8. Kapitel
Fíli sprach erneut als Erster wieder: „Und wenn nur Menschen, dann nur Menschen wie du oder welche anderen? Und wie viele?"
Gut, das war... problematisch. Wie auch schon zuvor ordnete Linda in einer längeren Pause ihre Gedanken, um alles möglichst richtig und einfach zu erläutern. Die beiden schienen dies zu verstehen, sie sahen sie zwar erwartend an, sprachen dennoch nicht, was angesichts der Ungeduld der Zwerge sehr lobenswert war. Sie wussten ja nicht, dass das gesamte Gewicht der Geschichte von den Kreuzzügen über Kolonialismus bis hin zum Holocaust auf ihr lastete.
Schließlich fuhr das Mädchen fort: „Es gibt verschiedene Menschen, ja. Wir unterscheiden uns in Sprache, Kultur und teilweise im Aussehen. Aber das ist nicht so wie mit den Dúnedain, alle leben gleich lang und alle sind auch gewissermaßen gleich viel wert."
Zögerlich ob der komplizierten Angelegenheit meinte sie: „Im Allgemeinen ist es so, dass alle... gleich viel wert sind. Egal, wie man aussieht, egal, woher man kommt, ob Frau, ob Mann, egal wie alt, alle sind gleich viel wert."
Kíli und Fíli sahen sie zutiefst erstaunt an.
„Das Ganze... manche in Vergangenheit und Gegenwart sehen das nicht so, aber da, wo ich herkomme, aus diesem Land, aus dieser Zeit, da... ist das, was ich euch erklärt habe... richtig. Ein Gesetz. Ein Grundsatz unseres Zusammenlebens."
Eine ganze Weile saßen sie schweigend da. Die Zwergenprinzen versuchten, alles zu begreifen und in ihren Mittelerdeblick einzuordnen.
„Und... warum?", fragte Kíli schließlich.
„Du kannst nichts dafür, wer du bist, woher du kommst und wie du aussiehst. Ein Mensch ist wie der andere, so wie sich die Blätter eines Baumes voneinander unterscheiden und doch alle gleich viel wert sind."
Wieder Stille. Fíli hatte noch eine Nachfrage: „Und... wie ist es mit eurem König? Ist sein Leben nicht mehr wert als das der anderen?"
Erfreut registrierte Linda seinen Ersuch. Er hatte eindeutig mitgedacht! Aber wie sollte sie ihnen das erklären? Sie holte tief Luft und gab zu: „Es gibt keinen König."
Verblüfft wurde sie angestarrt. „Wie dann?", stammelte der jüngere Zwerg fassungslos, doch das Mädchen verstand: „Ich werde es euch noch erklären, aber das wäre noch mal echt viel und sehr kompliziert. Seid mir nicht böse, doch ich muss euch auf morgen vertrösten." Beide lächelten sie an und nickten, waren jedoch innerlich weit weg. Immerhin wurde gerade ihre gesamte Welt auf den Kopf gestellt.
Einige Zeit später, in der Linda nur vor sich hin gegrübelt hatte (besonders über die Erde), stand Kíli auf. Überrascht sah das Mädchen, dass sie nun die Letzten in diesem Raum waren. Sie folgte ihm, und bei seinem Betreten des von einem Kamin beheiztes Zimmers erkannte sie die Szene sofort.
Um niemanden zu stören, lehnte sie sich im Dunkel des Zimmers an eine Wand. Die junge Frau wagte kaum zu atmen - ja, ihr bedeutete dieses Lied viel. Es live mitzuerleben, kam ihr unwirklich vor. War sie wirklich in Mittelerde? Sie konnte es immer noch nicht glauben.
„Über die Nebelberge weit."
Thorins Blick war auf das Feuer gerichtet, doch sicherlich sah er in ihm alte Erinnerungen. Ferne Taten und Geschehenes, es minderte nicht ihre Intensität.
„Zu Höhlen tief aus alter Zeit."
Nicht nur der Zwergenkönig, nein, alle schienen in Erinnerungen und Erzählungen versunken. In vielen, vielen Geschichten, wahr oder erdacht, gut geendet und nicht.
„Da ziehn' wir hin, da lockt Gewinn."
Im Zwielicht der Kerzen und des Kamins erblickte Linda die Sehnsucht in den Augen der Zwerge. Ein inneres Drängen erfüllte sie. Ein unablässiges Zerren und Ziehen zu Orten, die ihnen teuer waren.
„Durch Wind und Wetter, Not und Leid."
Leise setzten mehr Zwerge ein, mit derselben sanften Melancholie wie Thorin. Das Smial des Hobbits schien zu klein für dieses gewaltige Lied, für diesen gewaltigen Traum.
„Und dort, wo knisternd im Gehölz erwacht, ein Brand von Winden angefacht. Zum Himmel rot die Flamme loht. Bergwald befackelt hell die Nacht."
Mit dem Einsetzen weiterer Zwerge entflammte aus der Melancholie aller Entschlossenheit und Verbundenheit, Sehnsucht und Hoffnung, Vergangenes und Zukünftiges vereint in den Herzen der Zwerge.
Das Mädchen wagte nicht zu atmen. Stumme Tränen liefen über ihr Gesicht.
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„Linda?"
„Hmm?"
Ach, sie hatte doch so einen schönen Traum gehabt... Mittelerde...
„Warum tut mein Rücken weh? Und wer besitzt die Dreistheit, mich zu wecken?", fragte sie sich in Gedanken, immer noch halb schlafend.
„Ähm, wir wollen dann mal losreiten..."
Achso, los-REITEN?
Das Mädchen riss die Augen auf.
„Und warum schläfst du hier?" Der blonde Zwerg betrachtete die auf dem Boden Liegende stirnrunzelnd.
In Lindas Kopf ratterte aber erst noch eine ewig lange Wortreihe durch: TraumAuleVardaValarkeinTraumGeschenkeAuenlandGandalfBilboanlügenGeschichtederZwergeerzählenabernichtzuvielundGeschichtedesAuenlandesbescheuerteZeitrechnungAbendessenZwergeDwalinBalinFíliKílialleanderenThorinangeschrienepischeSzenennichtzerstörtvermaledeiteEhrfurchtallesbisaufZukunftkennenerzähltDurinsbrüdereinigeserklärtkeinenKönig und noch vieles mehr schoss durch ihren Kopf, während sie Fíli anstarrte.
Nach einigen Sekunden war es ihm genug: „Warum hast du - offensichtlich - im Wohnzimmer des Hobbits geschlafen?"
Schon wieder unwillig aus ihren Gedanken geholt suchte die Weitgereiste nach einer glaubwürdigen Ausrede. Sie konnte ja schlecht sagen: „Och, ich hab gestern nach eurem Lied noch so zwei Stunden an meine Heimat, meine Freunde und Familie gedacht, wegen eben dieses fantastischen Liedes, und dann hab ich mich in den Schlaf geweint, weil ich mich einsam gefühlt habe."
Nein, seinen mühsam erarbeiteten Respekt ihr gegenüber würde sie jetzt garantiert nicht zerstören - obwohl Fílis Bild von ihr dann eher der Wahrheit entsprechen würde. Sie meinte: „Ach, ich schätze, ich bin gestern bei eurer Musik einfach eingeschlafen. Wann geht's los?"
Der Zwerg schaute etwas skeptisch, beantwortete aber ihre Frage: „Gleich. Wenn alle soweit sind. Außerdem lassen wir den Halbling schlafen." Linda nickte nur, stand auf und streckte ihre müden, knacksenden Glieder. Ihren Schlafplatz hatte sie sich wirklich gut ausgesucht...
Der blonde Prinz wartete eindeutig auf sie. Mehr oder weniger schnell ging sie mit Fíli im Schlepptau zu der Garderobe, wo sie dann ihr Gepäck holte. „Gibt's was zum Frühstück?", fragte sie an ihren Begleiter gewandt.
Der antwortete: „Dafür bist du zu spät."
Das war ja wohl die Höhe! Wie früh war es eigentlich, vier oder fünf Uhr morgens? Die Sonne ging gerade erst auf! Grummelnd warf sich die Schwarzhaarige noch ihren Umhang um und lief nach draußen.
Ja, sie hatte schlechte Laune, weil sie erstens überall von dieser Nacht Schmerzen hatte, zweitens geweckt worden war, drittens es viel zu früh war, viertens sie kein Frühstück bekommen hatte und sie fünftens kleiner als Fíli war! Wenn auch nur ein ganz klein wenig. Trotzdem, ohne ihre Stiefel wäre sie noch einmal ein bisschen dem Erdboden näher.
Deprimiert von der Tatsache, kleiner als ein Zwerg zu sein, trat Linda durch die Haustüre und blinzelte. Die aufgehende Sonne schien ihr direkt in die Augen und verbarg so das morgendliche Auenland, vor ihnen ausgebreitet wie ein offenes Buch.
Fíli trat neben sie. „Gandalf hat dir noch ein Pony besorgt, dort drüben, das schwarz-weiße." Er wies auf ein gesatteltes Bergpony, das, als sie nähertraten, Linda aus klugen, braunen Augen neugierig musterte. Es unterschied sich nicht besonders von seinen Artgenossen, welche von den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern gerade aufgezäumt und beladen wurden.
Vorsichtig strich das Mädchen dem Pony über den Kopf. „Ich nehme mal an, er oder sie hat noch keinen Namen?", sprach sie den Jungzwerg an, ohne dabei ihren Blick von dem Tier abzuwenden. Ihr war noch nie solch ein großes Lebewesen anvertraut worden.
Dieser nickte, stellte dann aber schmunzelnd fest, dass diese Geste aussichtslos war. „Ja, sie hat noch keinen Namen", sagte er.
„Jetzt hat sie einen: Athena", verkündete die Schwarzhaarige und löste endlich ihren Blick von der Namensvetterin der griechischen Zeustochter. „Das ist eine Göttin aus einer alten Kultur, die für Weisheit und noch mehr steht", erläuterte sie dem fragend dreinschauenden Fíli. „Wie bekomme ich meine Tasche an die Schlaufen da?" Wortlos band er ihr Gepäck mit wenigen Handgriffen fest.
Jetzt war es an Linda, skeptisch auszusehen. Sie würde das natürlich jeden Morgen genauso machen, da sie selbstverständlich im Knotenbinden ihre Uniprofessur abgelegt hatte. Als sie das ihrem freundlichen Helfer mitgeteilt hatte, lachte der nur leise und meinte, so schwer sei das gar nicht, sie würde das schon schaffen. Es sei wirklich kein Meisterwerk.
1318 Wörter, 26.07.2020
überarbeitet
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