9) Überfall
Ich hörte das nur unzureichend unterdrückte Kreischen, noch bevor ich die Verursacherinnen sah.
„Oh mein Gott, das sind Niall und Louis! Schnell, Leute, vielleicht können wir Fotos..."
Der Rest des Aufschreis ging in entsetztem Getuschel unter, als das entsprechende Mädchen von ihren Freundinnen abgewürgt wurde. Die kleine Gruppe war noch mehrere hundert Meter von uns entfernt, aber natürlich hatten sie uns trotzdem direkt identifiziert. Vielleicht sollten wir uns in Zukunft verkleiden, wenn wir uns zum Filmen aufmachten. Als Rentner mit Rollatoren zum Beispiel, dann könnten wir solchen Überfällen eventuell entgehen.
„Scheiße." Liam klang schon wieder viel zu nervös. „Wir wurden enttarnt."
„Was du nicht sagst."
„Rückzug?" Hoffnungsvoll sah unser Kameramann in die Runde. „Oder ein Umweg?"
Ich spähte auf mein Smartphone, das ich zur Navigation in der Hand hielt. „Der logischste Umweg wäre durch die Innenstadt. Da kommen wir ganz sicher nicht unerkannt durch."
Liam malmte mit dem Kiefer. „Wieso musstest du gestern auch posten, dass wir in der Gegend sind, Louis? Dann hätten wir das Problem jetzt nicht."
„Problem?" Natürlich fühlte sich Louis sofort angegriffen. „Was denn für ein Problem? Wir haben nun mal eine Menge Follower. Ganz klar, dass man uns hin und wieder auf der Straße erkennt."
Liam gab ein sarkastisches Lachen von sich. „Ganz schon selbstüberzeugt, was?"
„Allerdings." Louis setzte sich wieder in Bewegung. „Würde dir auch nicht schaden. Ähm ... Niall, du solltest vorausgehen. Ich weiß nicht einmal so genau, was unser Ziel ist."
Ich seufzte, verzichtete jedoch auf eine Schimpftirade. Louis würde sich nie dazu bequemen, die Infos zu checken, die ich im Vorfeld eines Ausflugs in unseren Chat schickte.
„Eine alte Friedhofkapelle." Stirnrunzelnd zoomte ich die Karte auf meinem Handy näher heran. „Sieht ganz so aus, als müssten wir durch ein kleines Waldstück. Dort war offenbar der alte Friedhof, bevor man den neuen am anderen Ende der Stadt eröffnet hat. Laut meiner Recherchen dürfte das Leichenschauhaus auch noch existieren, aber in deutlich schlechterem Zustand."
„Wie kommst du nur immer auf diese Orte?" Liam starrte verbissen gen Boden, als könnte er so die Mädchen ausblenden, die kichernd und hopsend weiter vorne auf uns warteten, aber natürlich so taten, als würden sie das nicht tun. „Man sollte meinen, nach mehreren Jahren des Herumkommens hätten wir alles im näheren Umkreis abgegrast."
Ich zuckte die Achseln. „Ich habe festgestellt, dass man gute Ergebnisse bekommt, wenn man einfach regionale Mythen durchforstet. In jedem noch so kleinen Ort gibt es welche, meistens in Kombination mit einem Ort. Und der ist vorzugsweise alt, verflucht und creepy, und fällt somit genau in unser Beuteschema. Außerdem habe ich absolut nichts dagegen, zur Abwechslung mal keine fünf oder sechs Stunden Fahrtzeit für einen Dreh einplanen zu müssen und damit unser gesamtes Wochenende zu verschleudern."
Louis summte gutgelaunt. „Wenn wir mal davon absehen, dass uns diese Fahrtzeit unfassbar viel Geld einbringt. Und echt krasse Erlebnisse."
Ich ignorierte ihn. Natürlich wusste ich, dass man für die wirklich lohnenswerten Orte eine lange Anreise einplanen musste. Die großen und krassen Sachen direkt im Umkreis hatten wir schon innerhalb des ersten Jahrs allesamt abgeklappert, sodass uns nichts anderes mehr übriggeblieben war, als unseren Radius zu erweitern. Zumindest, wenn wir weiterhin eindrucksvolle Videos produzieren wollten, denn für eindrucksvolle Videos brauchte man eine eindrucksvolle Grundlage. Ganz einfach.
Finanziell konnten wir uns das mittlerweile problemlos leisten, zeitlich eher weniger. Mit jeder langen Fahrt verging wertvolle Zeit, die wir eigentlich in die Uni investieren sollten. Zumindest Liam und ich. Louis besaß außer unseren Videos, Harry und seiner privaten Schwarzarbeit als IT-Spezialist aktuell keine Hobbys. Wenn er sich nicht bald einen Job besorgte, würden diverse öffentliche Stellen misstrauisch werden.
Mir persönlich tat es gut, heute nicht ewig im Auto sitzen zu müssen. Zwar ging es mir schon hundertmal besser als gestern, aber trotzdem spürte ich, dass ich meinen körperlichen Normalzustand noch nicht wieder erreicht hatte.
Die kalten Stellen im Gesicht und am Hals waren komplett verschwunden. War es wirklich diese ominöse Creme gewesen, die geholfen hatte? Auch gegen das Fieber und die Kopfschmerzen? Kaum vorstellbar.
„Und wie bist du auf diesen Ort gekommen?" Skeptisch schlug Liam einen übertrieben großen Bogen um einen winzigen Hund, der uns aufgeregt ankläffte. „Ich meine, wir sind jetzt nicht einmal zwanzig Minuten gefahren."
„Ein Kommilitone wohnt hier", gab ich bereitwillig Auskunft. „Ihm war es direkt im Studienort zu teuer, also wurde es eine Kleinstadt im Umkreis. Jetzt muss er zwar jeden Tag eine halbe Stunde mit dem Zug pendeln, aber anscheinend macht ihm das nichts aus."
Liam gab ein verständnisvolles Summen von sich. „Nachvollziehbar. Hier ist es bestimmt ruhiger als in der Großstadt."
„Ruhig. Definitiv." Louis ächzte. „Hier kannst du nirgendwo feiern gehen."
Unser Kameramann bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Denkst du, das stört mich?"
„Stimmt. Du gehst ja nicht feiern."
„... und das ist jetzt negativ auszulegen ... warum?"
„Heeeey!"
Beim Klang einer glockenhellen Stimme zuckte ich zusammen. Ich war so darauf fokussiert gewesen, einen Ausweg aus dem neuesten Streit zu finden, dass ich gar nicht richtig registrieren konnte, dass wir die Fangruppe schon erreicht hatten, da stürzten sich diese schon wie ausgehungerte Piranhas auf uns – vier junge Frauen, altersmäßig schätzungsweise zwischen sechzehn und zwanzig.
„Hallo!" Rote Locken gerieten in mein Blickfeld, zusammen mit nervös zitternden Händen, die ein Handy umklammert hielten. „Dürfen wir ... dürfen wir vielleicht ein Foto mit euch machen? Wir..."
„Wir sind die größten Fans, die es gibt!", wurde sie von einer ihrer Freundinnen, eine Brünette mit langem Pferdeschwanz, unterbrochen. Die restlichen zwei hüllten sich in Schweigen. „Wir lieben euch so sehr!"
Panisch wandte Liam sich zu uns um, die Augen so weit aufgerissen, dass ich befürchtete, sie könnten ihm aus dem Kopf fallen. Auf solche Liebesbekundungen reagierte er grundsätzlich mit bodenlosem Entsetzen.
Louis hingegen grinste breit. „Klar. Woher kommt ihr denn?"
Louis' Fähigkeit, lockeren Smalltalk zu führen, war unschlagbar – sehr zur Freude der Fans. Begeistert redeten sie durcheinander und gegeneinander, und ich bezweifelte, dass Louis auch nur eine einzige Information wirklich verstand, aber trotzdem nickte er lächelnd und tischte ihnen auf, wie cool er alles fand.
Ich zwang mich dazu, ebenfalls zu lächeln und zu nicken und so zu tun, als würde ich der chaotischen Konversation folgen. Stattdessen driftete meine Aufmerksamkeit zum vierten Mitglied der Truppe ab, das sich im Hintergrund hielt und die Geschehnisse schweigend, wenn nicht sogar leicht gelangweilt verfolgte. Normalerweise war ich wirklich kein Freund von Klischees und Vorurteilen, aber anhand ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrer Körpersprache schlug mein Gaydar innerhalb von Sekunden an.
Während Louis die anderen drei weiterhin fabelhaft unterhielt und dabei einen verstörten Liam ermunternd miteinbezog, schlängelte ich mich unauffällig um die Gruppe herum.
„Hey." Grüßend nickte ich der schweigsamen jungen Frau zu. „Alles klar?"
Sichtlich erstaunt erwiderte sie die Geste. „Hey zurück. Klar."
Nun, wo ich direkt vor ihr stand und persönlich das Gespräch suchte, schien sie doch ein wenig nervös zu werden. Ruckartig rückte sie den grauen Hoodie unter der weiten Jeansjacke zurecht, ebenso die ausgebeulte, zerfranste Jeans und zum Schluss noch die große, schwarzumrandete Brille auf ihrer Nase. Ihre Kurzhaarfrisur lugte in hellblonden Spitzen unter ihrer dunklen Mütze hervor und bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihren schwarzumrandeten Augen.
Ich nickte zu ihren Freundinnen hinüber. „Kein so krasser Superfan, was?"
Sie zuckte die Achseln, scheinbar arglos, doch ich glaubte zu sehen, wie ein Grinsen an ihren Lippen zupfte. „Ach was, das täuscht. Ich hasse nur Smalltalk. Sorry." Sie hielt inne. „Krieg ich trotzdem ein Foto mit dir? Keine Angst, ich will dich nicht anmachen. Dafür bin ich viel zu gay."
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht lauthals zu lachen. „Okay, danke für die Info. Gleichfalls."
Demnach machten wir dieses Selfie, wobei sie sich sogar tatsächlich noch danach erkundigte, ob sie es auf Instagram posten durfte.
Beeindruckend. Die meisten taten es einfach.
„Gleichfalls?", hakte sie dann nach, so aus dem Kontext gerissen, dass ich verwirrt innehalten musste. „Spannend."
Siedend heiß ging mir auf, dass ich dumm war. Mein vermaledeites Mundwerk. Ich hatte mich bewusst dafür entschieden, der Öffentlichkeit meine Sexualität nicht auf dem Silbertablett zu servieren und auch ansonsten keine verdeckten Hinweise abzugeben. Natürlich wusste ich, dass ein Großteil ohnehin etwas von meiner Queerness ahnte, ganz unabhängig von der Nouis-Geschichte, aber ich wollte den Teufel tun und irgendetwas bestätigen.
Was ich jetzt aber getan hatte.
Weil ich – ich wiederhole – dumm war.
Erst als die junge Frau leise lachte, registrierte ich, dass mir das Entsetzen offenbar klar und deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
„Sorry, aber dein Gesicht gerade ist unbezahlbar." Ihre Augen glänzten schalkhaft. „Dann stimmen die Gerüchte also. Damn."
Ich räusperte mich. „Zurücknehmen kann ich es ja nicht mehr. Glückwunsch."
„Ich werde darauf verzichten, es in meinem Insta-Post zu erwähnen." Neugierig musterte sie erst mich, dann Louis, der noch immer in die Unterhaltung mit ihren Freundinnen vertieft war, und da ahnte ich schon, was als Nächstes kommen würde. „Kann ich auch noch ein Foto mit dir und deinem Freund haben?"
Ich zog die Augenbrauen hoch. Diesmal würde ich nicht so unvorsichtig sein. Das hier war ganz eindeutig ein Versuch, Louis' und meine Beziehung zu analysieren.
„Mit welchem?" Neckend grinste ich ihr zu. „Liam und Louis sind beide meine Freunde."
„Ach, komm." Enttäuscht schürzte die die Lippen. „Und ich dachte, ich kann euch enttarnen, wenn ich es schlau anstelle."
„Viel Erfolg noch dabei." Grinsend wandte ich mich um. „Louis, du Pisser! Hör auf mit der Flirterei, hier will jemand noch ein Foto!"
Natürlich wurde er nur zu bereitwillig zu mir durchgelassen, und obwohl sie es zu verbergen versuchten, begriff ich, dass mindestens drei Videokameras auf uns gerichtet waren. Sicherlich hofften sie alle auf einen Kuss oder so.
Ein Kuss mit Louis.
Igitt.
„Yooo!" Louis, wie immer ein Volltrottel von Weltklasse, schlang den Arm um meine Taille und verhakte den Daumen in einer der Gürtelschlaufen an meiner Jeans. „Sag Cheese, Nialler."
Angeekelt schlug ich nach seiner Hand. „Finger weg." Suchend sah ich mich nach der jungen Frau um, mit der ich mich vorhin noch unterhalten hatte. „Hey. Möchtest du in die Mitte?"
„Nö. Ich stehe gerne am Rand."
Selbstverständlich tat sie das.
Ebenso selbstverständlich wollten auch die anderen drei noch Einzelfotos und am Ende waren wir insgesamt fast eine halbe Stunde beschäftigt, bis wir uns endlich loseisen konnten.
Kaum befanden wir uns außer Hörweite, fuhr Liam sich selbstmitleidig mit der flachen Hand übers Gesicht. „Das waren eindeutig allesamt Nouis-Shipper", stellte er das Offensichtliche fest. „Harry wird begeistert sein, wenn ihm gleich die ganzen Fotos von euch um die Ohren fliegen."
„Was sollen wir denn tun, hm?" Louis wirkte gleichermaßen verärgert und schuldbewusst, wobei er Letzteres wohl so schnell nicht zugeben würde. „Drei Meter Sicherheitsabstand voneinander halten? Uns vielleicht nicht einmal mehr ansehen? Das ist doch Bullshit."
Liam verengte die Augen. „Könntest du eventuell mal deinen hohlen Kopf aus deinem egozentrischen Arsch ziehen und ein wenig rücksichtsvoller deinem Freund gegenüber sein? Ich persönlich verstehe jedenfalls, dass ihn diese Nouis-Geschichte belastet. Und was tust du, wenn er es kommuniziert? Du tust es als lästige Quengelei ab. Mal ehrlich, Lou, wäre ich er, hätte ich schon vor einem Jahr mit dir schlussgemacht."
In einer Mixtur aus Horror und Beeindruckung starrte ich ihn an. Derart klare Worte kannte ich vom sonst so zurückhaltenden Liam überhaupt nicht. Natürlich geigte er Louis immer wieder seine Meinung, aber aus dessen Beziehungsgeschichten hielt er sich normalerweise raus. Normalerweise, wohlgemerkt.
„Mein egozentrischer Arsch?", wiederholte Louis langsam, als müsste sein Gehirn mit seinen Worten schritthalten. „Gibt es irgendetwas, das du mir mitteilen möchtest?"
Liam wandte sich ab. „Jetzt nicht mehr."
„Leute, da vorn ist der Wald." Mit mehr Schwung als nötig drängte ich mich zwischen meine Kollegen. „Liam, wie fangen wir an?"
Unser Kameramann ergriff den angebotenen Themenwechsel am Schopf und ließ sofort Vorschläge für den Dreh vom Stapel. Louis hüllte sich unterdessen in Schweigen und tat so, als wäre er eingeschnappt, doch mir entging sein nachdenklicher Blick nicht. In ihm schien es ordentlich zu arbeiten. Vielleicht war die Message nun doch mal bei ihm angekommen. Gerne hätte ich mich danach erkundigt, was in seinem Kopf vorging, doch dann erreichten wir auch schon den Waldrand, und ich wusste, dass der ehemalige Friedhof und die verfluchte Kapelle für die nächsten Stunden Priorität haben würden. Und wer wusste schon, vielleicht wurde mir ja wieder eine gespensterhafte Begegnung zuteil?
Ha-ha.
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Schönen Adventssonntag euch noch :)
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