80. Kapitel
Die Nacht dauerte an. Niemand anderes als Linda war eingeteilt worden, die Wache zu übernehmen, und zwar bis zum Morgengrauen. Noch mehr Zeit, in der sie ihre Gedanken hin- und herwarf und am liebsten alles hingeschmissen hätte.
Lange Zeit geschah nichts von Interesse, die Seestädter schliefen sicherlich alle, Wolken zogen am Himmel vorbei und der Mond wanderte. Das Mädchen ging auf und ab und prägte sich die genaue Länge der Steinmauer ein. Ihr Blick wanderte über die Felder und Wiesen direkt vor Erebor. Das fahle Licht streifte die verfallenen Fassaden der Stadtmauer.
Wie aus dem Nichts tauchten seltsame Gestalten am Hang oberhalb der Menschenstadt auf. Im Sternenlicht und Schein der Fackeln schimmerten diese Dinge seltsam golden, oder war es vielmehr ein Etwas? Es bewegte sich rhythmisch, gleichmäßig und doch leise auf Thal zu, fast wie ein Roboter.
In Lindas müden Gehirn machte es klick. Der Elbenkönig war auch angekommen.
Thranduil der Waldlandreichherrscher hielt es für eine grandiose Idee, seinen persönlichen Zwist mit Thorin (stellvertretend für alle Zwerge) durch Waffengewalt auszutragen. Oder er konnte es einfach nicht leiden, wenn Gefangene ausbrachen. Oder, so dachte das verausgabte Fangirl, der Elb wollte Bard seine Wertschätzung zeigen, indem er die Menschen vor dem Verhungern rettete.
Natürlich waren diese Umschreibungen der akuten Situation nicht das, was sie ihrem Anführer erzählte. Dass das Mädchen selbst diese Nachricht überbrachte, erhöhte ihre Sympathiepunkte bei Thorin nicht wirklich. Es hatte auch nicht auf ihrer To-Do-Liste gestanden, ihn mitten in der Nacht aus seinen Goldträumen aufzuwecken.
Der König schlief nicht, nein, er wanderte herum in seinem Schatz und redete vor sich hin. Im Wahn der Drachenkrankheit benötigte er keinen Schlaf. Lediglich die Münzen, die Juwelen, die unendlich wertvollen Schmuckstücke brauchte er.
Sobald die Sonne über die Hügel strich, endete Lindas Schicht. Endlich. Doch anstelle eines Frühstücks (oder wohlverdienten Schlafs) kommandierte der Anführer sie alle in eine der vielen Waffenkammern ab. Die Abenteurerin war schon über mindestens ein halbes Duzend gestolpert, während sie im Erebor herumgeirrt war.
Wen wunderte es, die junge Frau war eine der letzten, die auftauchten. Der Raum war merkwürdigerweise gut erhalten, an wenigen der Waffen sah sie eine Spur von Rost oder Verfall. Vielleicht lag es aber auch an der Schmiedekunst der Zwerge.
Es gab Schwerter, Dolche, Äxte, alles, was ein Kriegerherz begehrte– und Rüstung. Große, zentnerschwere Ganzkörperverpackungen, die einen Zwerg wie einen schwerbepackten Panzer aussehen ließen. Unzählige Kettenhemden in jeder vorhandenen Größe und Form.
Alles aufgereiht auf deckenhohen Regalen, und das in einem Zimmer, das sich in jede Richtung weit, weit erstreckte. Obwohl dieses gegenüber der Schatzkammer natürlich nur eine Abstellkammer war.
Bilbo und Thorin kamen an, und mit einem Nicken ihres Anführers durften sie die Schmiedekunstwerke aus der Nähe bestaunen. Er hatte bereits seine neueste Ausrüstung an.
Freundlicherweise sprach Ori die überforderte Linda an. „Wir sollen uns neue Gerätschaften besorgen, weil wir keine Waffen mehr haben. Sieh dich ruhig um und probiere aus, was dir gefällt. Eine leichte Rüstung ist natürlich auch mitinbegriffen."
Sie flüsterte ein Dankeschön zurück.
Natürlich, die schweren Schutzhelme glaubten alle nicht benutzen zu müssen. Wenngleich der Aufmarsch einer feindlichen Armee ein... Signal war. Also streifte sie durch die Reihen.
Die Äxte und stachelbesetzten Keulen ließ sie schnell zurück, dann kamen die Schwerter in jeder möglichen Größe. Lange und schwere wollte sie garantiert nicht nehmen, und zu kurz wäre auch schlecht. Eigentlich hatte sie ja ein Schwert. Nur hing es gerade hoffentlich an Gandalfs Seite, der irgendwo herumritt.
Linda bestaunte die Fertigkeiten der Schmiede; diese Details und die unfassbare Genauigkeit! Sie glaubte kaum, dass nur Zwerge diese Wunderwerke hier geschaffen hatten. Einige Sachen sahen doch elbischen Klingen zu ähnlich. Jene wurden von ihren Freunden durchgehend gemieden, sie ließ auch davon ab. Sie hatte keine Lust, Thorin noch mehr zu provozieren.
Mit der Auswahl einer langen oder auch kurzen Klinge wartete sie noch ein wenig, zunächst suchte die Abenteurerin das Regal mit den Dolchen auf. Wurfsterne, Wurfäxte, alles war hier versammelt. Sie aber suchte kleine, scharfe Messer, die für den Notfall gedacht waren.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Balin sie zu sich winkte. Der alte Zwerg beugte sich über eine verstaubte Küste von Leinenhemden.
„Du brauchst mindestens ein neues, das hier hast du doch seit Bilbos Höhle nicht ausgezogen", merkte er an.
Sie schaute an sich herab. Die ehemals weiße Bluse zeigte deutliche Gebrauchsspuren, Risse, die sie versucht hatte zu flicken, Brand- und Blutflecken.
„Ich fürchte da hast du recht. Danke." Sie drückte die Kleidungsstücke an sich, die er ihr über den Arm legte. Die junge Frau lächelte nochmals und wollte bereits verschwinden, als er ihr eine Hand auflegte.
„Unter uns gesagt, nur mit diesem Korsett wirst du nicht weit kommen", stellte er mit gedämpfter Stimme fest. „Du brauchst auf jeden Fall ein Kettenhemd, und vielleicht noch ein Hemd darüber. Wenn wir wirklich da rausgehen, auch Helm und Nackenschutz. Und lederne Armschienen, vielleicht auch für die Beine. Dolche sind gut, doch du hast immer mit einem Schwert gekämpft, oder?"
Sie nickte und wollte etwas sagen, aber er sprach schon weiter.
„Dann nimm dir eins. Nimm dir so viel, wie du tragen kannst, wir treffen uns in der großen Eingangshalle und schärfen die Waffen. Thorin will, dass wir vorbereitet sind für den Kampf." Er sah sie traurig an.
„Bist du dir sicher, dass ich all das brauche? Ein Kettenhemd?", flüsterte Linda. „Ich war noch nie in einer Schlacht, geschweige denn habe ich kämpfen gelernt", fügte sie noch leiser hinzu.
„Ja, mein Kind, genau deswegen", sagte Balin mitleidig. Seine Augen waren voller Bedauern. Er klopfte ihr auf die Schulter und ging davon.
Irritiert blickte die junge Frau dem erfahrenen Berater hinterher. Er war nicht überrascht ob ihrer Unreife, war nicht entrüstet, dass sie niemanden etwas davon verraten hatte. Vielmehr lag ein tiefer, nicht zu greifender Schmerz in seiner Stimme, in seinen Augen.
Sie hielt inne. Natürlich. Die Abenteurerin erinnerte sich wieder an die Bilder von Azanulbizar. Wie Thorin portraitiert wurde, wie er gegen Azog kämpfte (alles anders als im Buch). Doch vor allem war ihr wieder eingefallen, wie viele Zwerge dort gefallen waren. Unter ihnen: Fundin, Vater von Balin und Dwalin.
Der weißhaarige Zwerg wusste, wovon er redete, wenn er „Schlacht" sagte. Und seine Furcht davor verhieß der blutjungen, kriegsneuen Frau nichts Gutes.
Das kurze Aufeinandertreffen mit dem erfahrenen Krieger hatte etwas mit Linda gemacht. Es ging nicht um ihre Aufgabe oder irgendetwas von höchster Wichtigkeit; hier ging es zuerst einmal um eine Schlacht. Sie war dabei, in eine Schlacht zu ziehen.
Und nach einem solchen Blutbad war man nie mehr man selbst. Solch eine Erfahrung veränderte einen.
Bilbos „Der Hobbit" zeigte es, Frodos Buch ebenfalls, Krieg hinterlässt Narben, die nicht verheilen. Was auch immer sie tun würde, dem Kampf würde sie nicht entkommen. Wer wusste schon, ob Linda überlebte?
Es könnte ja auch ein verirrter Ork ihr das Schwert in die Seite rammen, ehe sie in irgendeine Nähe des Rabenberges gekommen war. Sie könnte schwer verwundet ihre letzten Stunden auf den Anhöhen vor Erebor verbringen, weil niemand sie fand. Sie könnte in ein tiefes Fieber fallen und nie wieder erwachen.
Das Mädchen sah sich verstohlen um. Niemand hatte bemerkt, wie sehr sie von ihren eigenen Gedanken überrascht worden war. Sie atmete tief durch und besann sich auf das Wesentliche.
Ein Schwert finden. Ein tolles, wenn möglich.
Linda durchstöberte die Unmengen an Schwertern. Ab und zu nahm sie eins heraus, um das Gewicht zu testen. Viele waren einfach zu schwer. Manche lagen komisch in der Hand und wieder andere waren wohl eher zum Schmuck als zum Kämpfen gedacht.
Sie grübelte über ein Exemplar mit einem Ledergriff, während neben ihr Kili fachmännisch die Klingen betrachtete. Doch anscheinend war das gar nicht der Grund, warum er hier war. Denn er zischte halblaut etwas zu, was sie nicht verstand.
„Was?", wisperte sie zurück.
„Warum hast du Thorin gestern so provoziert?", fragte der Braunhaarige etwas lauter.
Linda schaute ihn verwundert an. „Er hat sinnlose Vorhaltungen gemacht, dann habe ich ihm geantwortet."
Der Zwerg verdrehte genervt die Augen. „Technisch ja, aber dein Sarkasmus war nicht zu überhören. Linda, ich bin doch nicht blöd. Lass ihn doch einfach in Ruhe." Er nahm ein Schwert mit vielen Verzierungen in die Hand, als würde er überlegen, es zu verwenden.
Da hörte die junge Frau wohl nicht richtig. „Du willst von mir, dass Thorin mich herumkommandieren und heruntermachen darf und ich dabei nicht widerspreche?", sagte sie langsam.
Kíli nickte unauffällig.
Linda sah ihn durchdringlich an. Sie kümmerte kaum, was die anderen dabei wohl dachten. „Das werde ich ganz sicher nicht tun."
„Aber-"
„Nein!", zischte sie. „Mir ist es egal, was du über seinen Geisteszustand denkst. Er ist immer noch erwachsen und sollte mit Kritik umgehen können!"
Der Bogenschütze seufzte. „Das glaubst du doch selbst nicht", meinte er traurig.
Mit einem vielsagenden Blick ging er fort und ließ eine Linda zurück, die genauso viel wusste wie zuvor. Sie brauchte dringend Schlaf.
1420 Wörter, 21.07.2022
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