67. Kapitel
„Und dem bezahlen wir das Doppelte." Balin war fest entschlossen.
Bard hob mäßig überrascht eine Augenbraue, musterte den weißhaarigen Zwerg und den Rest der Gemeinschaft. Einige angespannte Sekunden vergingen, dann nickte der Mensch langsam.
„Einverstanden."
Er nannte den Berater einen Preis, den dieser fast ohne Zögern mit einem Handschlag annahm.
„Los, alle rauf aufs Boot!", befahl der Mensch. „Wir haben keine Zeit zu vertrödeln."
Linda folgte ihren Freunden erleichtert. Ihre Anwesenheit hatten nichts verschoben, sie waren auf den Kahn gelangt. Sie hatten einen Weg in die Seestadt, welcher sie bald hoffentlich auch zum Einsamen Berg führte. Kurz darauf legte die Fähre ab und nahm Kurs auf die Seestadt.
Nach wenigen Metern waren sie komplett von Nebel umgeben, man sah kaum, was außerhalb des Bootes vor sich ging. Doch das Mädchen konnte sich entspannen, zumindest für einen kurzen Augenblick. Als ihr Blick den von Fíli traf, verdüsterten sich ihre Gedanken erneut.
Kíli war verletzt, schwer verletzt, denn vergiftet. Aber sie durfte das niemandem verraten. So brächte sie die Geschichte durcheinander. Es stellte ein zu großes Risiko dar.
Aber hätte sie ihn nicht davor bewahren können? Die Vergiftung verhindern, den Pfeil zu Seite lenken oder gar Bolg töten? Es gab zu viele Was-wäre-wenns.
Der Kahn steuerte weiter durch die undurchsichtigen Schwaden. Sie hatte getan, was sie getan hatte, und konnte daran nichts mehr ändern. Jetzt musste Linda mit dieser Schuld leben.
Eisschollen trieben im fast schwarzen Wasser umher, wenngleich das Mädchen kaum fror. Lediglich Bilbo hatte die Arme zitternd um sich gelegt. Bard hielt das Steuerruder fest in der Hand und lenkte sie schweigend durch die tiefen Gewässer.
„Vorsicht!", rief Bofur aus. Er starrte beängstigt zu einer undefinierbaren, riesig aufragenden Ruine, die plötzlich aus den Nebelschleier aufgetaucht war.
Doch der Mensch navigierte sie geschickt durch die verfallenen Gebäudereste hindurch.
Thorin sagte dennoch vorwurfsvoll: „Was habt Ihr vor? Wollt Ihr uns ertränken?"
Bard duckte sich, damit das eingeholte Segel ihn nicht am Kopf stieß, bevor er antwortete: „Ich bin an diesen Wassern geboren und aufgewachsen, Meister Zwerg. Wollte ich euch ertränken, würde ich es nicht hier tun."
Linda enthielt sich jeden Kommentars, halb amüsiert. Die Kleidung auf der Haut war klamm, noch immer nicht getrocknet vom Flusswasser, durchtränkt vom Nebel.
Dwalin knurrte und seine Augen blitzten wütend: „Oh, dieser vorlaute Seemensch. Ich sage, wir werfen ihn über Bord, dann ist Ruhe."
„Oh, Bard. Der Mann heißt Bard", entgegnete Bilbo nicht minder gereizt. Er ging seit einer ganzen Weile unruhig auf dem Deck auf und ab. Vielleicht, um Wärme wiederzufinden.
„Woher weißt du das?", mischte sich der Hutträger unter den Gefährten in die Diskussion ein.
„Äh, ich habe ihn gefragt." Der Hobbit legte den Kopf schief. Wie sollte er auch sonst darauf gekommen sein? Allerdings, da stimmten sich das Mädchen und der Halbling mithilfe eines vielsagenden Blickes zu, auf jene Idee der Diplomatie wären viele der Zwerge wohl nicht gestoßen.
„Ist mir egal, wie er heißt. Ich kann ihn nicht leiden."
„Wir müssen ihn nicht leiden können", unterbrach Balin seinen Bruder, „wir müssen ihn nur bezahlen. Na los, Jungs, krempelt eure Taschen um."
Der weißhaarige Zwerg stapelte immer mehr Münzen vor sich auf, goldene Taler aus den Tiefen der versteckten Taschen und Geldbeutel, sie reichten nicht.
Linda fühlte sich nicht angesprochen, weder durch die Worte des Beraters noch durch deren Bedeutung. Sie besaß keine Münzen aus Mittelerde. Und wenn, dann wüsste sie sicher nicht, welche, von welchem Wert, aus welchem Land. Mittelerde war noch nicht der Eurozone beigetreten.
Unwillkürlich schaute sie erneut zu Fíli und Kíli. Der Jüngere zeigte keine Anzeichen, dass ihn seine Wunde plagte, aber das konnte sich jederzeit ändern. Die junge Frau behielt ihn im Auge.
„Woher wissen wir, dass er uns nicht hintergeht?", flüsterte Dwalin Thorin halblaut zu.
Allerdings so, dass Linda, die neben ihnen stand, es mitbekam. Im Gegensatz zu ihrem Anführer kannte sie die Antwort auf diese Frage. Oder vielmehr, welchem Menschen sie ihr Leben anvertraut hatten.
Eichenschild sagte knapp: „Gar nicht."
Balin stellte fest: „Es gibt eine kleine Schwierigkeit, uns fehlen zehn Münzen."
Es waren die unpassenden Momente, in denen das Mädchen mittelerdeversunken lächeln wollte, denn was kam, gehörte schon immer zu einer ihre Lieblingsszenen.
„Glóin", sprach der Schwarzhaarige zu seinem Verwandten. „Komm schon. Gib uns, was du hast." Thorin sah ihn scharf an.
Der rothaarige Zwerg verschränkte seine Arme, entschlossen, nicht nachzugeben. „Seht mich nicht so an!", beschwerte er sich. „Diese Reise hat mich völlig ausbluten lassen, und was habe ich für meine Aufwendungen bekommen? Nichts als..."
Sein Bruder neben ihm hörte seiner Rede nicht länger zu. Er hatte etwas viel Wichtigeres ins Auge gefasst, fern hinten im Nebel.
Óin sah es, Thorin, Bifur, Balin, die ganze Gemeinschaft, und dann entdeckte es auch der lamentierende Zwerg: Erebor.
Die Spitze eines Berges, aufregend über allen anderen, versunken in grauweißen Schleiern. Das größte Zwergenreich nach dem Untergang von Khazad-dûm im Westen von Mittelerde, der Thron des mächtigsten Zwerges den sieben Stämme, die Heimat von Durins Volk.
Erebor, sagenumwobene Halle von Gold, Schmiede der ruhmreichen Zwerge, unterirdische Stätten von Glanz und Pracht; Ort des größten Schmerzes, Ort der Erinnerung, Ort der Gefallenen; der Hort von Smaug dem Schrecklichen.
Das Zuhause ihrer Freunde.
Für diesen Moment war Linda nach Mittelerde gekommen. Sie sah Kummer, Sehnsucht, unfassbare Freude in den Gesichtern der Khazâd, der Unglaube, dass das Erkannte wahr war, die Erinnerung, dass man selbst unzählige Geschichten gehört hatte, der Wunsch, dass der Berg in ihren Händen war. Ihre Augen leuchteten und in der jungen Frau stieg ein langsames Verständnis auf, warum ihre Kameraden all diese Strapazen auf sich genommen hatten.
Sie selbst schwieg, ihr Blick schwankte zwischen dem gewaltigen Berg und ihren überwältigten Freunden.
Dem Hobbit ging es ähnlich, er merkte, was für ein besonderer Moment dies war. Trotzdem räusperte er sich und zerstörte die Magie des Augenblicks.
Der Halbling lenkte die Aufmerksamkeit der Kompanie auf Bard, welcher auf sie zukam und hastig sprach: „Das Geld, schnell. Her damit."
Thorin sagte ungerührt, obgleich gestört in der Betrachtung: „Wir werden Euch erst bezahlen, wenn wir unsere Vorräte haben." Eine durchaus kluge Strategie, wenngleich in diesem Fall nicht wirkend.
Denn der Mensch drängte: „Wenn Euch die Freiheit lieb ist, tut Ihr, was ich sage. Da vorne stehen Wachen."
Sie folgten seinem Blick. Nun lichtete der dichte Nebel sich erneut, legte jedoch etwas anderes frei: Häuser, auf Stelzen gebaut, zusammengepfercht in einer dorfähnlichen Konstruktion. Seestadt. Schleier hüllten die schemenhafte Gestalt ein.
Der Zwergenkönig nickte widerwillig, dann überreichte er dem Bootsführer die Münzen. Genau abgezählt, hatte doch Glóin seinen gesamten Geldbeutel im Angesicht der ersehnten Heimat hergegeben. Den Rest behielt er.
„Und jetzt in die Fässer", ordnete Bard an.
Die Gemeinschaft gehorchte seinem Befehl, Dwalin und weitere warfen sich skeptische Blicke zu. Die junge Frau vertraute dem Seemensch. Linda war die erste, die zurück in ihren Holzbottich kletterte, und sie beobachtete dabei, wie sich Kíli anstellte.
Er wies unwirsch die Hilfe seines Bruders ab, der den Blick des Mädchens erwiderte und den Kopf schüttelte. Der Bogenschütze war einfach viel zu stur. Zwergenhaft und duringleich, doch sein besorgter Bruder genauso.
Einige Augenblicke später hielt sich für den neutralen Beobachter nur ein Mensch an Bord des Kahns auf. Versteckt hinter Eichenbohlen schwiegen die Kameraden und lauschten.
Linda hörte, wie das Boot anlegte und der Mensch von Bord ging. Sie beteiligte sich nicht an den geflüsterten Diskussionen, was der Bootsmann bei den anderen Menschen tat.
Die Abenteurerin schloss die Augen und verließ für einen Moment die Szenerie. Überleben im Waldlandreich– geschafft. In Seestadt anzukommen – so gut wie erledigt. Der nächste Punkt? Zunächst nichts Lebensgefährliches.
Sie atmete durch. Keine weitreichende Entscheidung musste gefällt werden, sie war keinen Druck ausgesetzt. Sie musste nicht überleben, konnte für einen Moment entspannen. Dann biss sie sich auf die Lippe.
Außer, dass der jüngste Zwerg der Gemeinschaft verletzt war, tödlich verletzt war- und die Schlacht der fünf Heere immer näher rückte.
Ja, sie hatte den Erebor gesehen, ein magischer Moment. Königlich ragte die Bergspitze immer noch in den Himmel und kündete von Legenden. Doch besagte sie, dass das Unausweichliche vor der Tür stand. Einen Kampf, den drei nicht überleben würden.
Und eine Aufgabe, ihr Auftrag der Valar, dies zu verhindern.
Aber wie?
1335 Wörter, 10.03.2022
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