77. Kapitel
Die steinernen Wächter standen beiderseits des gewaltigen Eingangstor. Ein riesiges Loch war zwischen den überdimensionalen Zwergen in den Fels gerissen worden, Smaug der Schreckliche hatte seine Handschrift hiergelassen. Im Zwielicht des Berges schimmerten nur Ruinen zu ihnen nach draußen, Säulen stützten wohl riesige Decken.
Die Tür zu den altehrwürdigen Hallen Erebors.
Alle fünf Reisegefährten schwiegen. Mit ihren Augen sogen sie jedes Detail des sich darbietenden Anblicks auf, wie gebannt starrten sie staunend auf die hohen Flügel der Tür.
Fíli rannte als Erster los, die anderen folgten, aus ihrer Ehrfurcht gerissen. Die unglaublichen Eingangsräumlichkeiten waren menschenleer, überall lagen Bruchstücke des Berges herum. Teils von wunderbar gearbeiteter Schnitzarbeit, teils lediglich Brocken des harten Stein.
Linda strich unwillkürlich über die raue Oberfläche eines Felsen, der mehrmals so groß war wie sie. Das Königreich unter dem Berge. Erebor. Verschüttet unter einem Haufen Geröll.
Bofur war das anscheinend ziemlich egal, denn er begann zu rufen: „Hallo? Bombur? Bifur? Irgendjemand?"
Keine Antwort. Die Stille des Steins echote in ihren Ohren.
Berührt von der überwältigenden Präsenz des Steins schloss das Mädchen ihre Augen. Beinahe konnte sie ein leises Summen wahrnehmen, als würde der Berg sagen: „Alles in Ordnung. Meine Hallen sind wieder von Zwergen berührt, meine Harmonie ist wiederhergestellt."
Sie war so fasziniert von Erebor, dass sie verpasste, wie die anderen eilig weiterliefen. Linda folgte rasch und bildete das Schlusslicht.
Die junge Frau konnte kaum verstehen, wie die vier Zwerge so gehetzt an den Wundern des Einsamen Berges vorbeiliefen. Jeder neue Raum kündete von Baukunst und jahrhundertaltem Wissen, gigantische Statuen und schwindelerregende Höhen wechselten sich mit Edelsteinen und Wandteppichen ab. Sie staunte an jeder neuen Wegkreuzung.
Doch ihre Kameraden hatten nur ein Ziel vor Augen: Die restliche Gemeinschaft wiederzufinden. Als hätte er nie etwas anderes getan, lotste sie Bofur durch das Ganggewirr immer weiter in das Herz des Berges.
Die Treppen schienen ins Nirgendwo zu führen, merkte das Mädchen lautlos an, was sollte das? Während sie gerade darüber nachdachte, erklang plötzlich eine sehr bekannte Stimme.
„Wartet! Wartet!"
„Das ist Bilbo!", stieß Óin freudig aus.
Bofur war erleichtert. „Er lebt!"
Der Hobbit kam aus einem Gang angerauscht und baute sich vor den fünf Gestalten auf. „Halt, halt!", sagte der Halbling energisch.
Er war sichtlich außer Atem vom Rennen, trotzdem verriet er den Grund, weshalb er so schnell hergeeilt war, noch nicht. Linda legte den Kopf schief und wartete.
„Ihr müsst sofort weg hier. Wir alle müssen hier weg."
„Wir kommen doch grad' erst an!", unterbrach Bofur ihn entrüstet.
Der Hobbit versuchte, zu beschwichtigen: „Ich hab versucht, mit ihm zu reden, aber er hört nicht."
Das sollte eine Begründung sein? Das Mädchen schüttelte den Kopf, hob eine Augenbraue. Sie sah Bilbo direkt an, aber der lieferte ihr immer noch keine Erklärung.
„Was meinst du, Junge?", wollte der alte Heiler wissen.
„Thorin!", platzte es endlich aus dem Meisterdieb heraus.
Ob der Lautstärke seines Ausrufs erschreckt, zuckten die fünf ein wenig zurück. Es hallte in den tiefen Hallen Erebors, und zwar ganz gewaltig.
Eine gewisse Sorgenfalte bildete sich um Kílis Mund, sie vertiefte sich, je länger Bilbo erzählte.
„Thorin, er ist seit Tagen da unten. Er schläft nicht, er isst kaum noch etwas", beschrieb er. „Er ist nicht mehr er selbst, nicht im geringsten. Das liegt an diesem Ort." Bilbo war sich sicher. Er räusperte sich und fuhr fort: „Eine Krankheit scheint auf ihm zu liegen."
„Krankheit?" Fíli blickte Bilbo sorgenvoll an.
„Was für eine Krankheit?", fragte sein Bruder drängend.
Den älteren Durin schien das nicht zu kümmern. Als hätte Fíli etwas gesehen, dessen Wert so unermesslich hoch war, dass das Wohl seines Onkels zweitrangig wäre. Der blonde Zwerg schob sich am Meisterdieb vorbei und lief weiter die Treppen herunter, missachtete Bilbos Warnung.
„Fíli!", rief der Hobbit besorgt. „Fíli!"
Der Halbling rannte dem jungen Zwerg hinterher, die anderen auf den Fersen. Was war so gefährlich, von dem der Meisterdieb partout nicht wollte, dass sie es sahen?
Adrenalin schoss durch Lindas Adern, sie hatten die Rufe Bilbos aus einer Schockstarre gerissen. Ja, sie hatte diese Szene vergessen. Nicht oft gesehen, verdrängt. Was suchte Fíli dort unten?
Viel wichtiger: Was war die Drachenkrankheit? (Der Hobbit hatte schließlich bekanntermaßen recht mit seiner Annahme bezüglich Thorin.) Wen konnte sie befallen? Was waren die Anzeichen davon?
Das und noch mehr tobte in Lindas Kopf herum, während ihre Freunde und sie keuchend Fíli einholten. Er stand auf einer Plattform inmitten einer riesenhaften Halle und starrte nach unten.
Gold. Gold. Über alle Maßen, mehr als je auf der Erde verfügbar war, nach geologischen Berechnungen, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Doch dies hier war kein computersimulierter Film, diese Münzen waren echt.
In jede Richtung erstreckten sich die Wogen von glänzendem, schimmerndem Gold. Das Meer, der Ozean der Schmuckstücke nahm kein Ende, mehr Diamanten als Sandkörner am Strand verzierten den Anblick.
„Gold... Gold jenseits aller Vorstellungen", begann Thorin. Der König hatte seine Reisekluft ausgezogen und einen schweren, reich bestickten Mantel umgelegt. Er watete durch das Meer an schimmerndem Metall. Sein Blick verlor sich in die Tiefen der Hallen, er sah die Neuankömmlinge nicht an, während er mit ihnen redete.
Die Zwerge blickten mit steinerner Miene herab auf ihren Anführer. Zu gerne hätte Linda etwas aus ihren Gesichtern herauslesen können, doch was war es, Drachenkrankheit oder das Abgestoßensein davon?
„Jenseits von Trauer und Gram...", schallte Thorins Stimme durch den Saal. „Seht ihn an, den gewaltigen Schatz von Thrór!"
Wie ein Pfau stolzierte der schwarzhaarige Zwerg durch die Geldmassen. Er hob einen der unzähligen Edelsteine auf und warf sie ohne Vorwarnung auf das Podest, auf dem sie standen.
Fíli fing ihn auf. Er beäugte den Diamanten von allen Seiten.
Linda konnte noch immer nichts aus seiner Mimik herauslesen. Verurteilte er seinen Onkel oder wurde er genauso wie er? In diesem Moment wünschte sich das Mädchen vergeblichst, eine bessere Menschenkenntnis zu besitzen. Was brachte ihr, dass sie die logische Schlussfolgerung ziehen konnte, dass diese bescheuerte Krankheit erblich war, aber keine Gefühle oder Regungen zu deuten wusste?
„Willkommen, meine Schwestersöhne!", dröhnte Thorin. „In dem Königreich Erebor!"
Der Durin verfolgte sie mit seinen Blicken, nein, durchbohrte sie förmlich. Dann wandte er sich ab.
Dem Mädchen lief ein Schauer über den Rücken. Es gab mehr als einen Grund, warum sie den dritten Teil der Geschichte nicht gerne angesehen hatte. Der schwarzhaarige Zwerg; sein ganzes Verhalten war unheimlich. Und jetzt, da sie ihn kannte, umso mehr.
Linda mochte das ganz und gar nicht. Was tat dieser Berg – war es der Berg aus Stein oder der aus Gold?
„Ich schlage vor, ihr folgt mir", durchbrach Bilbo die Stille.
Er führte sie wenig später zu einem Raum, aus dem schon laute Stimmen zu hören waren. Die junge Frau atmete etwas freier und auch der Gang ihrer Freunde wurde leichter.
Sie traten über die Türschwelle. Alle waren sie dort versammelt: der gute Balin, sein griesgrämiger Bruder Dwalin, der zurückhaltende Ori, Bofurs Bruder Bombur (fast so schweigsam wie Ori), außerdem deren Cousin Bifur, der leider nicht des Deutschen mächtig war, Dori und Nori, die Ebenbilder eines Zwerges; treu den Seinen und misstrauisch den Fremden gegenüber, und natürlich Óins Bruder Glóin, ein stolzer Krieger.
Die gerade eingetroffenen Zwerge wurden geherzt und gedrückt, Gelächter ertönte und ein jeder hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. Die junge Frau hielt sich amüsiert aus dem größten Trubel heraus.
Balin kam auf sie zu und umarmte sie. „Ihr habt es geschafft!", meinte er erleichtert. „Als wir die brennende Stadt sahen, wurde uns allen anders..." Seine braunen Augen blicken sie sorgenvoll an.
„Viele Menschen haben es aus der Seestadt geschafft", berichtete Linda. „Und Bard der Kahnführer hat den Drachen erschossen!" Ihre Worte klangen optimistischer als sie sich fühlte.
Sie bemerkte, wie der alte Zwerg etwas zurückzuckte und die Stirn in Falten legte. Die junge Frau hatte da so eine Ahnung, warum. „Es war nicht eure Schuld. Ein Drache kann nun einmal nur mit einem Schwarzen Pfeil erlegt werden."
Der weißhaarige Berater schien wenig überzeugt, verabschiedete sich aber von ihr und begrüßte ihre Begleiter. Sie setzte sich zu Bilbo an den Tisch, der nicht wirklich an der Freude teilhaben konnte.
1303 Wörter, 30.06.2022
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