mit! Das ist deine Chance! Ich schließe meine Augen. Meine Hände berühren ihn so indiskret, wie ich es wahrscheinlich niemals mehr machen darf. Seine harte Brust, seine weichen Haare. Ein kleiner Teil meines Gewissens ärgert sich über sein wunderbares Talent zu küssen. Wie viele hat er schon geküsst und waren sie auch so berauscht davon? Seine Lippen entsprechen wirklich allem, was man ihnen ablesen kann. Weich, geschmeidig, sinne-beraubend. Ich weiß nicht, ob es der Druck der Mitarbeiter ist, aber Miran küsst mich mit einer Intensität, die mir den Boden unter den Füßen wegnimmt. Ich fühle mich nur halb existent. Nur dann, wenn sich sein Körper fester an meinen presst, weiß ich, dass das kein Traum ist. Ich lasse mich auf dieselbe Energie nieder, die er in den Kuss fließen lässt, drücke mich umso inniger an ihn, erwidere den Kuss umso leidenschaftlicher.
"Marianne, ich glaube nicht, dass er das nicht." Marianne, gib endlich Ruhe! Oder nein! Bleib hier! Miran intensiviert den Kuss, indem er sich weiter zu mir hinunterbeugt und mich dazu zwingt, den Kopf weiter in den Nacken zu legen. Mir bleibt jede Luft weg, als seine Hand meine Wangen festhält. Ich kralle mich an seinem Kragen fest, aus Angst, meine Beine geben gleich nach. Mein Puls rast durch meinen ganzen Körper bei diesem Mann und es findet kein Ende, als er mich wieder gegen die Wand drückt. Der Kuss wird durch den Ruck für eine Sekunde unterbrochen, doch ich verzeihe sofort, als ich sein atemloses Keuchen dafür hören darf. Ich erwidere den Kuss, als hänge mein Leben daran. Er ist warm, leidenschaftlich und lässt mich all die Unsicherheiten vergessen, die durch diesen unbeschreiblichen Mann entstehen. Meine Hände gleiten langsam über seine Seiten, weil mich langsam jegliche Kraft verlässt. All meine Konzentration und Luft werden durch den Kuss beansprucht, der leider sein Ende findet. Wir sind beide atemlos und überfordert. Wo Marianne und ihre Freundin sind, wissen wir nicht.
"Ist alles in Ordnung?" Der tiefe, raue Ton seiner Stimme lässt mich frösteln. Ich habe das Gefühl, von seinen geweiteten Pupillen verschlungen zu werden. "Ja", krächze ich. Mir geht es blendend. Zwar kralle ich mich an seinen Oberarmen fest, aber abgesehen von meinem fehlenden Gefühl meiner Gliedmaßen fühle ich mich top. "Shirin", setzt er sichtlich angespannt an. "Es tut mir unbeschreiblich leid für diese infantile Reaktion. Ich ... ich war verwirrt und wusste nicht, wie ich Sie da am besten schützen kann." Oh, glauben Sie mir. Sie haben mich auf die beste Weise beschützt, die ich mir nur vorstellen konnte. "Alles gut", murmele ich halb benebelt. Das war der beste, erste Kuss, den ich je hatte. "Haben Sie sich eine Sekunde lang unwohl gefühlt?" Wenn Sie nur wüssten. Ich schüttele stumm den Kopf. "War eine solide Leistung." Ich schlucke angestrengt, weil mein Gehirn noch wackelig hinterherhinkt und hebe bewertend meinen Daumen. Ich brauche aber eine Pause, um wieder zu mir zu kommen. Daher lehne ich meinen Kopf an seine Brust. "Sind Sie sich sicher, dass es Ihnen gut geht?" "Ich weiß es nicht", murmele ich. Innerlich schreie ich wie ein Groupie. Es ist nicht zu fassen, dass das gerade wirklich passiert ist!
"Ich hoffe, Sie machen das nicht mit all Ihren Mitarbeitern." Daraufhin seufzt er nur. "Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Das war weder professionell noch diskret." Ich mag es aber unprofessionell und indiskret. "Ist schon in Ordnung. Solange Sie sich in Ihrer Freizeit nicht mit anderen treffen und diese auch knutschen, habe ich nichts dagegen." Ich würde es sogar gern wiederholen. Er scheint ganz entsetzt von seiner Tat zu sein. Ich hingegen danke ihm tausendmal in Gedanken dafür. "Okay." Miran schaut über seine Schulter. "Wir sind allein. Was wollten wir noch einmal holen?" Wir wollten etwas holen? Vielleicht Eheringe oder neue Unterhosen für mich. "Ich weiß es nicht mehr." Ich will schlafen. Miran blickt mich mit besorgt zusammengezogenen Augenbrauen an. "Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?" "Alles gut. Mir ist nur schwindelig." Und warm! Sehr warm. Wenn ich noch weiter von diesem hübschen, großen Mann eingeengt werde, kann ich für nichts versprechen. "Wollen Sie sich setzen? Ich hole solange die Kaktuserde." "Geht schon." Ich will wieder die Beanspruchung seiner Armmuskulatur sehen.
Also befreie ich mich aus der wunderbaren Enge, in die mich mein Chef getrieben hat und schwanke aus dem Gang raus. Meine Beine zittern. Mein Herz schlägt immer noch zu schnell für meine Verhältnisse, aber das Lächeln, das sich jetzt auf meine Lippen setzt, lässt mich unbeschreiblich gut fühlen. Er hat mich geküsst. Er. Mich! Es war aus seiner Sicht zwar eine Notsituation, aber ich muss ja anscheinend appetitlich genug gewirkt haben, um von einem Mann seiner Größe und seines Aussehens geküsst zu werden. Zugegeben: Ich habe mir meinen Kuss viel romantischer vorgestellt, aber es war in einem Gartencenter. Einen schöneren Ort gibt es für mich nicht. "Shirin?" Ich komme wieder zu mir und drehe mich zu seiner Stimme. Sein Daumen zeigt hinter sich. "Die Erde ist in dieser Richtung." Oh, stimmt. Ich torkele mit Tunnelblick auf ihn zu. Kaktuserde. Stimmt. Miran kann ruhig schon in die Richtung vorlaufen, statt mich zu beobachten, denn langsam setzt die Scham und Schüchternheit ein. Wir haben uns geküsst. Er ist mein Chef und ich trage seine Kleidung. "Kommen Sie", murmele ich. Hatten wir eigentlich einen Wagen? Zum Glück steht da einer mitten auf dem Weg. An dem kann ich mich auf Prima festhalten, falls meine zitternde Beinmuskulatur nachgeben möchte.
"Ich nehme immer die da." Mein Zeigefinger richtet sich auf den Stapel grüner 5-Liter-Säcke. "Dann nehme ich die auch." Wie gut seine Oberarme aussehen, wenn sie Säcke tragen. Vielleicht trägt er mich heute auch noch. "Was noch? Kokosfasern haben Sie gesagt." Ich nicke nur stumm, viel zu fixiert auf diese weichgezeichnete Haut an seinem Oberarm. Entweder bemerkt er es nicht oder er ignoriert es. Es ist Freitag, da soll er mir diesen Spaß lassen. Ich bleibe die ganze Zeit hinter ihm, um seine Statur weiter begaffen zu können. Wir kaufen noch Sphagnummoos, Kokoschips für die Erde, Perlit, Pflanzenkohle und weil es im Angebot ist, noch Bimsstein. "Dünger und Pestmittel zapfe ich von mir ab. Das sind die Besten der Besten", versichere ich ihm, als wir wieder im Auto sitzen. Miran nickt nur stumm. Über den Einkauf sind wir überwiegend verstummt und haben nur dann gesprochen, wenn er Fragen hatte. Ich hoffe, dass es nicht so bleibt, kann es aber verstehen. Wahrscheinlich überschlagen sich seine Gedanken wegen des Kusses. Sollte ich mir auch Gedanken machen? Eigentlich schon oder nicht? Aber es doch schon geklärt. Ich kann jetzt nicht erhoffen, dass er mich heiratet, so schön es auch wäre. Mich darauf festzunageln, dass wir einen Schritt weitergehen wäre zu viel und würde mir nur das Herz brechen, sollte ich es ansprechen.
Daher schweige ich, bis wir wieder in seinem Schlafzimmer mit dem ganzen Einkauf hocken. "Wann haben Sie Ihre Leidenschaft für Pflanzen entdeckt?", durchbricht er endlich die Stille. "Mit 21 so wirklich. Davor habe ich Lauchzwiebeln in kleinen Töpfen gezüchtet und mir dann irgendwann im Dezember erste, richtige Pflanzen geholt." Seinerseits kommt nur ein nüchternes Nicken, sodass wir wieder in unser peinliches Schweigen fallen. Wird das jetzt immer so sein oder muss er ein Wochenende über das Thema schlafen, damit er wieder der alte bittere Kaffeetrinker ist? Das rumpelnde Geräusch von jedem Einfüllen der Materialien ist das Einzige, was wir beide hören und es ist schrecklich für mich. Miran schaut mich kein einziges Mal an und obwohl es ein neutraler, etwas mürrisch wirkender Ausdruck auf seinem Gesicht ist, verunsichert es mich, weil es auf mich persönlich viel distanzierter wirkt. "Müssen wir uns anschweigen?", platzt es wehleidig aus mir. Miran beendet gerade das Einfüllen des Perlits und danach müssen wir es nur mischen. "Ich weiß, dass das überhaupt nicht normal in einer Arbeitsbeziehung war, aber es ist nun mal passiert. Wenn ich es als Person, die so ihren ersten Kuss hatte-," "Es war Ihr erster Kuss?", unterbricht er mich aufgebracht. So plötzlich und so laut, dass ich erschrocken quieke.
Ich scheine ihn nur noch weiter damit zu belasten, so wie er sich über sein Gesicht fährt. "Ich habe noch nie so viel Scheiße gebaut", murmelt er angespannt. Das war nicht mein Ziel mit der Ansprache. Wenn ich ehrlich bin, wird mir deshalb richtig warm. "Das ist doch nicht schlimm." "Natürlich ist das schlimm!" Er schaut mich an, als wäre ich wahnsinnig. "Ich habe Ihnen ohne jegliche Erlaubnis Ihre erste Erfahrung genommen. Waren Sie zu überfordert, um mich aufzuhalten?" Ich wollte es. Meine Wangen erhitzen verräterisch. "Aber ... was sollte ich schon machen? Ich wusste nicht, dass Sie mich küssen werden." Das wusste ich wirklich nicht, bis seine Lippen meine berührten und es war die schönste intime Interaktion, die ich mit einem Mann hatte. Für Miran bleibt die Welt stehen, als hätte ich ihm gesagt, dass es keinen Kaffee mehr gibt. Sein Seufzen erfolgt schwer und fassungslos. "Es tut mir unfassbar leid, Shirin." "Muss es nicht. Lieber habe ich meinen Kuss an Sie verloren als an jeden anderen erdenklichen Mann meiner Vergangenheit." War das zu viel? Zu ehrlich? Ich hoffe, ich habe mich damit nicht verplappert. Immerhin lässt er sich nichts anmerken, als er auf das Substrat schaut.
"War ich gut?" "Bitte?" "Habe ich gut geküsst als Anfängerin?" Schlimmer kann es nicht mehr werden. Er soll nicht so schauen! Ich habe jedes Recht zu erfahren, wie ich war. Fragt man das etwa nicht? Warum ist er so fassungslos? "Zählt das unter Datenschutz?" "Shirin, ich werde Ihnen keine Bewertung dafür geben", erwidert er mit entsetzter Strenge. "Wieso?", schmolle ich. Präsentationen kann er bewerten, aber nicht, wie ich geküsst habe? Das ist doch lächerlich! "Nein." Ach, erst jetzt folgt der strenge Chef-Ton? Ich verschränke trotzig meine Arme vor meiner Brust. "Shirin, jetzt hören Sie auf zu schmollen." "Nö", murre ich. Er soll mir sagen, wie ich war! "Ich zwinge Sie doch auch nicht, mich zu bewerten." "Sie waren mein erster Kuss. Ich habe keine Referenz im Gegensatz zu Ihnen." Sein Gesicht zeigt pure Fassungslosigkeit - daran ist er selbst schuld! Ich will wissen, wie ich war! "Wir vergessen das einfach", entgegnet er leiser. Wenn ihn schon das auspowert, dann will er mich nicht erleben, wenn ich wirklich stur werde. Das hier ist nett und kulant, aber ich vergesse, dass mit zunehmendem Alter die Ausdauer flöten geht.
Trotzdem bleibe ich beleidigt und nachtragend. Soll er die Erde allein anmischen, mir doch egal! Ich schaue mir stattdessen seine trockene Einrichtung an. Klischeehafter wäre es, wenn er ein Ankleidezimmer voller Hemden und Krawatten hätte, doch es bleibt wohl bei dem großen Kleiderschrank. Alles wirkt sauber und ordentlich. Keine Wasserflasche vom Abend davor, keine benutzten Taschentücher auf dem Nachttisch und kein Anzeichen dafür, dass hier jemand lebt. Gerade, als ich denke, dass ich alles analysiert habe, stoße ich auf ein Objekt einer weiteren Leidenschaft. Eine Schneekugel! "Woher haben Sie die?" Ich stehe ohne weiteres auf, um mir die schöne Schneekugel mit dem Burj Khalifa anzusehen. Die ist toll. "Das war ein Souvenir meines Cousins." "Und die stellen Sie hier so trostlos auf Ihre Kommode?" "Sammeln Sie neben Pflanzen etwa auch Schneekugeln?" "Ja!" Ich drehe mich begeistert zu ihm. "Woher wissen Sie das?" Daraufhin zuckt er bescheiden mit seinen schönen Schultern. "Nur eine Vermutung. Sie können Sie haben." Wie? "Aber das war ein Geschenk." "Mag sein, aber weder mache ich Gebrauch davon, noch sehe ich irgendeinen Nutzen in Souvenirs. Sie hingegen leuchten heller als die Sonne mit der Kugel." Ja, aber ... es ist ein Geschenk. Aber mir fehlt Dubai. Es sieht zu schön aus, um es nicht anzunehmen. "Na gut", murmele ich. Mein Grinsen übernimmt die Oberhand beim Drücken meines neuen Sammlerstücks an meine Brust.
"Haben Sie viele Schneekugeln?" "Nicht mehr als Pflanzen oder Lippenstifte. Ich habe eine Schneekugel aus Paris, Rom, Zaxo, Berlin und jetzt auch Dubai." Ich stelle das goldene Souvenir auf den Kopf und wieder zurück, um den silbernen Schimmer zu genießen. Echt toll. "Ich bestelle uns etwas. Irgendwelche Präferenzen?" Dreh nicht durch, Shirin. Ihr esst jetzt zusammen in eurem ... in seinem Schlafzimmer. Schöner kann es wirklich nicht werden. Ich bin zwar noch von den Nudeln gesättigt, aber diese Chance möchte ich mir wirklich nicht nehmen lassen, vor allem, weil es die letzten Male immer gescheitert ist. Daher ziehe ich verlegen die Schultern an, als ich ihm sage, dass er übernehmen kann. Es fühlt sich wirklich wie ein richtiges Date an, auch wenn er es so diskret wie möglich halten möchte. Wir sitzen hier in allem, aber keiner Arbeitskleidung auf dem Boden seines Schlafzimmers und topfen gemeinsam seine Pflanze um. Für mich sind das alle Komponenten, die ich für mein ideales Date benötige - ein Bollywood-Film wäre die Krönung! Unsere Finger drücken sanft die Erde ein und dadurch, dass der Topf einen kleinen Durchmesser hat, stoßen sie aneinander. Für mich reicht das, um mein Herz schneller schlagen zu lassen.
"Wir sind fertig", kündige ich dann an. Das erleichterte Seufzen seinerseits lässt mich leise kichern. Seine Erbsenpflanze sieht kahl aus, aber immerhin ist sie jetzt gesund. "Ich danke Ihnen, Shirin." Es scheint wohl wirklich seine Kräfte geraubt zu haben, diese Pflanze zu pflegen. Dabei ist das nur der Anfang. Ich bete, dass er niemals mit Thripse zu kämpfen hat. "Sehr gern." Er schenkt mir noch sein hübschestes Lächeln, ehe er sich erhebt und die Ampel wieder aufhängt. Aus diesem Winkel sieht er besonders hübsch aus und huch! Sein T-Shirt hebt sich ein Stück und erlaubt mir den Blick auf seinen flachen, definierten Bauch. Wie gern ich diesen mit Sheabutter und Jojobaöl massieren würde. "Kommen Sie." Er hält mir seine Hand hin, die mich ohne jegliche Probleme auf die Beine zieht. "Wir sollten uns die Hände waschen." Ich wasche Sie, wenn Sie möchten. Ich darf nicht sabbern. Am sichersten ist es, wenn ich gar nicht mehr rede und ihm in sein Bad folge, das genauso grau und eintönig gestaltet ist wie der Rest. "Hier sollten Sie auch einige Pflanzen platzieren. Dann sieht es schon viel lebendiger aus." "Darum werde ich mich kümmern, aber zuerst sollten wir unsere Hände von der Erde befreien", erwidert er rau. So geschmeidig rau und angenehm prickelnd.
Ich weiß nicht, ob es eine attraktive Tat ist oder ob es an ihm liegt, aber ich finde es unheimlich spannend und ästhetisch, wie er den Wasserhahn betätigt. Wie ein Gentleman lässt er mir den Vortritt. Seine Flüssigseife begeistert mich mit ihrer klaren, orangen Farbe und dem wunderbaren Duft. "Die riecht aber gut." Fast so gut wie er selbst. Und es hält sehr lang. Selbst als ich im Wohnzimmer auf der großen Couch sitze, kann ich nicht aufhören, an meinen Händen zu schnüffeln. "Die Seife scheint Sie zu überzeugt haben." "Absolut!" Miran lächelt sanft, bevor er auf seine Hände schaut. "Wie wohl fühlen Sie sich mit dem Gedanken, eine Geschäftsreise anzutreten?" Geschäftsreise? "Wer kommt denn mit?" Seine Augen gleiten zu mir. "Sie und ich." Wir beide? Allein? "Und ... was werden wir machen?" Bei dem Gedanken, wie er und ich gemeinsam reisen, wird mir ganz warm. Mein Bauch kribbelt jetzt schon vor Aufregung. "Jährlich treffen sich in London Vertreter aus diversen Firmenbereichen. Man hört sich Vorträge an, besucht Messen und findet so neue Geschäftspartner." Hört sich nicht so spannend an. "Und Sie sind jedes Jahr dabei?" "Tatsächlich, Shirin." Ich verziehe mein Gesicht. Also war er mit der alten Assistentin dort.
"Besteht ein Problem?" "Nein", erwidere ich eingeschnappt. Ich hoffe doch wohl sehr, dass er seine Griffel bei sich behalten hat. "Wieso schauen Sie mich dann so angewidert an?" "Waren Sie mit vielen Frauen dort?" "Wie bitte?" Mann! Ich werde wieder eifersüchtig. "Gar nichts", murre ich stattdessen. Er scheint ja sichtlich erfahren zu sein. "Möchten Sie mit?" "Ich muss!" Als ob ich mir die Chance nehmen lasse, mit meinem Chef nach London zu reisen. "Also gut." Ich schaue ihn zwar nicht an, habe jedoch das Gefühl, dass er schmunzelt. Erst, als er zum Aufzug geht, durchbohre ich seinen breiten Rücken. Starren ihn viele Mitarbeiterinnen an? Wer schwärmt alles auf der Arbeit von ihm? Ist er zu allen so nett? Und hat er schon mal ... eine Mitarbeiterin geküsst? Irgendwo muss er ja gelernt haben, so wunderbar zu küssen. Mein Blick senkt sich ernüchtert auf meine Hände. Ich weiß, dass es ein irrationaler Schutz für mich war und seinerseits keine Gefühle vorhanden waren, aber jetzt irgendwie ... macht es mich doch traurig. Kann man wirklich jemanden so innig küssen und nichts fühlen? Vielleicht hätte es doch nicht mein erster Kuss werden sollen. Ich ... ach, es ist doch schon passiert.
"Ist alles in Ordnung?" Ich habe nicht bemerkt, dass unser Essen schon gekommen ist. Mein Hunger mindert sich noch weiter beim Anblick der vielen Sachen. "Ja", murmele ich, ohne den Blick anzuheben. "Sind Sie sich sicher? Sie wirken betrübt." Ich bin nur verwirrt und unsicher. Erst jetzt höre ich die Regentropfen gegen die breite Fensterfront prallen. "Bin ich nicht." "Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen glauben soll, wenn ich mir immer sicherer werde, dass Ihr Gemütszustand das Wetter beeinflusst." Ich liebe Vergleiche mit der Natur, aber jetzt kann ich nur mit Mühe meinen Mundwinkel heben. Ich sehe, wie er sich zu mir hinunterbeugt, auch wenn ich weiterhin auf das Essen schaue. "Shirin, das ist nicht das erste Mal, dass Sie Ihre gute Laune aus dem Nichts verlieren. Ist wirklich alles in Ordnung? Sind das Phasen?" Ich weiß es nicht. Seitdem ich ihn kenne, habe ich diese Phasen. "Vielleicht." Aber ich möchte ungern über meine Gefühle für ihn reden. Deshalb versuche ich das Gespräch zu beenden, indem ich eines der Boxen öffne. Er beobachtet mich immer noch, weshalb ich subtil versuche, mich hinter meinen offenen Haaren zu verstecken.
Doch egal wie sehr ich mich auch versuche zu verstecken: Mein Herz wird mich immer verraten.
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