29) Beschwörung
Für einen entsetzlichen Moment lang verwandelte sich mein Kopf in ein Kinderkarussell, angetrieben von meinen wie wild rasenden, chaotischen Gedanken. Meine Befürchtung, was Zayn betraf, hatte sich bewahrheitet. Die Todesanbeter wollten ihn opfern. Ihn töten.
Wie sie auch schon Wyatt getötet hatten, der dort drüben an der Wand lag, zwar ohne äußerliche Verletzungen, dafür aber leichenblass und leblos, die Augen zu einem letzten, panischen Blick weit aufgerissen.
Niemals wollte ich erfahren, was er in diesen letzten Sekunden seines Lebens zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte nur hoffen, dass sein Tod schmerzlos gewesen war, der Prozess kurz.
Wie töteten Seelen überhaupt? Saugten sie den Lebenden das Leben aus dem Körper? Und wandelten die Getöteten anschließend ebenfalls als Seelen an ihrem Sterbeort?
Verdammte Scheiße. Ich wünschte, ich hätte Zayn mehr Fragen gestellt, als ich die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Und ... Zayn.
Richtig. Zayn.
Endlich zwang ich mich dazu, ihn richtig anzusehen, wie er so im Zentrum dieses grotesken Ritualkreises lag, vollkommen regungslos und leichenblass. Auf den ersten Blick wirkte er entsetzlich tot, und ich musste mir ein panisches Ächzen verkneifen, doch bei näherem Hinsehen registrierte ich erleichtert, dass sich seine Brust hob und senkte. An seiner Stirn prangte eine blutige Wunde, sein Kiefer war bläulich verfärbt, und da seine Haare an einer Stelle kurz über seinem Hinterkopf merkwürdig verklebt waren, ging ich davon aus, dass man ihn während eines Kampfes hinterrücks niedergeschlagen hatte. Ihre Betäubungspfeile schienen sie bei ihm nicht eingesetzt zu haben – oder aber er hatte es einfach geschafft, sich nicht treffen zu lassen. Zuzutrauen wäre es ihm.
Mein Puls raste.
Ich musste etwas tun. Irgendetwas.
Das Ritual stoppen, zum Beispiel. Natürlich besaß ich nicht den blassesten Schimmer darüber, wie ein Ritualkreis funktionierte, aber war es eventuell möglich, ihn zu zerstören und seine Wirkung zu brechen? Aber nutzte das überhaupt noch etwas, wenn die Seelen bereits beschworen worden waren.
Scheiße. Ich hätte Zayn wirklich besser ausfragen sollen.
Hilflos drehte ich mich in meinem persönlichen Eisensandkreis einmal um die eigene Achse, hielt fahrig nach etwas Ausschau, das sich als Waffe nutzen ließ. Vielleicht konnte ich eine Ablenkung schaffen. Oder ...
Zu spät. Ich hatte mich gerade mit grimmiger Entschlossenheit nach dem leeren Teelichtglas gebückt, das neben Wyatts Hand auf dem Boden lag, als es begann.
Das Flimmern.
Nach und nach manifestierte es sich zu hellblauen, feinen Umrisse, die sich nach und nach im Inneren des Ritualkreises zu sammeln begannen, unruhig flackernd, als hätten sie Schwierigkeiten, sich zu materialisieren.
Ich erstarrte in der Bewegung, halb wieder aus der Hocke erhoben und mit dem Glas in der Hand. Plötzlich schien die Pentagrammkette um meinen Nacken zu brennen, als wollte sie mit meiner Haut verschmelzen. Meine Finger zuckten in dem Drang, mir das Ding vom Hals zu reißen, doch ich zwang mich dazu, es nicht zu tun. Dafür hatte mir Zayn viel zu nachdrücklich eingetrichtert, dass diese blöde Kette ein Schutzschild gegen Seelen war.
Und außerdem ...
Kurz wurde mir schwarz vor Augen.
Und außerdem hatte Zayn mir noch eine weitere, wichtige Sache mitgeteilt. Damals, einen Tag nach der Eskalation im Krankenhaus, als wir völlig banal zusammen am Frühstückstisch gesessen hatten. Damals hatte ich mich danach erkundigt, ob man Seelen mit dem bloßen Auge sehen konnte.
Sichtbar werden sie erst bei einer Attacke, mit der Absicht zu töten, war sein Wortlaut gewesen. Blaue, flimmernde Umrisse. Aber ich bin sicher, die hast du ohnehin schon gesehen.
Blaue, flimmernde Umrisse.
Fast hätte ich vor Panik gewürgt, und trotz der eisigen Kälte, die hier unten herrschte, brach mir urplötzlich der Schweiß aus allen Poren.
Die Seelen waren bereits hier.
Mit der Absicht zu töten.
Zayn P-Malik war geliefert. Es gab nichts mehr, was ich tun konnte. Zumindest nicht, ohne dabei meinen eigenen Hals hinzuhalten.
Das Rauschen in meinen Ohren schwoll zu einem tobenden Sturm an, während sich mein Sichtfeld zu einem Tunnel verengte, einzig und allein auf Zayn fixiert, der bewusstlos und schutzlos auf diesem grotesken Opferaltar lag und nicht ahnte, dass er gleich eines übernatürlichen Todes sterben würde.
Ich bemerkte nicht einmal, dass ich handelte. Mein Gehirn fasste nicht einen einzigen Gedanken, bemühte sich nicht einmal darum, meinen Körper irgendwie zurückzuhalten oder auch nur einen Funken eines Selbsterhaltungstriebs aufzubringen.
Mit einem Schrei stürzte ich aus dem Schutzkreis, übertrieben dramatisch und bereit für einen Kampf, den ich nur verlieren konnte. Dabei stolperte ich zwar wie der letzte Trottel erst über meine eigenen Beine und dann noch lärmend über ein Kerzenglas, aber mein Auftritt zeigte trotzdem die erwünschte Wirkung.
Das vielstimmige Murmeln erstarb schlagartig, wich fassungslosem Wispern und unruhigem Scharren.
Ein Anflug von triumphierender Hysterie hätte mich um ein Haar dazu gebracht, lauthals zu lachen. Natürlich konnten diese Wichser nicht aus ihren Schutzkreisen treten, sofern sie nicht von ihren eigens beschworenen, blutrünstigen Seelen in Fetzen gerissen werden wollten. Metaphorisch gesprochen.
Im Prinzip konnten sie nur wie die letzten Idioten dort herumstehen und tatenlos mitverfolgen, wie ...
Nun ja.
Wie stattdessen ich von blutrünstigen Seelen in Fetzen gerissen wurde.
Was mir aus irgendeinem Grund erst bewusstwurde, als das blaue Flimmern für einen Moment erstarb – nur um den Bruchteil einer Sekunde später unmittelbar neben mir wieder aufzuflammen.
Ein Teil von mir juchzte vor Erleichterung. Erleichterung darüber, dass Zayn P-Malik nicht das zweite Opfer des Abends wurde und ich selbst nicht direkter Augenzeuge von seinem Tod. In diesem Augenblick schwor ich mir, mich bei der nächstbesten Gelegenheit bei ihm zu bedanken, für so ziemlich alles. So oft hatte er mir den Arsch gerettet, hatte mich vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt, und mir undankbarem Trottel war nichts anderes eingefallen, als ihm Vorwürfe zu machen.
Demnach: Erleichtert.
Der verbleibende Teil kreischte in den höchsten Tönen.
Mein Körper verfiel in Schreckstarre, die Hände halb erhoben, die Augen so weit aufgerissen, dass sie brannten. Mit einem Schlag sank die Temperatur noch um ein paar Grade, hüllte mich in klirrende Kälte, und ich glaubte förmlich zu hören, wie sich auf der Wand hinter mir knirschendes Eis ausbreitete. Mein hektischer, unregelmäßiger Atem sandte stoßweise Wölkchen in die dämmrige Luft des Kellers, auf dem Teelichtglas in meiner Hand krochen Eisblumen empor. Binnen Sekunden waren meine Fingerspitzen wie betäubt.
Ich konnte nichts tun. Meine Augenlider flatterten, und ehe ich darüber nachdenken konnte, hatten sie sich schon geschlossen. Die Bilder. Ich wartete auf die Bilder. Auf das Dröhnen und Surren in meinen Ohren, das Pochen hinter meinen Schläfen, mit dem sich ankündigte, dass man mich gleich wieder als unfreiwilliges Kommunikationsmedium nutzen würde. Bisher hatte immerhin noch keine Seele eine Gelegenheit ausgelassen, mir ihre Lebens- oder besser gesagt ihre Todesgeschichte unter die Nase zu reiben. Und hier dürften genug von diesen Kreaturen herumschwirren, nachdem sie vorhin von den Todesanbetern heraufbeschworen worden waren.
Doch nichts geschah.
Es blieb ruhig um mich herum – ein absurder Kontrast zu dem Sturm, der in mir tobte –, und schließlich wagte ich es, ein Auge wieder halb zu öffnen und taumelte prompt rückwärts, einen entsetzten Aufschrei irgendwo in meiner Kehle erstickt.
Das blaue Flimmern hatte sich zu einem klaren Umriss geformt. Nicht so klar, um einzelne Facetten oder gar Gesichtszüge auszumachen, aber klar genug, um zu begreifen, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelte. Arme, Beine, ein Kopf mit Haaren, leuchtende Augen, Hände, die sich nun nach mir ausstreckten.
Horror schnürte mir die Kehle zu.
Ich wusste, dass ich die Beine in die Hand nehmen und laufen sollte. Scheißegal, ob mir eine Flucht irgendetwas nutzen würde.
Aber ich tat es nicht.
Ich verharrte an Ort und Stelle, presste die kalten, spröden Lippen aufeinander und schaffte es nicht, den Blick von der Seele vor mir abzuwenden. Ihre Augen. Ich sah ihre Augen. Natürlich waren sie nicht mehr als diffus glühende Leuchtpunkte, so blau wie der Rest der Silhouette, aber aus irgendeinem Grund ging eine derartige Macht von ihnen aus, dass mir der Atem stockte. Macht und ... Gefühl.
Eine Bitte.
Plötzlich schmeckte ich Blut, meine Zähne hatten die feine Haut meiner Unterlippe durchbrochen.
Noch immer waberte die schemenhafte Hand vor mir, hatte einige Zentimeter vor meinem Körper haltgemacht, als wartete sie auf etwas. Als wartete sie darauf, dass ich sie ergriff.
Stimmen wurden laut, schwollen zu Gebrüll an. Flüche schallten durch den Raum, prallten von den kahlen Felswänden ab, Gläser wurden zerbrochen und Kerzen ausgeblasen. Die Todesanbeter schienen zu dem Schluss gekommen zu sein, nun eingreifen zu müssen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie jemand wagemutig über seinen Schutzkreis hinweg nach etwas griff, das verdächtig wie ein Maschinengewehr aussah. Wie das Ding, das Zayn bei unserer allerersten Begegnung im Schwimmbad bei sich getragen hatte. Ein Flammenwerfer.
Wollte dieser Armleuchter wirklich in einem Keller ohne Fenster oder jeglichen Luftzug einen Flammenwerfer zücken? Wollte er uns räuchern und dann direkt rösten?
Offensichtlich.
Ich fokussierte mich wieder auf die Hand vor mir, kämpfte verbissen mit mir, und dann würde der Drang schließlich übermächtig.
Ich hörte nur noch, wie irgendjemand etwas schrie, jemand mit einer sehr bekannten Stimme, dann hatte ich schon nach der mir angebotenen Hand gegriffen.
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Ein bisschen ✨Drama✨
Irgendwelche Ideen, was Niall gerade bewerkstelligt hat?👀😏
Dankeschön fürs Lesen, für die Sternchen und die Kommis!🥰💕
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