15) Probleme mit dem Tod
Fröstelnd schlang ich mir meine Lederjacke fester um den Körper, als ich in der Nähe des Hotels aus dem Bus stieg. Eigentlich hatte ich schon eine Stunde früher da sein wollen, aber unser Dozent hatte die letzte Vorlesung so weit überzogen, dass mir der Bus vor der Nase davongefahren war.
Nun ja. Was sollte man machen.
Wie immer fühlte ich mich unwohl, als ich schnellen Schrittes den Häuserblock umrundete. Eigentlich vollkommen banal. Ich hatte kein Problem damit, mich mitten in der Nacht in verfluchten, sagenumwobenen Lost Places herumzutreiben, aber ich machte mir in die Hose, wenn ich allein durch die dunklen Straßen der Stadt laufen musste.
Prompt zuckte ich zusammen, als irgendwo hinter mir etwas knirschte, und beschleunigte frustriert meine Schritte. Es gab jetzt andere Probleme als meine verdammte Paranoia. Harry wartete bestimmt schon auf mich.
Verstohlen drückte ich mich durch den Personaleingang, dessen Zugangscode Harry mir noch geschickt hatte. Es war der kürzeste Weg zu seinem Büro, ohne dabei zig Leuten in die Arme zu laufen, die mich für einen Einbrecher halten würde. Zielstrebig durchquerte ich den Gang, ließ die Personalumkleiden hinter mir und schlug dann eine Linkskurve ein, nach der Harrys Büro folgte. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, anzuklopfen, sondern platzte einfach hinein.
„Hey, Haz. Sorry, ich bin zu sp-..." Ernüchtert brach ich ab, als ich nicht nur Harry, sondern auch Louis auf der Couch entdeckte, ihre Hände an den fragwürdigsten Stellen, an denen man sie sich vorstellen konnte. „Leute. Ernsthaft?"
Harry besaß wenigstens den Anstand, verlegen auszusehen, während er sich von Louis herabschälte und eilig sein Hemd in den Hosenbund zurückschob.
„Hey, Ni." Seine Wagen waren gerötet, und ich konnte nicht so recht einschätzen, ob vor Verlegenheit oder wegen seiner Knutscheinheit mit Louis. Vermutlich eine Mischung aus beiden. „Wir ... äh ... dachten, du kommst nicht mehr."
Endlich trat ich ein und verschloss die Tür hinter mir. „Ich hab dir doch noch geschrieben." Ich deutete seinen hilflosen Gesichtsausdruck richtig und seufzte. „Du hast nicht aufs Handy gesehen. Logisch. Alles klar."
Wenigstens wusste ich jetzt, warum von ihm keine Antwort gekommen war. Umso weniger wollte ich jedoch wissen, womit ich konfrontiert worden wäre, wäre ich auch nur fünf Minuten später eingetroffen. Igitt. Ich konnte mir lebhaft bessere Dinge vorstellen, als zwei meiner engsten Freunde beim Sex zu erwischen. Diese Bild würde sich auf ewig in mein Gedächtnis einbrennen.
„Niall, mein einziger Lieblingsmitbewohner!" Louis, noch immer mit völlig verstrubbeltem Haar und halb emporgeschobenem Shirt, grinste mich von der Couch aus an, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet. An seinem Schlüsselbein prangte ein auffälliger Knutschfleck. „Hättest du nicht eine halbe Stunde später kommen können?"
„Nein." Ungerührt warf ich meinen Rucksack auf seinen Bauch und weidete mich an seinem Quieken. „Ihr seid solche Schweine. Jeder hätte euch erwischen können."
„Falsch", gab Louis schlagfertig zurück. „Nur du. Jeder andere hätte angeklopft, wie es gesittete Zivilisten normalerweise so tun."
Ausgerechnet er wollte mich über gesittete Zivilisten aufklären.
„Ach, halt doch den Rand."
Harry mustere mich abschätzend. Er wirkte definitiv um einiges gefasster, als er sich heute Morgen am Telefon noch angehört hatte. „Alles klar bei dir, Ni?"
Ich starrte ihn an. „Das fragst du mich?"
„Ja." Er zuckte die Achseln. „Du siehst aus, als hättest du eine Gespensterjagd hinter dir."
Louis prustete in den Kragen seines Arbeitsshirts, und ich sah mich dazu gezwungen, ihn mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen zu bringen. Er war bislang der Einzige, der von meinen übernatürlichen, Zayn-haften Begebenheiten wusste, und das sollte vorerst auch so bleiben. Jedenfalls so lange, bis ich mir selbst einen Reim daraus gemacht hatte.
„Alles gut." Unaufgefordert ließ ich mich in Harrys Chefsessel fallen. „Du weißt doch. Ich hasse es, nachts durch die Stadt zu rennen. Was ist bei dir denn jetzt so los? Ich musste den ganzen Tag lang an dich denken."
„Muss ich eifersüchtig werden?", tönte Louis dazwischen, und ich zeigte ihm nur den Mittelfinger. Ich mochte den Kerl wirklich gerne, aber manchmal wusste er einfach nicht, wann er seinen Rand halten sollte.
Harry lehnte sich neben mich an den Schreibtisch und jetzt, aus nächster Nähe, war seine tiefsitzende Erschöpfung nicht mehr zu übersehen. Die dunklen Ringe unter seinen eingefallenen, müden Augen, die blassen Wangen, die stark hervortretenden Äderchen um seine Iriden, seine hinabgesunkenen Schultern. Er war völlig fertig.
„Unverändert, denke ich." Ungelenk schob er die Lockenpracht auf seinem Kopf zurecht. „Die Polizei hat den ganzen Tag damit verbracht, den Tatort abzusichern und das Gebäude nach möglichen Spuren zu überprüfen. Gesagt hat man uns noch nichts. Ich schätze, sie brauchen erst eine Weile, um das Material zu untersuchen."
Ich nickte zögerlich. „Was genau ist denn nun eigentlich passiert? Wenn du die Story nicht nochmal erzählen möchtest, ist das völlig in Ordnung."
„Kein Ding." Harry schenkte mir ein kleines Lächeln. „Der Typ lag heute Morgen tot unten an der Kellertreppe. Jemand vom Reinigungspersonal ist wortwörtlich über ihn gestolpert. Zuerst dachten wir, er ist einfach unglücklich auf der Treppe gestürzt, aber dann haben wir die Kameraaufzeichnungen gefilzt. Direkt auf der Treppe und im Keller gibt es leider keine Überwachung, dafür aber im Gang darüber. Es war ... seltsam. Der Typ kam die Treppe herauf, ohne sie zuvor hinuntergegangen zu sein, vollkommen außer Atem, als hätte er einen Sprint hingelegt. Er hat sich umgesehen und ist dann in Richtung Aufzug davon. Drei Minuten später ist er wiedergekommen, hat sich einige Zeit lang in der Nische neben der Kellertreppe versteckt, hat dann irgendetwas im Gang gesehen und ist dann geflohen. In den Keller. Danach ist er auf keiner Aufzeichnung mehr zu finden, also geht man davon aus, dass der Tod bald danach eingetreten sein muss. Ohne dass er den Keller zwischendurch noch einmal verlassen hat. Keine Ahnung, was dort unten passiert ist, aber offenbar wurde er verfolgt."
Sein sachlicher, gefasster Tonfall beeindruckte mich, aber vermutlich hatte er diese Geschichte heute schon oft genug erzählt, um eine gewisse Routine zu bekommen. Bestürzt biss ich die Zähne zusammen. Für niemanden sollte es zur Routine werden, einen Todeshergang zu beschreiben. Es sei denn, man arbeitete als Kriminalkommissar oder ähnliches, und selbst dann war und blieb es fürchterlich.
„Tja." Harry befeuchtete sich die Lippen. „Und mehr gibt es eigentlich nicht zu berichten. Noch nicht. Ich habe Angst vor den Ergebnissen der Untersuchung, um ehrlich zu sein. Und vor der Tatsache, dass sich eventuell ein Mörder unter unseren Gästen oder im Personal herumtreibt, der nochmal zuschlagen könnte."
„Oh Gott." Bei der Vorstellung überkam es mich eiskalt. „Fuck."
„Ja." Harry senkte den Blick auf seine blitzblank polierten Businessschuhe hinab, deren Spitzen unter der eleganten, weiten Hose hervorragten. „Fuck."
Einige Momente lang senkte sich angespanntes, nervenaufreibendes Schweigen über uns.
„Fährst du jetzt heim?", fragte ich ihn dann. „Sorry, Mann, aber es tut dir ganz sicher nicht gut, noch länger hier herumzuhängen."
„Ich weiß." Ächzend stieß er sich vom Schreibtisch ab. „Außerdem will ich das auch gar nicht. Niemand fühlt sich hier wohl. Kim an den Überwachungsmonitoren kriegt heute Nacht sogar Polizeischutz, weil sie sich ansonsten vermutlich geweigert hätte, ihren Dienst zu schieben. Verständlich. Ich selbst hätte es auch nicht machen wollen."
„Genug gehört." Louis, der sich das Gespräch über in Schweigen gehüllt hatte, erhob sich nun und klatschte in die Hände. „Harry, willst du mit zu uns kommen?"
Harry zögerte und ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. Harry bewohnte eine große, sehr stilvolle Wohnung nicht weitab von hier. Allein. Ich bezweifelte, dass es ihm guttun würde, jetzt allein mit seinen schrecklichen Gedanken zu sein und sich mit Albträumen herumzuquälen.
„Schon beschlossen, du kommst mit uns." Entschieden schlang ich ihm einen Arm um den Nacken, wobei ich mich wie üblich auf die Zehenspitzen stellen musste. Dieser Kerl war schlichtweg riesig. Keine Ahnung, wie Louis es schaffte, ihn zu küssen, ohne sich regelmäßig alles auszurenken. „Brauchst du noch was aus deiner Wohnung? Dann fahren wir da noch vorbei."
Harry, offensichtlich gerührt von unseren Bemühungen, lächelte. „Wenn es euch nichts ausmacht?"
„Nope." Louis hopste zur Tür. „Du schläfst bei mir. In meinem Bett."
Ich fasste mir an die Stirn. „Nein!"
„Doch." Louis riss die Tür auf – und machte dann ohne jegliche Vorwarnung einen so großen Satz rückwärts, dass er mich beinahe in den Mülleimer gestoßen hätte. „Was zum Fick!"
Harry warf einen Blick über seine Schulter. „Auch das noch."
„Harold." Louis' Fingerspitzen zuckten, als wollte er etwas ergreifen und werfen. „Sag bloß, bei euch ist es normal, dass tote Ratten im Flur liegen?"
Tote Ratten?
Eher interessiert als beunruhigt trat ich neben Harry an die Tür. Louis hatte nicht zu viel versprochen – da lag eine Ratte auf dem Gang, mehr oder weniger direkt vor der Tür. Reglos und mit blutigen Augen und verklebtem Fell und sehr, sehr tot.
„Ah."
Harry brummte unzufrieden. „Wir vermuten, dass die Viecher irgendwo im Hinterhof ihr Nest haben und durch ein Kellerrohr reinkommen. Der Hausmeister sorgt dafür, dass überall unauffällige Köder liegen, deshalb stolpert man in diesem Bereich hier jetzt immer wieder über Rattenleichen. Echt ekelhaft, aber keine Sorge, die Gästezimmer und der Restaurantbereich sind abgesichert."
„Trotzdem widerlich." Louis verzog das Gesicht. „Und was habt ihr hier noch so für Probleme, die allesamt mit dem..."
Hektisch brach er ab, und Harry war glücklicherweise schon damit beschäftigt, eine Nachricht aufzugeben, doch ich wusste, was Louis auf der Zunge lag.
Probleme, die allesamt mit dem Tod zu tun haben.
In Harrys protzigem Wagen machten wir uns auf dem Heimweg. Zu dritt und im Schutz voneinander, und trotzdem war da wieder dieses seltsame Gefühl. Dieses Rumoren in meinem Magen und das Kribbeln in meinem Nacken, als läge jemandes bohrender, bedrohlicher Blick auf mir, doch als ich mich verstohlen umsah, war da niemand. Ich wurde einfach diesen schrecklichen Verdacht nicht los, dass sich irgendjemand an meine Fersen geheftet hatte.
Oder irgendetwas.
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Mit diesem unheilvollen Kapitelabschluss wünsche ich allen hier einen guten Rutsch ins neue Jahr🥰🎉🎇
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