30) Erlösung
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Wirklich nicht. Vielleicht, dass meine Hand durch die der Seele hindurchglitt. Dass mich ein Kälteschock traf. Dass sie mir bei der Berührung binnen eines Wimpernschlags meine eigene Seele aus dem Körper saugte. Oder vielleicht auch, dass ich ganz einfach tot umfiel.
Nichts davon geschah.
Ich spürte die Hand. Sie fühlte sich warm an, weich und natürlich, als wäre es die eines lebenden Menschen.
Das blaue Leuchten der Schemen wurde heller, so hell, bis es den gesamten Kellerraum ausfüllte. Wie eine flimmernde Flutwelle spülte es über den Ritualkreis und seine Insassen hinweg, ließ auch die letzten Kerzenflammen erlöschen, die noch nicht von den Todesanbetern ausgepustet worden waren.
Doch aus irgendeinem Grund war es nicht bedrohlich. Da war keine Kälte, die mir endgültig das Blut in den Adern gefrieren ließ, keine Todesenergie, die mich dazu brachte, um mein eigenes Leben zu fürchten.
Im Gegenteil, schlagartig wurde es angenehm warm. Die Eisblumen auf meinem Glas verflüchtigten sich so schnell, wie sie gekommen waren, ließen die Oberfläche glitschig werden, und ich schaffte es nicht mehr, meinen Griff anzupassen. Das Glas entglitt meinen Fingern und ging zu Boden, wo es mit lautem Klirren in Scherben zerbarst, doch das Geräusch ging im Chaos um mich herum völlig unter.
Die übrigen blauen Schemen, die noch im Raum geflimmert hatten, scheinbar abwartend, was geschah, verflüchtigen sich urplötzlich, fast so, als hätte man sie fortgeschickt. Ich schaffte es nicht, den Blick abzuwenden, bis meine Augen so sehr brannten, dass ich sie schließen musste.
Eine Präsenz kroch an mich heran. Ich spürte, wie sie näherkam, wie warme Fingerspitzen meinen Oberarm berührten, dann meine Wange – und wie dann Lippen mit meiner Stirn in Kontakt kamen. Ein Kuss wurde darauf gedrückt, durchspülte mich mit wohliger Wärme, mit einer Ruhe und Behaglichkeit, wie ich es noch nie in meinem ganzen Leben verspürt hatte.
Ein Atemzug glitt über mein Gesicht hinweg. Er klang erleichtert und ... dankbar? Sofern ein Atemzug dankbar klingen konnte. Die Berührungen lösten sich auf, nahmen das Ruhegefühl mit sich, und dann war es vorbei.
Stille trat ein. Drückende, zugleich jedoch merkwürdig freie Stille, die von allen Seiten auf mich eindrang.
Es war vorbei.
Irritiert zwinkerte ich, blickte auf meine Hand hinab, die ich noch immer ausgestreckt hielt. Und dann erst, ganz langsam und unter höchster Anstrengung, begriff ich, was sich da eben ereignet hatte. Die Seele hatte mich berührt. Nein, zuerst hatte ich sie berührt, dann hatte sie mich geküsst. Ein Todeskuss im wahrsten Sinne des Wortes.
Und dann ... nun gut. Und dann war sie in einem warmen Wirbelwind entschwunden und hatte dabei ihre bösartigen Artgenossen vertrieben – und all den Lebenden hier drin vermutlich zum Fortbestand ihres Lebend-Status verholfen.
Die Seele hatte mich gerettet. Nachdem sie wiederum von mir berührt worden war und ...
„Keine Bewegung!"
Meine Überlegungen fanden ein jähes Ende, und im nächsten Moment war die Stille dahin, als erneut heilloses Chaos ausbrach, nun noch viel größer als das davor. Die vermummten Todesanbeter stürmten wie vom Blitz getroffen aus ihren Schutzkreisen, stießen Kerzen um und ließen Gläser fallen, brüllten einander an.
Irgendjemand rempelte mich an und ich taumelte rückwärts, konnte mich gerade noch davon abhalten, auf Wyatts bleiche Hand zu treten. Plötzlich war mir unfassbar schwindelig. Ich fühlte mich kraftlos, ausgezehrt, als hätte ich einen Marathon hingelegt oder stundenlang gekämpft, statt einfach nur hier zu stehen, Seelen anzufassen und abzuwarten, was passierte.
Desorientiert sah ich mich um, nahm zum ersten Mal den Kellerraum in Gänze zur Kenntnis. Der Boden war einigermaßen ebenmäßig und betoniert, die Wände hingegen waren kantig und felsig. Über meinem Kopf erstreckte sich graues, ebenso steinernes Gewölbe, das an den Durchgängen zu weiteren Räumen zu halbkreisförmigen Bögen zurechtgehauen worden war.
Und dort drüben, an der gegenüberliegenden Seite des Raums, führte eine abgetretene Steintreppe zu einer Holztür mit mächtigen Scharnieren hinauf. Vor Letzterer hatte sich jemand aufgebaut, eine etwas untersetzte Person, die an sich wohl nicht sonderlich bedrohlich gewirkt hätte – allerdings hielt sie eine Schusswaffe in der Hand, deren Lauf auf die Leute im Keller gerichtet war.
Was zum ...
Hektisch wirbelte ich in alle Richtungen, um zu verfolgen, wohin die Todesanbeter flohen. Wo wollten diese Aasgeier denn hin? Anstatt sich zu ergeben oder zumindest zu versuchen, durch den von der bewaffneten Person flankierten Ausgang zu kommen, stürmten sie allesamt durch den nächstbesten Durchgang, noch tiefer in den Keller hinein. Gab es unter dem Hotel ein ganzes Kellersystem? Wenn ja, dann besaß dieses garantiert auch einen zweiten und dritten Ausgang. Und diese Penner schienen sich hier drin bestens auszukennen.
Vermutlich sollte ich mich zusammenreißen und mich daran machen, wenigstens ein paar von ihnen von der Flucht abzuhalten, aber mir fehlte schlichtweg die Kraft. Irgendwann musste ich dem Schwindel nachgeben, ließ mich schwerfällig zu Boden sacken. Zwar erneut entsetzlich nahe von Wyatts Leichnam, aber ich war viel zu platt, um mir noch Gedanken darüber zu machen. Er war tot. Ich konnte nichts mehr für ihn tun, ebenso wenig irgendjemand anderes.
„Niall." Eine Hand landete auf meiner Schulter, sanft, aber nachdrücklich. „Wir sollten hier raus. Meine Kollegen beginnen sofort mit der Bereinigung."
Finger tanzten über meine Stirn, berührten dort etwas, und als ich es endlich schaffte, meinen Fokus zurückzugewinnen, gerieten tiefschwarzes Haar und kastanienbraune Augen in mein Blickfeld.
Zayn.
Zayn P-Malik, inzwischen ohne pinke Mütze, dafür aber mit einem seltenen Lächeln, war vor mir in die Hocke gegangen, lebendig und wohlauf. Die Wunde an seiner Schläfe wirkte erschreckend tief und ekelerregend zerfranst, und seine Gesichtszüge waren von Erschöpfung zerfurcht, aber er lebte. Da war alle, was zählte.
Meine Erleichterung erreichte ein absolutes Höchstmaß, und ehe ich wusste, wie mir geschah, begann meine Unterlippe schon zu beben. „Hi, Zayn."
Er zog die Augenbrauen hoch. „Hi, Fopp. Alles gut?"
Ich schniefte dramatisch. „Nein. Ja. Vielleicht. Keine Ahnung."
Zayn lachte leise. Seine Hand glitt von meiner Stirn und dann über meine Wange hinweg, ehe sie auf meinem Knie landete. „Ein aufschlussreiches Urteil."
Ich starrte ihn an, nahm die Art und Weise in mich auf, wie er mich von oben bis unten intensiv musterte. Diskret und zurückhaltend, aber unverkennbar besorgt, scheinbar auf der Suche nach Verletzungen. Und seine Augen waren so schön. So warm und so einladend und so braun.
Eine Mixtur seltsamster Emotionen schlug über mir zusammen. Ich fasste den Entschluss binnen einer Millisekunde, dann handelte mein Körper schon für mich – und im nächsten Moment hing ich einem verblüfft ächzenden Zayn P-Malik schon um den Hals, die Arme fest um seinen Nacken geschlungen, als wollte ich ihn nie wieder loslassen. Unwillkürlich nahm ich einen tiefen Atemzug, die Nase an seinem Haaransatz vergraben, sog die Mischung aus Shampoo, Deodorant und geräucherten Kräutern in mich auf.
Ich fühlte mich wohl bei ihm. Und ich mochte ihn. Es würde mir zwar schwerfallen, das jemals laut zuzugeben, aber ich mochte ihn. Eventuell sogar ein klitzekleines bisschen mehr, als gut für mich und mein Gefühlsleben wäre, wie ich mir zur zögerlich eingestand, aber egal.
Er lebte, ich lebte. Der Rest war scheißegal. Zumindest vorerst.
„Hey, Fopp." Zayns Tonfall klang amüsiert, aber keinesfalls genervt oder pikiert. Eher gerührt. Und als er dann seinerseits die Arme um meine Taille schlang und die Spontanumarmung erwiderte, fühlte ich mich endgültig darin bestärkt, ihn noch ein wenig länger festzuhalten. „Sicher, dass alles gut ist?"
Ich schnaubte in seine Schulter. „Ob alles gut ist? Ich dachte, du müsstest gleich sterben! Also frag mich nicht, ob alles gut ist!"
Daraufhin verfiel er für einige Momente in Schweigen.
„Aber jetzt ist doch alles gut", gab er dann zurück, seine Stimme nicht mehr als ein leises, beruhigendes Murmeln. „Ich bin nicht gestorben. Dank dir, wie man anmerken muss. Was auch immer du gemacht hast."
Ruckartig schob ich ihn von mir, behielt die Hände aber auf seinen Schultern, und fing seinen Blick auf. „Ich habe einer Seele die Hand geschüttelt."
Zayn nickte langsam. „Das ... habe ich gesehen. Und die Seele ist entschwunden. Du hast sie erlöst."
„Ja, aber ..." Ich suchte nach Worten. „Aber wie?"
Nachdenklich schürzte Zayn die Lippen, ließ aufmerksam den Blick über mein vermutlich enorm aufgelöstes Gesicht schweifen. „Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir sicher, wir können das herausfinden." Er reckte den Zeigefinger empor. „Sobald wir hier raus sind, damit meine Kollegen mit der Arbeit beginnen können."
Argwöhnisch spähte ich über seine Schulter hinweg, begriff, dass um uns herum schon wieder Höchstbetrieb herrschte – nun jedoch nicht in Form von vermummten Todesanbetern oder rachsüchtigen Seelen. Jetzt waren es ganz eindeutig Einsatzkräfte, die ihr Werk verrichteten. Emsig liefen sie umher, sammelten Materialen, schossen Fotos und riefen einander Befehle zu. Und allesamt hielten sie merkwürdige Gerätschaften in der Hand, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.
Und dann, als ich den Blick schon wieder abwenden wollte, blieb er im letzten Moment an einer Person hängen. Eine Person, die mir irgendwie bekannt vorkam – eine junge Frau mit weitem Karohemd und Baseballcap, unter der blonde Spitzen einer Kurzhaarfrisur hervorlugten. Ihre Augen hinter der runden Brille waren schwarzumrandet und ergänzten sich perfekt zu der schwarzen Farbe ihrer Lippen.
Prompt bemerkte sie, dass ich sie beobachtete, fing meinen Blick auf und zwinkerte mir zu.
Moment mal. Das war doch ...
„Das ist Jenny." Zayn grinste mich an. „Du hast sie kurz vor eurem Ausflug in den Friedhofswald kennengelernt. Sie hat sich als Fan ausgegeben." Er hielt inne. „Nein, sie hat sich nicht nur als solcher ausgegeben, sie ist wirklich ein Fan von euch. Aber noch dazu ist sie meine Partnerin im Fall der Todesanbeter. Ihre Begeisterung für dich ist wirklich verstörend. Noch dazu, wo sie überhaupt nicht auf Männer steht."
„Tja." Trotz allem musste ich glucksen, wenn auch eventuell ein wenig hysterisch. „Vielleicht feiert sie einfach mein Schwulsein."
Zayn bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick. „Vielleicht." Ehe ich noch etwas erwidern konnte, klatschte er in die Hände, ehe er nach meinen Armen griff, um mich mit sich auf die Beine zu ziehen. Ich war viel zu erledigt und außerdem viel zu überrumpelt, um mich zu widersetzen. „Raus hier."
Dagegen hatte ich absolut nichts einzuwenden.
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Das Kapitel ist nur nachlässig überarbeitet, falls also noch Typos drin sind, tut es mir leid🤐😅
Sieht ganz so aus, als hätte Fopp-Niall ein paar GANZ neue Kräfte im Ärmel, von denen auch Zaynie nix geahnt hat...👀😏
Dankeschön fürs Lesen & für eure Unterstützung!🥰
Liebe Grüße
Andi🌈
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