6. Kapitel
Kíli musste der - fast schon epischen - Rede seines Bruders beipflichten (wenn auch nicht mit der gleichen Wirkung aus... naheliegenden Gründen.): „Und vergesst nicht, wir haben einen Zauberer in unseren Reihen! Gandalf hat bestimmt schon hunderte Drachen getötet!"
Das Mädchen überdeckte mit einer Hand ihren Mund und erstickte damit - begrenzt erfolgreich - ihr Kichern.
„Oh... nun ja, ... nein, ich würde nicht sagen..." Gandalf sagte eher weniger, denn er wurde unterbrochen.
„Wie viele dann?" Die Zwerge redeten durcheinander. „Was?"
Dori wiederholte: „Wie viele Drachen habt ihr getötet?"
Jetzt kam Thorins Da-rette-ich-dich-nicht-raus- oder auch sein Sag-schon-Blick, je nachdem wie viel er wirklich über die Vergangenheit des ominösen Wanderers wusste.
„Oh... äh", hustete der Zauberer. Fast schon wollte Linda ihm „keine" soufflieren.
„Los doch. Nennt uns eine Zahl!" Jetzt schrien und riefen alle durcheinander, noch lauter als alle Male zuvor. Sie sprangen auf den Tisch...?
Linda runzelte die Stirn, da hatte Thorin die Situation schon wieder unter Kontrolle und lenkte von der Unfähigkeit Gandalfs ab. Nein, ein schlechter König war er wahrscheinlich nicht.
„Wenn wir diese Zeichen erkannt haben, glaubt ihr dann nicht, dass auch andere sie sehen? Die Gerüchte verbreiten sich bereits, der Drache Smaug ward nicht mehr gesehen seit sechzig Jahren. Blicke richten sich gen Osten zu dem Berg. Abschätzend, überlegend, das Risiko abwägend."
Thorin schaute alle durchdringlich an, sein Blick ging durch Mark und Bein. „Der unermessliche Reichtum unseres Volkes liegt vielleicht schutzlos da. Sehen wir nur zu, wie andere sich holen, was rechtmäßig uns gehört? Oder ergreifen wir diese Chance und holen uns den Erebor zurück?"
Wieder ertönte Geschrei und Gebrüll, aber jetzt war es eine Aufbruchsstimmung. Voller Vorfreude und Entschlossenheit. „Du Bekâr! Du Bekâr!"
Doch Balin beendete sie schon wieder: „Ihr vergesst, das Haupttor ist verschlossen. Es gibt keinen Weg in den Berg hinein." Der fast-allwissende Zwerg war wirklich ein Realist, wurde dann auch noch von dem auch-nicht-allwissenden-aber-in-diesem-Fall-ein-wenig-mehr-wissenden Gandalf unterbrochen: „Das, mein lieber Balin, stimmt nicht ganz."
Er hielt einen Schlüssel in die Höhe. Ein schöner Schlüssel, von zwergischer Machart, golden. Der irgendwie aus der Luft aufgetaucht war.
Thorin starrte erstaunt auf das Objekt. „Wie bist du an ihn gekommen?"
„Dein Vater hat ihn mir anvertraut, Thráin. Ich sollte ihn verwahren. Er gehört jetzt dir", sprach der Maia. Er übergab das Objekt unter den Blicken aller - fast aller, Bombur aß - dem Zwergenkönig.
„Wenn es einen Schlüssel gibt, dann gibt es auch eine Tür."
Ja, Fíli, außer es ist ein Schlüssel zu einer Truhe, dachte Linda belustigt. Oder zu einem Schrank. Oder zu Fesseln. Oder...
Gandalf deutete auf die Karte, die vor ihnen ausgebreitet war: „Diese Runen beschreiben einen geheimen Durchgang zu den unteren Hallen."
Kíli lächelte verschwörerisch. „Es gibt noch einen Eingang."
„Wenn wir ihn finden. Geschlossen sind Zwergentüren unsichtbar", wandte der graue Zauberer ein.
Längst schon tuschelte niemand mehr, alle hörten den Sprechenden zu, auch Bilbo, der sich als einziger nicht im Raum befand. Der Hobbit lauschte gebannt vom Flur aus.
„Die Lösung ist irgendwo in dieser Karte verborgen, nur besitze ich nicht die Fähigkeit, sie zu finden, aber es gibt andere in Mittelerde, die dies können." Gandalf schaute kurz zu ihr, aber sie hatte nicht vor, irgendetwas zu verraten. Sollten sie doch selbst darauf kommen! So war es viel lustiger. Und außerdem wollte sie die Geschichte nicht zu sehr verändern.
Jetzt begann der Zauberer, seinen Plan zu erklären: „Die Tat, die ich mir vorstelle, beruht auf Heimlichkeit und braucht ein gewisses Maß an Mut." Er sah den ahnungslosen Hobbit und dieser blickte naiverweise zurück. „Aber wenn wir vorsichtig und klug sind, glaube ich, dass wir es schaffen."
„Darum brauchen wir einen Meisterdieb", schaltete sich Ori begeistert ein.
Linda sah im schwachen Schein der Kerzen Zustimmung in allen Gesichtern.
„Hm, und zwar einen guten. Den besten, möchte ich meinen." Nein, dumm war nicht Bilbos Attribut. Nichtsahnend traf es besser. Seine Daumen hatte er in seine Hosenträger gehakt.
Glóin sprach ihn an, noch stand der Halbling halb neben, halb hinter Thorin. „Und? Seid Ihr das?" Der Hobbit suchte augenscheinlich nach demjenigen, welchem die eindringliche Anrede galt. Auch zu dem Mädchen sah er, welches aber nur lächelnd den Kopf schüttelte. Das war wohl eher nicht ihre Aufgabe.
Ein paar Zwerge, die ihren kurzen Austausch bemerkt hatten, runzelten die Stirn. Wozu sollte sie sonst mitkommen? Wie eine Kämpferin sah sie nicht aus, trotz des Schwertes an ihrer Seite und andere als Kämpfer, von denen man so gut wie nie genug haben konnte, wurden nicht benötigt. Später würden sie das ihrem Anführer mitteilen.
Bilbo sah unterdessen über seine Schulter, doch hinter ihm stand niemand. Langsam dämmerte es ihm. „Bin ich was?"
Óin, dem das leise Sprechen aller nicht gerade zum Verständnis diente, lachte erfreut auf: „Er hat gesagt, er ist der beste!"
Allem Anschein nach bemerkte er auch nicht den zweifelnden Blick des älteren Zwergenprinzens auf sich, ganz zu schweigen von den fehlenden erwartbaren Jubelrufen der anderen. Aber der ältere Zwerg war ja nicht multitaskingfähig, sagte sich das Mädchen.
Sie schmunzelte. Vielleicht sollte sie schon mal ihre Gedankengänge der Sprache Mittelerdes anpassen. Also: Óin war nicht fähig, mehrere Dinge gleichzeitig wahrzunehmen beziehungsweise zu tun.
„Was? Ich, nein, nein, nein, ich bin kein Dieb, ich habe in meinem Leben noch nie etwas gestohlen!" Der Hobbit schien regelrecht empört angesichts der Unterstellung (in seinen Augen).
„Nun, ich fürchte, da muss ich Herrn Beutlin zustimmen. Er ist nicht aus Diebesholz geschnitzt." Balin, der olle Realist. Aber genau deswegen war er ja auch ein so guter Berater. Nur wenn man die Zukunft kannte, schüttelte man eben über die wohlüberlegten und berechtigten Zweifel den Kopf.
Es war auch höchst unwahrscheinlich, die ganze Geschichte, dachte Linda. Aber immer noch wahrscheinlicher als durch Welten zu reisen, ergänzte sie sich selbst amüsiert. In Wahrheit schätzte sie Balin und seine klugen Ratschläge sehr, er war... ein Vorbild? Ja, er war ein Vorbild für Linda.
Bilbo war sichtlich erleichtert über die Unterstützung seiner Aussage. Dwalin pflichtete seinem Bruder bei, wenngleich weitaus unfreundlicher: „Ah, die Wildnis ist kein Ort für feine Leute, die weder zu kämpfen noch sich zu wehren wissen."
Der Zwerg schaute auch sie an. Sie funkelte aus blaugrünen Augen zurück. Er hatte zwar vollkommen recht - sie war noch ungeeigneter (und unvorbereiteter) für die Wildnis als Bilbo - aber sie war mindestens so stur wie ein Zwerg in manchen Dingen, wie es auch das Bestehen auf ihr Mitkommen war. Und deshalb kam sie mit. Eine sehr schöne Logik.
Schon wieder diskutierten die Zwerge durcheinander. Das brachte wiederum Gandalf auf die Palme- Moment, in Mittelerde gab es doch gar keine Palmen? Aber in Valinor bestimmt und deshalb war dieser Ausdruck ganz gut dafür geeignet, die Stimmungslage des Zauberers zu verbildlichen.
Seine Fähigkeiten unter Beweis stellend unterbrach er die Zwergendisskusion: „Genug! Wenn ich sage, dass Bilbo Beutlin ein Meisterdieb ist, dann ist er ein Meisterdieb!" Der schwarze Rauch verzog sich und Gandalfs Stimme nahm seine normale Lautstärke an.
„Hobbits sind bemerkenswert leichtfüßig, im Grunde kommen sie an fast jedem ungesehen vorbei, wenn sie wollen. Und während der Drache Zwerge ohne Weiteres wittern kann, ist der Geruch eines Hobbits so gut wie unbekannt für ihn, was uns einen Vorteil verschafft. Ich sollte das vierzehnte Mitglied für diese Unternehmung finden und ich habe mich für Herrn Beutlin entschieden", meinte Gandalf an Thorin gewandt.
Der erklärte Meisterdieb schnappte nach Luft und versuchte, zu Wort zu kommen, doch der Zauberer fuhr fort - vermutlich nicht ohne den angstvollen Ausdruck in Bilbos Augen zu bemerken: „In ihm steckt viel mehr, als ihr erraten könnt, und noch einiges mehr als er selber ahnt."
Der Zwergenkönig schien beinahe überredet. Die Schwarzhaarige fuhr fort, mit dem Kopf zu nicken und zu lächeln, für den Fall, dass einer der Zwerge in ihre dunkle Ecke sehen würde. Also wirklich, kein Vertrauen in einen Maia!
Aber vermutlich hatte niemand außer ihr in diesem Raum ein genaues Wissen von Gandalfs wahrer Herkunft. Der meinte nun eindringlich zu Thorin: „Ihr müsst mir vertrauen."
Der Zwerg schwieg noch einen Moment länger. Gandalf hatte gewonnen. „Also gut. Machen wir's auf deine Art." Der Zwergenkönig wandte sich an Balin: „Gebt ihm den Vertrag."
Die teilweise unangenehme, teilweise gespannte Stille war nun beendet, alle murmelten wieder. Der weißhaarige Zwerg erhob sich, soweit dies mit einem Tisch vor sich möglich war. Das Dokument hielt er Bilbo hin. „Ist nur das Übliche. Zusammenfassung der Reisekosten, Arbeitszeiten, Vergütung, Begräbniskosten und so weiter."
Thorin reichte das Papier an den erschrockenen Halbling. „Be...gräbniskosten?" Er trat in den Flur und der Vertrag entfaltete sich.
Zu gerne würde Linda ihn einmal lesen, doch vermutlich sollte sie die letzten Stunden außerhalb der Wildnis mit anderen Dingen verbringen. Mit... Schlafen? Sie gähnte verhalten. Nach dem Lied würde sie sofort schlafen gehen - nicht ohne sicherzugehen, dass jemand sie am nächsten Morgen wecken würde. Rennen würde sie auf dieser Reise noch oft genug müssen.
„Verbrennung...?" Oh, armer Bilbo - und uneinfühlsamer Bofur!
Der schwarzhaarige Zwerg sagte unbekümmert: „Naja, er schmelzt einem im Handumdrehen das Fleisch von den Knochen."
Sie stand von ihrem Stuhl auf, ließ sich aber sofort wieder zurückfallen. Solange sie nicht einen auf Fíli machte, kam sie hier nicht raus.
Balin neben Bofur war ein wenig empathischer als er: „Alles in Ordnung, Kleiner?"
„Äh, ja, ja." Bilbo stütze sich auf seinen Beinen ab, abgewandt von der Gemeinschaft.
Bofur stand auf. „Stell dir einen geflügelten Schmelzofen vor!"
„Ich... muss an die Luft."
Der Zwerg ignorierte dies und fuhr mit seinen Beschreibungen fort: „Ein helles Licht, ein kurzer Schmerz und puff! Ist man nur noch ein Häufchen Asche." Linda verzog schon einmal schmerzverzerrt das Gesicht und erhob sich erneut.
„Nö."
1587 Wörter, 10.07.2020
überarbeitet
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