6. Harry
„Liams Aufnahmen aus dem Schwimmbad sind richtig gut geworden."
„Liams Aufnahmen sind immer richtig gut." Unwillkürlich verzog ich das Gesicht, als ich an einer orangefarbenen Ampel ruckartig auf die Pedale steigen musste und sämtliche Knochen in meinem Körper protestierten. „Fuck."
Louis im Beifahrersitz neben mir ließ das Smartphone sinken und musterte mich eingehend. „Sicher, dass es bei dir geht? Ich hätte dir ja angeboten, dass ich das Fahren übernehmen kann. Ich habe jedenfalls keinen Knöchel mit doppeltem Durchmesser."
„Vergiss es." Ich zog die Handbremse an und erlaubte mir somit, meinen geschädigten Fuß ein wenig zu entlasten. „Als ob ich jemanden wie dich freiwillig hinter das Steuer meines Autos lassen würde."
„Jemand wie ich?" Louis' dramatisches Schnauben hätte sich auf einer Bühne gut eingefügt. „Was soll das bitte heißen?"
„Führerschein im Lotto gewonnen."
„Du Arschloch."
„Gleichfalls."
„Darfst du offiziell überhaupt fahren?" Nun klang sein Tonfall lauernd. „Was haben sie in der Notaufnahme denn gesagt?"
Ich zögerte, und zum Glück schaltete die Ampel genau jetzt um, sodass ich eine Rechtfertigung erhielt, meine Antwort ein wenig hinauszuzögern. „Die Ärztin meinte nur, ich sollte den Fuß schonen und nicht unnötig strapazieren."
„Also nicht fahren." Louis ließ das Handy in seinen Schoß fallen. „Und was ist mit deiner Hand? Und deinem Kopf? Und deinem Bauch? Und..."
„Mir geht's prima, Louis. Sag mir lieber, wo ich abbiegen muss."
„Chill, Mann. Kein Grund, aggressiv zu werden." Er griff wieder nach seinem Handy „Du hättest dir auch einfach eine Karre mit integriertem Navi kaufen können, dann hättest du das Problem jetzt nicht. Oder wenigstens eins, das man sich an die Scheibe kleben kann."
„Ich könnte das Handy anstecken." Ein wenig zu rasant lenkte ich den Kleinwagen um die letzte Biegung, bei der ich mich noch einigermaßen auskannte. „Aber da es mir viel lieber ist, wenn meine Beifahrer eine Beschäftigung haben und mich nicht volllabern, spare ich mir das meistens."
„Gut zu wissen." Hochmütig zoomte er irgendetwas auf dem Display heran. „Du kleines Arschloch."
Meine Güte. So viele Komplimente auf einmal.
„Ist gut. Wohin?"
Er hob sich das Handy so nah ans Gesicht, dass er garantiert nichts mehr sah. „Wenn möglich, bitte wenden."
Sein Lachen hallte in meinen Ohren wider, während ich der Aufforderung laut fluchend nachkam. Dieser Scherzkeks hatte unfassbares Glück, dass ich aktuell noch fuhr und ihn nicht auf der Stelle töten konnte.
„Und jetzt hier gleich rein." Hektisch wedelte er in Richtung einer Seitenstraße. „Ist eine Abkürzung. Hoffe ich wenigstens. Nach dem Block sollte gleich die Hotelmeile kommen. Und Harrys Baustelle mit dem krassen STYLES-Schriftzug ist ja nicht zu übersehen."
„Harrys Baustelle?" Eilig wich ich einem Fußgänger aus, der einen Korb voller Hamster über die Straße trug. Leute in der Stadt waren einfach komisch. „Wohl eher die seiner Eltern. Er will den Kram ja eigentlich gar nicht." Suchend sah ich mich um. „Da vorne sehe ich einen Bagger. Und das fette STYLES. Wo können wir parken?"
Louis verfiel in Schweigen, während er die Karte studierte. Dann zeigte er so abrupt in Richtung einer Einfahrt, dass ich beinahe das Lenkrad verrissen hätte. „Fahr da rein, fahr da rein, fahr da rein!"
„Louis, Mann!" Schadenfroh nahm ich wahr, wie Louis Kopf bei der scharfen Wendung mit einem lauten Dong! mit dem Fenster kollidierte. Geschah ihm recht. „Willst du uns umbringen?"
„Nein." Völlig entspannt legte er das Handy weg und tat so, als wäre ihm sein schmerzender Schädel egal. „Ich will uns auf das Titelblatt bringen." Er zeigte auf ein Schild, auf dem ebenfalls der Name Styles prangte. „Der Parkplatz gehört zum neuen Hotel. Er ist nur ein paar Gehminuten entfernt. Du weißt schon, für die Gäste der weniger teuren Zimmer. Wir sind zwar keine Gäste, aber ich bin sicher, Harry kneift für uns ein Auge zu, wenn wir hier unbefugt parken."
„Das hoffe ich. Für dich." Ich lenkte den Wagen in eine Parklücke in der hintersten Ecke, wo vielleicht nicht sofort auffiel, dass wir keinen Berechtigungsschein besaßen. „Wenn mein Auto abgeschleppt wird, muss ich dir nämlich die Fresse polieren."
„Oh nein, etwa mit deiner Hand?" Louis tat so, als wäre er entsetzt. „Das kannst du momentan doch gar nicht. Deine Schlaghand ist mumifiziert."
Wie gesagt. Früher oder später würde ich ihn einfach nur noch töten müssen.
Ein Rentnerpärchen begutachtete mich befremdet, als ich mich umständlich aus der Fahrertür des Autos schob. Verübeln konnte ich es ihnen nicht, immerhin wirkte ich vermutlich nicht so, als wäre ich dazu in der Lage, ein Fahrzeug zu lenken.
Das dicke Pflaster an meiner Stirn zerrte zwar unangenehm an der Haut, unter den Bandagen um meine Hand und an meinem Bauch schwitzte ich ganz erbärmlich und mein Knöchel pochte, als hätte ich einen Marathon hingelegt, aber ich funktionierte. Und bevor ich mein Auto in die unverantwortlichen, unberechenbaren Hände von Louis übergab, setzte ich lieber meinen eigenen Heilungsprozess aufs Spiel. Außerdem war eine halbstündige Fahrt in die nächste Stadt ein Klacks.
Harrys Einladung, uns das neugebaute Hotel anzusehen, hatten wir natürlich nicht ablehnen können. Zwar verbot er uns, Videos zu machen, aber es drehte sich ja nicht immer alles darum, Filmstoff für unseren Kanal zusammenzukratzen. Außerdem, wer konnte schon von sich behaupten, eine Exklusiv-Führung in einem brandneuen Styles-Hotel bekommen zu haben? Noch dazu in einem, das schon seit einer halben Ewigkeit riesig in den Medien kursierte?
Louis und ich hatten durch unsere enge Beziehung zu Harry dahingehend ganz eindeutig einen Vorteil gegenüber den übrigen Normalos auf dieser Welt, denn Harrys Eltern gehörte die erfolgreiche Styles-Hotelkette. Ihr Name war allgegenwärtig, ihre Hotels in sämtlichen Größenordnungen befanden sich an allen wichtigen Standorten quer über den Globus verteilt. Gestartet worden war die Branche vom Großvater seiner Mutter, uns seitdem spielte ihnen das Ganze Millionen über Millionen ein.
Dementsprechend selbstverständlich schien es für seine Eltern zu sein, dass Harry das Geschäft übernahm – insbesondere, nachdem seine ältere Schwester Gemma direkt nach ihrem Schulabschluss das Weite gesucht und fernab der Heimat ein künstlerisches Studium begonnen hatte.
Wollte Harry die Branche übernehmen?
Nun ja. Nein. Aber auf der anderen Seite irgendwie doch.
Ich wusste es nicht so ganz und hegte die Befürchtung, dass Harry selbst es ebenso wenig wusste.
Das Verhältnis zwischen ihm und seinem Management-Studium war seit jeher eine Art Hassliebe gewesen. Einerseits beschwerte er sich über die hohen Erwartungen, über den Stress und all den Bullshit, der ihn eigentlich nicht interessierte. Andererseits legte er solch einen natürlichen Eifer an den Tag, dass es mir schwerfiel, ihm sein Desinteresse am Familiengeschäft wirklich abzunehmen.
Meiner Einschätzung nach war das Problem an der Sache, dass seine Eltern sein Engagement als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Sie sahen nicht, dass er seine Freizeit, sein Leben für das Geschäft opferte, wie verbissen er arbeitete und sich um tadellose Leistungen bemühte.
Der Klassiker: Ein Kind, das seine Eltern beeindrucken wollte und verzweifelt nach Anerkennung lechzte. Während die Eltern sämtliche Bemühungen als nichts Besonders hinnahmen.
Jedenfalls war es Harrys emsiger Mitarbeit zu verdanken, dass das neueste Styles-Hotel jetzt schon kurz vor der Eröffnung stand, und er hatte Louis und mich dazu eingeladen, uns vorab darin umzusehen. Er gab es nur ungern zu, aber ich wusste, wie stolz er darauf war, diesen Laden hier mitorganisiert zu haben.
„Denkst du, die Hotelbar ist schon bestückt?" Louis sah auf die Uhr. „Ein guter Whisky wäre jetzt nicht schlecht."
„Es ist gerade mal Mittag."
„Na, und?"
Ich verzichtete darauf, einen ausufernden Streit zu starten. Einerseits, weil ich für den Besuch bei Harry keine miese Stimmung riskieren wollte. Und andererseits, weil ein Großteil meiner Energie dafür draufging, mich Schritt für Schritt voranzuquälen. Obwohl ich heute Morgen die verschriebenen Schmerztabletten eingeworfen hatte, pochte es hinter meinen Schläfen unangenehm.
In der Notaufnahme, die wir noch in derselben Nacht aufgesucht hatten, hatte man eine leichte Gehirnerschütterung diagnostiziert, zusammen mit einem verstauchten Knöchel und ein paar Prellungen. Die Schnitte an Handfläche und Bauch sahen zwar übel aus und taten verdammt weh, waren aber nur oberflächlich und nicht sonderlich problematisch.
Das Ganze war nun zwei Tage her. Zwei Tage, die ich in der WG abgesessen hatte, um mich zu schonen. Louis hatte mich rührend mit Fast Food und irgendwelchen Küchenunfällen versorgt, aber ich war heilfroh darüber, jetzt wieder selbst auf den Beinen zu sein. Ich konnte es kaum erwarten, unsere nächste Expedition zu planen.
„Gib her." In seiner merkwürdigen Fürsorglichkeit entriss Louis mir meinen Rucksack, als ich mich mit der bandagierten Hand vergeblich damit abmühte, ihn mir über die Schulter zu werfen. „Du gehörst dich doch ins Krankenhaus."
„Danke, ebenso."
In der Geschwindigkeit des Rentnerpärchens vor uns überquerten wir eine grüne Fußgängerampel. Ich konnte förmlich riechen, wie Louis' Blick an dem Rollator hängenblieb, den der Mann vor sich herschob.
Prompt stieß er mich an. „Hey, Boss. Wie wär's mit nem Ferrari?"
Zähneknirschend hievte ich meinen geschienten Fuß über die Bordsteinkante. „Halt endlich deine Fresse."
Ein von Weitem gerufenes, fröhliches „Hiii!" unterbrach unsere aufkeimende Diskussion.
Harry tauchte hinter einem Bagger auf, gekleidet in Hemd, Krawatte und Anzughose, und walzte mit seinen überdimensional langen Beinen auf uns zu. Dabei strahlte er jeden Bauarbeiter an, der ihm begegnete, und tauschte einen Fist Bump mit einer Reinigungskraft aus, die eben einen vollen Müllsack in einen Container warf.
Der Typ war rundum beliebt. Freundlich, charismatisch, einfühlsam. Und noch dazu so verboten attraktiv, dass man ihn dafür eigentlich einsperren sollte. Mit seinen langen, schokoladenfarbenen Locken, den grünen Augen und den markanten und zugleich geschwungenen Gesichtszügen glich er einem verdammten Prinz Charming.
Ein Prinz Charming, der sich einen absoluten Vollpfosten als Partner auserkoren hatte.
„Hey, Babe." Selbstverständlich hatte er zunächst nur Augen für Louis. Sie tauschten einen Kuss aus, für den Louis sich auf die Zehenspitzen erheben und Harry sich ein wenig bücken musste. Einfach nur witzig. „Alles fit?"
Louis' Grinsen dürfte irgendwo weit unter der Gürtellinie anzusiedeln sein. „Wo? Im Schritt?"
Harry starrte ihn an, nach außen hin mürrisch und völlig unbeeindruckt, doch der verdächtig rosafarbene Schimmer auf seinen Wangen verriet ihn. Er stand auf Louis' schlechte, obszöne Witze, und wir alle wussten es.
„Gut." Er schob Louis von sich. „Ich weiß schon, warum ich dich nicht vermisst habe."
Louis zog eine Schnute. „Ey. Das ist nicht fair." Aufgebracht verfolgte er, wie sein Freund ihn umrundete und stattdessen mich in eine umso festere Umarmung zog. „Was willst du denn jetzt mit dem da? Außerdem musst du mit ihm heute aufpassen. Er ist aktuell ein bisschen labil."
Harry erstarrte, um mich dann ruckartig von sich zu schieben – und schien jetzt erst das eigentlich nicht zu übersehende Pflaster an meiner Stirn und die Handbandage zu bemerken. Binnen eines Wimpernschlags wandelte sich seine Mimik von belustigt und fröhlich zu besorgt und wütend. Vor allem wütend.
„Niall", begann er auch schon in scheltendem Tonfall. „Dann war dieser Blödsinn in eurem letzten Video also gar nicht gestellt? Und Louis, hast du ihn etwa herfahren lassen?"
Zur Abwechslung wirkte Louis aufrichtig zerknirscht. „Ich habe versucht, ihn davon abzuhalten."
Harry zog ein Gesicht, als hätte er uns am liebsten beide am Nacken gepackt und zu den Müllsäcken in den Container geworfen.
„Ich fasse es einfach nicht." Er hielt seine Stimme sorgfältig auf einem gemäßigten Niveau – sicherlich sollte niemand im Umkreis mitbekommen, dass er kurz vor einem Tobsuchtsanfall stand. Schon gar nicht die Presseleute, die sich dort drüben herumdrückten und nur darauf warteten, dass etwas Spannendes passierte. „Wann begreift ihr endlich, wie dumm das ist, was ihr da treibt? Irgendwann wird ernsthaft etwas passieren! Niall, ich hätte dir damals nie dabei helfen sollen, diesen beschissenen Kanal einzurichten."
„Nur nicht so fürsorglich." Peinlich berührt schob ich seine Hand weg, als er diese nach meinem Kopf ausstreckte. „Mir geht's blendend. Und ich war selbst schuld. Hab nicht aufgepasst."
Harry knirschte mit den Zähnen. „Will ich wissen, was genau passiert ist?"
„Nein."
„Er ist in ein leeres Springerbecken gefallen." Louis, dieser Pfosten, wusste einfach nicht, wann man besser den Rand hielt. „Aber zum Glück war noch so ein anderer Typ da, der verhindert hat, dass er stirbt." Er runzelte die Stirn. „Der Kerl hatte ein Maschinengewehr dabei."
„Was?!"
Louis wollte ungerührt fortfahren, als ihm etwas aufzugehen schien, denn im nächsten Moment nahmen seine Augen die Größe von Untertassen an. „Moment mal. Du ... du hast das Video gesehen?"
Harry Kiefer malmte. „Ja."
„Aber ..." Zum allerersten Mal in seinem Leben schien Louis ernsthaft erschrocken zu sein. „Aber ich dachte, du kannst dir den Kram nicht geben?"
Unwillkürlich zog ich den Kopf ein. Das hier würde ungemütlich werden.
„Möchte ich eigentlich auch nicht." Harry stierte erst Louis nieder, dann mich. „Eure Videos sind leider grundsätzlich in den Vorschlägen auf der Startseite. Und in meinem Instagram-Feed. Und auf TikTok und Twitter. Ich habe das Thumbnail gesehen."
Ich verzog das Gesicht, erwiderte aber nichts. Ich hatte schon geahnt, dass es eine dumme Entscheidung war, das zerschlagene Häufchen Elend meiner selbst, das im Wartebereich der Notaufnahme saß, als Titelbild des Videos zu wählen.
Aber unter den Zuschauern hatte es Wirkung gezeigt: Binnen Minuten hatte es mehr Views bekommen als all die Beiträge, die sich schon seit Wochen online befanden. Die Leute waren sensations- und dramalüstern. Sehr fragwürdig und makaber, für uns und unsere Klicks aber ein Segen.
„Ich dachte, das ist einer euer üblichen Clickbaits. Ich verstehe zwar nicht, warum die Leute immer wieder darauf hereinfallen, aber naja." Mein bester Freund fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht. „Niall, ich hoffe, dir ist bewusst, dass du bei einem solchen Sturz draufgehen hättest können?"
„Bin ich aber nicht."
Er schnaubte leise. „Das sehe ich. Und du?", wandte er sich an Louis. „Hast du noch irgendetwas hinzuzufügen?"
Louis zuckte lediglich die Achseln.
Einige Sekunden lang glotzten wir alle betreten zu Boden.
Irgendwann seufzte Harry. „Na schön. Gehen wir mal rein, bevor die Regionalzeitung nochmal auftaucht. Oder, noch viel schlimmer, irgendwelche vierzehnjährigen Mädchen, die Fotos mit euch wollen. Geht es bei dir?"
Trotzig reckte ich das Kinn. „Natürlich."
Trotzdem lag im nächsten Moment stützend Harrys Arm um meine Schultern. Der feine Stoff seines teuren Businesshemds wollte so gar nicht mit dem ausgefransten, verwaschenen T-Shirt zusammenpassen, das ich selbst trug.
„Bereit für eine Hoteltour?" In deutlich vergnügterer Stimmung geleitete er uns zur prunkvollen Flügeltür, über die man in die Lobby gelangte. „Ihr bekommt sie vom Hotelier höchstpersönlich."
Louis und ich tauschten einen Blick und nickten vorsichtig. Wenn Harry es jetzt plötzlich vorzog, unsere neueste Krise zu ignorieren, würden wir ihm den Gefallen tun und mitspielen.
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Tbh, bin ich mir selbst nicht so ganz sicher, was ich von dem Plot halten soll, aber here you go😂👀
Liebe Grüße und dankeschön fürs Lesen!💕
Andi❤
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