71. Kapitel
Der Morgen kroch langsam über die Dächer Esgaroths. Ein einzelner Mensch, oder eher Zwerg, der Größe nach zu urteilen, saß auf den Treppenstufen des Rathauses und schwieg.
Das Mädchen hatte nicht schlafen können, zumindest nicht lang, als die Zwerge endlich ins Bett gegangen waren. Niemand war wirklich ansprechbar gewesen– entweder benebelt vom Rauch oder vom Alkohol – und niemand wollte so recht ruhen. Als schließlich die Nacht in den Tag überging, wollte Linda nicht mehr liegen bleiben, das monotone Schnarchen regte sie auf, doch vielmehr waren es ihre Gedanken, die sie wachhielten.
Seitdem die Reise gestartet war, waren Wochen, Monate vergangen. Seit dieser Zeitspanne lebte sie in Mittelerde– an dem war erstmal nichts auszusetzen– aber gab es in Tolkiens Reich kein Fernsehen. Wie lange war es her, dass sie Smaugs Einöde und Die Schlacht der fünf Heere gesehen hatte?
Zu Anfang war es wir noch einfach gewesen, kaum vierundzwanzig Stunden in Arda, die ersten Szenen kannte sie im Schlaf. Doch dann verstrich die Zeit, sie wanderten wochenlang, nichts passierte, was sie kannte. Und die junge Frau begann zu vergessen.
Jetzt zermarterte sie sich das Gehirn, was wie als nächstes wo passierte. Von Gandalf hatte sie keine Ahnung mehr, da war die Hauptsache, dass er rechtzeitig wiederkam. Allerdings stellte sie der Filmverlauf nun vor Entscheidungen, die sie treffen musste.
So dasitzend fand Kíli sie schließlich, der aufgrund seines schmerzenden Beines nicht mehr schlafen konnte, was er aber nicht zugeben wollte.
Das Mädchen wusste das. Darum wartete sie, bis er das Gespräch begann.
„Meinst du nicht, es ist etwas kalt hier draußen?", fragte er schließlich.
Linda musste schmunzeln. „Das hat mich dein Bruder gestern auch gefragt, und nein, es ist wärmer als es aussieht." Der Schnee vom gestrigen Abend war kaum liegengeblieben. Ihr machte die klamme Luft und die anhaltende Kälte aber nichts aus.
Der braunhaarige Zwerg grinste ebenfalls.
Dann seufzte er und schaute in die Richtung, wo sich Erebor hinter Nebelschleiern verbarg. „Ich kann gar nicht glauben, dass wir es wirklich geschafft haben."
„Ich auch nicht." Sie hatte tatsächlich durchgehalten, das Abenteuer bestanden. Bis hierhin zumindest.
Sie fügte hinzu: „Allerdings liegt uns noch ein Drache im Weg. Was meinst du, wie groß ist er wohl?"
„Ich weiß es nicht", antwortete Kíli ehrlich. „Onkel hat uns immer davon erzählt, Mutter auch, alle, aber auch sie haben gesagt, dass man die Gefährlichkeit und die Größe von Smaug nur abschätzen kann, wenn man ihn selbst gesehen hat."
Und in gewisser Weise hatte sie das ja. Linda schwieg, in Gedanken versunken.
„Aber gleichzeitig ist es auch so unwirklich, dass wir so nah daran sind, eine wirkliche Zukunft zu haben", fiel dem Zwerg noch ein. „Ich meine, die Blauen Berge waren friedlich, aber immer hat man gen Erebor geschaut. Es wird unglaublich sein, die riesigen Hallen wieder zu eröffnen", schwärmte Kíli. „Ach, was wir dann alles machen können, welche Feste, welche Schätze, was für ein Reich!"
„Ja, stimmt, das ist wirklich unglaublich. Ich meine, das ist das Erbe von Thrór, das größte Zwergenreich Mittelerdes, größer geht nicht, oder? Dann muss die Zukunft wohl glorreich werden." Linda stieg nur zögerlich in diese Fantasien ein. Sie benutzte bewusst nicht „wir".
„Ich glaube ja, du hast auch ganz bestimmte Dinge für die Zukunft geplant", der Zwerg grinste sie mit einem vielsagenden Blick an. Linda schaute höchst verwirrt zurück.
Kíli fing an zu glucksen und schüttelte belustigt den Kopf. „Vergiss einfach, was ich gesagt habe."
Die Abenteurerin beschloss, nicht darauf einzugehen. Sie plauderten noch ein wenig über die Reise bis hierher und im Besonderen über Seestadt (sie versicherten sich zuerst, dass niemand ihnen zuhörte). Die Armut hier war wenig überraschend, aber schockierend.
Das hätte die Zwerge erwartet, oder Schlimmeres, wenn sie hiergeblieben wären. Von daher war wohl die Entscheidung, die Heimat aufzugeben, damals eine richtige gewesen.
Ein wenig später versammelte sich die Gemeinschaft in der Waffenkammer. Dieselbe, die sie gestern hatten ausräumen wollen, doch nun stellte der Bürgermeister ihnen bereitwillig alles geforderte Equipment zur Verfügung. Tatsächlich hatten sie bereits gestern einige Rüstungen in Zwergengröße erhalten. Woher auch immer diese kamen, im Rausch der Festnacht hatte niemand darauf geachtet.
Natürlich ließ das Oberhaupt Esgaroths das alles geschehen, ohne selbst dabei anwesend zu sein, der Chef der Stadt schlief noch. Linda hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und so bemerkte tatsächlich niemand der müden Wachen, dass sie eine Frau war, und gaben ihr bereitwillig ein leichtes Schwert. Nein, vielmehr einen Säbel, das Einzige, was ihrer Größe und ihrem Gewicht entsprach.
Die junge Frau hatte keine Ahnung von dem Mindset der Menschen hier, von ihrer Haltung zu weiblichen Kämpfern. Jedoch war auf eine positive Reaktion wohl eher nicht zu hoffen, weswegen Linda diese Vorkehrungen traf. Im allgemeinen Trubel ging sie sowieso unter.
Das vorherrschende Chaos trieb sie schließlich wieder zum Vorplatz des Rathauses, wo eine Kapelle und Menschenmassen sie erwarteten. Die aufgeregten Leute behinderten sie, so dass sie kaum zu den bereitgestellten Booten gehen konnten.
Bilbo und Linda tuschelten leise, die Gedanken des Mädchens waren trotzdem weit weg. Einer nach dem anderen betrat die hölzernen Kähne.
Die Abenteurerin trödelte absichtlich, es befanden sich fast alle der Gemeinschaft an Bord. Dann wollte Kíli das Gefährt betreten.
Sie hörte nicht, was Thorin ihm sagte, aber das musste sie ja auch gar nicht. Sie kannte den Gesprächsinhalt; der besorgte Onkel forderte, dass der verwundete Neffe zurückblieb. Oder der Herrscher wollte keine Rücksicht auf Versehrte nehmen.
Es war wirklich schwierig, den liebenden König von dem kranken zu unterscheiden. Die junge Frau beobachtete, wie der braunhaarige Prinz verärgert neben einer Menschenwache Aufstellung nahm.
Unterdessen stellte Fíli Thorin zur Rede, er verlangte zu wissen, was das eigentlich sollte. Linda sah ihn förmlich vor sich, den verhärteten Blick ihres Anführers, und dann der verwunderte, als sein Erbe ihn verließ und seinen Bruder unterstützte.
Der blondhaarige Zwerg hatte alle seine Sinne beieinander, wusste aber nicht, warum sein Onkel es nicht tat. Das sah das Mädchen als einen geeigneten Augenblick, um einzuschreiten.
Sich durch die Menge schlängelnd drängte sie sich hindurch bis zu den Brüdern, dann wechselte sie einen Blick mit Fíli.
„Ich bleibe auch", sagte sie nur. Mir ist das nicht geheuer, ergänzte sie nicht.
Schweigend sahen die drei zu, wie das Boot ablegte und ihre Freunde unter Fanfaren und Jubeltönen losgeschickt wurden. Óin gesellte sich zu ihnen. Er sprach irgendetwas von „seine Pflicht sei bei den Kranken", aber es interessierte sie nicht.
Kíli war wütend auf seinen Onkel. Wie konnte er es wagen, ihn fortzuschicken? Er schaffte alles, wenn er nur wollte, er war ein Zwerg! Keine Wunde konnte ihn aufhalten. Und abhalten, das Reich seiner Vorfahren, der Legenden, seiner Träume zurückzuerobern, schon gar nicht.
Sein Bruder war ebenfalls wütend auf den König. Ihn schmerzte es zutiefst, wie alle Mitglieder der Gemeinschaft außer ihnen zu dem gelobten Berg gehen durften. Sie waren Thorin gefolgt, Kíli und er. Und jetzt, so kurz vor dem Ziel ließ er sie im Stich? Es war keine Frage, er würde sich immer für seinen Bruder entscheiden, wenn er vor die Wahl gestellt würde. Auch, wenn es nicht Thorins Rat wäre.
Und Linda? Das Mädchen rekapitulierte den Rest von Smaugs Einöde.
„Ha, habt ihr das Boot auch verpasst?" Bofur, noch verschlafen, lachte sie freundlich an.
Wie zur Antwort kippte Kíli um. Reflexartig waren die anderen da, um ihn aufzufangen, doch der Zwerg war schwer und sie mussten ihn stützen.
Vorsichtig richtete er sich wieder auf. Lindas Herz hämmerte, obwohl sie darauf eingestellt gewesen war, auch den anderen war die Furcht in die Glieder gefahren.
„Meine Güte, jag' uns nicht solch einen Schrecken ein", meinte der Zwerg mit dem gewaltigen Hut halb ernst, halb belustigt.
Kíli antwortete nicht, er war blass wie eine Wand und beschäftigt damit, sein Gleichgewicht wiederzufinden.
„Mir reicht das jetzt, kleiner Bruder, du brauchst Hilfe", beschloss Fíli resolut.
Die Tatsache, dass der Angesprochene keinerlei Protest anmeldete, verdeutlichte, wie schlecht es ihm ging. Vorsichtig legte der blonde Zwerg eine Hand Kílis um seine und um Bofurs Schulter, Óin sah bereits seine Arzttasche durch.
Linda machte sich nützlich, indem sie das wenige Gepäck, was sie mitgenommen hatten, einsammelte. „Also", stellte sie die entscheidende Frage, „wo sollen wir jetzt hin?"
1338 Wörter, 05.05.2022
Die Handlung geht weiter...
Meinungen?
Was haltet ihr von Kíli x Linda - Content, wenn er nicht gerade abmurkst? xD
Ja. Mein Computer ist gefühlt total kaputt, aber ein Kapitel kriegt ihr trotzdem. ><
LG!
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