60. Kapitel
Der nächste Morgen begann früh. Nun, es war noch nicht einmal morgen, als Thorin die Gemeinschaft aus ihren metaphorischen Betten schmiss. Die Kameraden und Linda krabbelten müde aus dem Stroh.
Ihr Anführer gab Anweisungen, wer was zu erledigen hatte, und ausnahmsweise fügten sich alle widerspruchslos. Es war einfach zu früh dafür.
Wenn das Thorins Taktik gewesen war, ging sie auf: Nach einem kurzen Frühstück bei Sonnenaufgang saßen alle wenig später auf Ponys, die der Hautwechsler ihnen anvertraut hatte. Große Ponys, Zwerge, Linda und Hobbits würden sie wahrscheinlich eher als Pferde bezeichnen.
Die Hauptsache war, dass jeder im Sattel eines der Vierbeiner hockte. Fast jeder, denn Gandalf unterhielt sich noch mit ihrem Gastgeber. Beorn blickte besorgt drein, doch Linda kümmerte sich um andere Probleme.
Sie hatten die Pferde zu einem Ende des Grundstücks geführt, wie sie vermutete, da nach dem kleinen Waldstück, das sie eben durchquert hatten, eine weite Ebene lag. In weiter Ferne erkannte man schemenhaft den Düsterwald, ihr nächstes Ziel.
Das Mädchen hatte es übermüdet geschafft, alle ihr aufgelegten Aufgaben zu erfüllen. Selbst an ihr eigenes Gepäck hatte sie gedacht, und daran, es wandertauglich umzupacken. Die bevorstehende Etappe ließ sie – ehrlicherweise – erschaudern.
Linda hatte sich bereits vor einiger Zeit einen Plan zurechtgelegt, den Düsterwald zu überleben. Nun musste sie ihn nur noch ausführen. Erster Punkt: Reite.
Das hatte natürlich so seine Schwachstellen. Obwohl dieses Tier vom Fellmuster her ihrer Athena sehr ähnlich war, hatte die Schwarzhaarige noch keine Verbindung zu ihm oder ihr aufgebaut. Geschweige denn erraten, ob es genauso schlau wie ihre Stute war. Kurzzusammenfassung: Linda wusste nicht, ob sie auch mit diesem Pferd reiten konnte.
Die jüngsten Zwerge neben ihr redeten gedämpft miteinander. Vielleicht konnten Fíli und Kíli der Erdenfrau gegebenenfalls wieder bei ihren reiterlichen Versuchen behilflich sein.
Es ging los.
Nachdem der Zwergenkönig den Zauberer gebeten hatte, sich mal zu beeilen, schwang auch Gandalf sich in den Sattel. Auf dieses Kommando hin setzten die Ponys sich in Bewegung.
„Die euch jagen, sind nicht mehr weit", hatte Beorn sie in die grünen Auen und steppengleichen Wiesen entlassen. Der Meinung der jungen Frau nach hatte die Gemeinschaft ohne ihre Verfolger schon genug Probleme, aber das wollten die Orks sicher nicht hören.
Schweigend trabten sie dahin. Die Landschaft erstreckte sich vor ihnen, mal bis zum Horizont, mal Anhöhen hinauf. Unruhig drehte sich Balin immer wieder um. Sie konnten nur hoffen, dass die Meute ihnen nicht zu dicht auf den Fersen war.
Eine Mittagspause würde es an diesem Tag sicher nicht geben. Als die Sonne hoch am Himmel stand (und ihr Pferd im Schritttempo einherging), aß die Abenteurerin im Sattel ihr eingepacktes Mahl. Früher oder später taten es ihr die anderen gleich.
Noch immer trabten die Pferde von den Zwergenprinzen neben Lindas. Die Blicke der drei wanderten häufig zu der aus dem Nebel hervorragenden Bergspitze des Erebors.
Kíli meinte irgendwann: „Jetzt wird es ernst. Unsere Heimat ist zum Greifen nah."
Sein Bruder und Linda nickten einträchtig. Jetzt war es soweit.
xxx
Einige Stunden später erreichten sie die ersten Ausläufer des Düsterwalds. Wie ein breiter Teppich waren die aberhunderten Tannen ausgebreitet, und das Dunkel schien aus den Tiefen des Gestrüpps zu quellen. Selten hatte sich das Mädchen so unwohl gefühlt, als da sie das erste Mal in das Dickicht hineingeblickt hatte. Ein Schauder lief ihr über den Rücken.
Doch: Sie waren da. Ihr nächstes Ziel, der Düsterwald; sie standen vor ihm. Genauer gesagt, vor dem Elbenpfad, der durch zwei Tore gekennzeichnet war; der sie sicher zwischen den unheimlichen Bäumen hindurchführen sollte.
„Lasst die Ponys jetzt frei, sie sollen zu ihrem Herrn zurückkehren", kam die Anweisung sogleich. Linda befolgte sie, stieg ab und band das Gepäck vom Sattel los, um es zu tragen. Ihren Übermantel legte sie sich um die Schultern; denn verlieren würde sie diesen ohnehin bald. Mal wieder, sie kannte die Zukunft, wusste, was sie erwartete, und dass alle Taschen und Proviantpäckchen bald nicht mehr ihnen gehörten. Wo sie schon dabei war...
Als sie ihr Reittier mit einem Klaps in die Freiheit entlassen und sich davor ordnungsgemäß bedankt hatte, suchte sie den Grauen Zauberer. Während viele ihrer Gefährten ebenfalls die Taschen umpackten, stand Gandalf gedankenverloren auf dem Elbenpfad.
Das Mädchen ging auf ihn zu und räusperte sich.
„Ja?" Mithrandir drehte sich zu ihr.
„Ich habe eine Bitte an dich", begann die junge Frau, „ich möchte, dass du mein Schwert aufbewahrst, bis, sagen wir, die Zeit der Kämpfe gekommen ist." Den erstaunten Blick des Spitzhutträgers, in den sich Besorgnis mischte, ignorierte sie.
„Du wirst schon wissen, wenn es soweit ist – ich bin eventuell nicht da, um Gebirgsfrost wieder an mich zu nehmen, aber ein sehr guter gemeinsamer Freund schon."
Der Zauberer grübelte einen Moment. „Ich, äh, werde mein Bestes versuchen. Und es gibt nichts, über das ich mir Sorgen machen müsste?" Mithrandir schien mit dem Hinweis auf ein Gefecht unzufrieden zu sein.
Das Mädchen lächelte halb. „Das schaffe ich schon alleine." Dafür war sie ja schließlich hier. Der Graue Wanderer hatte schließlich genug, über dem er sich den Kopf zerbrechen konnte...
Bereits wieder abwesend nickte der Maia. Linda nahm das als Zeichen, sich zur Gruppe zu gesellen.
Die unheimliche Stille, die aus dem Dickicht kroch, legte sich um die Gemeinschaft. Die Rufe, die ab und an zu hören waren, schienen dünn und nicht angemessen. Es war fast so, als würden die hohen Tannen bedrohlich über sich hinauswachsen und die Reisenden verschlingen wollen.
Die Abenteurerin schüttelte sich. Nicht in solche Tagträume verfallen, besonders nicht jetzt, vor dem Düsterwald!
„Mein Pferd nicht, ich brauche es!", hob auf einmal Gandalf seine Stimme. Nori war dabei gewesen, das Reittier des Zauberers zu entzäumen. So aber hielt er inne.
„Willst du uns etwa verlassen?", tönte Bilbos Frage durch den seichten Nebel. Sie hatte einen Hauch von Anklage und von Einsamkeit.
Dies überraschte Linda nicht wirklich. Immer noch vertraute der Halbling Mithrandir am meisten, er kannte ihn ja aus seiner Kindheit. Und nun wollte der Grauhaarige sich vom Acker machen – er hatte den Hobbit als Meisterdieb angeheuert, von dieser Reise überzeugt. Wollte der Maia wirklich so kurz vor dem Ziel kneifen?
Angesprochener wandte seinen Blick von dem kleinen Mann ab. „Ich würde es nicht tun, wenn ich nicht müsste." Er fuhr fort, doch diese Konversation erachtete das Mädchen als zu privat, um sie mitzuhören. Das war eine Sache zwischen Bilbo und Gandalf.
Stattdessen suchten ihre Augen die Umgebung ab. Die weite Ebene hinter ihnen und den tiefen Wald vor ihnen, nach Feinden und geeigneten Wegen. Kíli wäre sicherlich stolz auf sie, dass sie seinen Outdour-Crashkurs sofort in die Tat umsetzte und seine Ratschläge befolgte.
Dann sprach der Graue Wanderer erneut mit der gesamten Gemeinschaft. Jetzt hörte die junge Frau auch wieder hin, welch Überraschung. Als würde Linda bei irgendeinem Unterricht jemals nicht aufpassen, sie hörte die (freundlich gesinnten) Stimmen ihrer ehemaligen Klassenkameraden...
„Ich erwarte euch am Aussichtsposten vor den Hängen des Erebor. Verwahrt die Karte und den Schlüssel gut. Geht nicht ohne mich in diesen Berg hinein!" Gandalf sprach mit ausdrucksstarken Worten.
„Dieser Wald ist nicht der Grünwald von ehedem", warnte er ferner. „Er wird versuchen, euren Geist in die Irre zu führen.
„Unseren Geist in die Irre führen? Was soll das bedeuten?", tuschelte jemand. Der Rest von ihnen schwieg, besorgt, zuhörend, aufbrechen wollend.
Der Zauberer sah sie an, behielt sie im Auge, als er sich auf sein Pferd schwang. „Ihr müsst auf dem Weg bleiben. Kommt nicht von ihm ab. Wenn ihr es tut, werdet ihr ihn nie wiederfinden." Er gab dem Pony die Sporen (metaphorisch gesehen).
„Was auch kommen mag, bleibt auf dem Weg!", schrie er ihnen zu, während er aus ihrem Sichtfeld galoppierte und in den Auen verschwand.
Auch Thorin hatte den Ritt des Maia verfolgt. Wie sehr er sich seine Warnungen zu Herzen genommen hatte, ließ er offen. Er wandte seinen Blick zum finsteren Wald. „Kommt. Wir müssen den Erebor erreichen, ehe die Sonne am Durinstag untergeht."
Oh ja, das mussten sie wohl. Und Linda war die letzte, die das verhindern wollte.
Die junge Frau reihte sich in den Gänsemarsch ein, in dem sie dem Elbenpfad folgen wollten. Betonung auf „sie wollten". Der letzte klare Gedanke des Mädchens, bevor sie diesen elendigen Wald betrat, war, dass sie eigentlich wirklich keine Lust hatte, sich mit einer Horde streitlustiger Zwerge auf Drogen in einem gefährlichen Wald zu verirren.
1352 Wörter, 09.12.2021
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro