51. Kapitel
Vorsichtig ließ sich Linda von dem Adlerrücken auf den sicheren Boden gleiten. Sanft landete sie auf dem Carrock, doch ihr Blick richtete sich zuerst zurück, nicht nach vorne. Ernst blickte das Mädchen den gewaltigen Vogel an, der sie abgesetzt hatte. Seine großen Augen sahen sie klug an.
„Habt Dank."
Das meinte die junge Frau aus vollem Herzen so. Ohne die Diener Manwes wären sie dort auf der Lichtung verloren gewesen, und nicht nur dort sollte Gwaihirs Gefolge die entscheidende Wendung im Kampf von Gut und Böse bringen.
Weit entfernt war der zweite Fall nicht mehr, doch der dritte dafür umso mehr. Nicht nur deswegen hatte Linda großen Respekt vor den Tieren. Ja, als Ehrfurcht konnte man es auch titulieren, als eben jene, die die Zwerge der Abenteurerin zu Beginn ihrer Reise entgegenbringen wollten. Denn die Adler waren Boten der Valar, endlos weise, stolze Herrscher der Lüfte über Mittelerde und die Erben Thorondors.
Während sich Linda von ihren gefiederten Rettern verabschiedete, eilten alle anderen auf Gandalf zu, der soeben zu Thorin getreten war. Leblos war dieser von einem Adler auf den Felsen gelegt worden. Er hatte sich nicht gerührt, seitdem er wegen Azogs Warg die Besinnung verloren hatte.
Doch Gandalf beherrschte einige Zaubereien: Kaum hatte er sich zu dem Zwergenkönig hinabgebeugt, schlug dieser die Augen auf. „Der Halbling?" waren seine ersten Worte, kaum mehr als unverständliches Gemurmel.
„Keine Sorge. Bilbo ist hier. Er ist wohlauf", beantwortete Gandalf die Halbfrage des Zwerges. Die Erleichterung darüber, dass Thorin noch unter den Lebenden weilte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit warmem Blick und einem Lächeln auf den Lippen schaute er ihren Anführer an.
Linda bemerkte dies alles erst, als Thorin sich mit Hilfe Dwalins und Kílis aufrappelte. Sie stand am Rand des Felsens, doch auf der anderen Seite, auf die Thorin sich geradewegs zubewegte. Bilbo hatte er fest im Blick.
Die Augen des Zwergenkönigs suchten die des Halblings. Auch dem Hobbit war froher ums Herz geworden, da der Schwarzhaarige wieder stand. Lächelnd schaute Bilbo zurück.
„Du." Noch immer war Thorin wackelig auf den Beinen, aber das wollte er weder wahrhaben noch berücksichtigen. Schwankenden Schrittes ging er auf den Meisterdieb zu.
„Was hast du getan? Das hätte dich das Leben kosten können!", warf der Zwerg dem Hobbit vor, der verunsichert noch immer den Blickkontakt aufrechterhielt.
„Habe ich nicht gesagt, du wärst eine Last? Dass du in der Wildnis nicht überlebst? Dass du niemals zu uns gehören wirst?"
Beinahe traurig und etwas ängstlich senkte Bilbo die Augen. Ja, das hatte Thorin zuvor bereits sehr deutlich gemacht. Zuletzt sogar mit Worten, vor nicht allzu langer Zeit, damals, vor den Goblinhöhlen. Nichtsdestotrotz trafen die niederschmetternden Sätze tief.
„Ich habe mich noch nie so getäuscht, in meinem ganzen Leben", gab Thorin zu.
Noch einen Schritt auf den verwirrten Halbling zu machte er und schloss den Meisterdieb in eine feste Umarmung. Nach einem kurzen Moment der Überraschung erwiderte Bilbo diese.
Linda trat grinsend zwischen die applaudierenden Khazâd. Sie wusste noch genau, als sie damals diese Szene das erste Mal im Film verfolgt hatte, war sie genauso angespannt und zum Schluss erleichtert gewesen wie ihre Kameraden jetzt.
Dass Thorin Bilbo verzieh, wusste sie ja quasi. Ihr war im Moment wichtiger, dass sie alle hier waren, dass Linda keinen Toten zu verschulden hatte. Nach so gefährlichen Tagen und Stunden war dies wirklich ein Wunder. Das Mädchen lächelte. Sogar sie lebte noch.
Bofur zwinkerte der jungen Frau zu. Sie erwiderte seinen Gruß. Auch die erfahrenen Krieger waren froh, endlich der unablässigen Gefahr entronnen zu sein.
„Verzeih mir deine Zweifel an dir", fuhr Thorin an Bilbo gewandt halblaut fort. Dennoch hörte die Gemeinschaft mit. Das hätte ihr Anführer besser wissen müssen, natürlich wollten alle herausfinden, was sich die beiden jetzt zu sagen hatten!
„Nein. Ich hätte genauso an mir gezweifelt." Der Hobbit stellte dies fest als wäre es nichts Besonderes. Beinahe beiläufig. „Ich bin kein Held, und auch kein Krieger." Er sah hinauf zu dem Zwergenkönig, dann zu dem Zauberer.
„Nicht mal ein Meisterdieb."
Still lächelte Gandalf vor sich hin. Linda tat dies ebenfalls, denn während Gandalf ein Gefühl hatte, dass Bilbo für den Zweck der Meisterdieberei gebraucht werden würde, wusste sie, dass es so kommen würde. Nun ja, solange sie nichts durcheinanderbrachte.
Auf leisen Schwingen drehten die Adler eine Abschiedsrunde um den Carrock. Einer rief einen Gruß. Die Zwerge folgten den majestätischen Vögeln mit ihren Blicken. Hoch über die Bergspitzen sollte ihr Flug sie führen, und mit regelmäßigen Schwüngen brachten sie immer mehr Strecke zwischen die Gemeinschaft und sich.
„Ist das das, was ich denke?"
In der Stille war Bilbos Stimme beinahe verloren. Doch umso lauter war sie zu hören.
Die Zwerge und Gandalf folgten den Blicken des Hobbits.
Er hatte etwas erspäht, was Thorin zuvor ungläubig, traurig, suchend fixiert hatte. Der Halbling wollte wissen, ob seine Vermutungen richtig waren. Um besser sehen zu können, traten sie alle noch ein Stück näher an den Rand der Plattform.
Sie waren es.
„Erebor. Der Einsame Berg. Das letzte große Zwergenreich in Mittelerde."
Linda betrachtete ebenfalls die ferne Spitze. Groß und mächtig stach sie heraus, der Berg überragte alle weiteren Erhebungen der Nähe. Nebel verschleierte ihre Sicht auf Erebor. Die letzten Reste des Sonnenaufgangs tauchten den Himmel in Gold.
„Unsere Heimat", flüsterte Thorin ergriffen.
Keiner der Zwerge löste den Blick. Manche, wie Balin und Thorin, hatten diesen Gipfel viele Jahre zuvor das letzte Mal gesehen. Damals waren sie erfüllt gewesen von der Wut und der Entschlossenheit, ihren Berg eines Tages zurückzugewinnen. Andere, wie Fíli und Kíli, hatten den Berg nur aus Erzählungen gekannt. Verheißungsvollen Erzählungen, die von Trauer, Glück und ruhmreicher Vergangenheit gekündet hatten.
Jetzt sollten die alten Versprechungen wahr werden. Das Reich des Volkes Durin sollte wieder in ihre Hände fallen.
„Ein Rabe! Die Vögel kehren zum Berg zurück", rief Óin aus.
Tatsächlich. Ein kleiner Vogel flatterte zwitschernd in die Richtung des Einsamen Berges, allein war es kein Rabe.
„Das, mein lieber Óin, ist eine Drossel", berichtigte Gandalf den alten Zwerg. Dunkel hob sich das Singvögelein von dem hellen Himmel ab.
„Aber wir sehen es als ein Zeichen an. Als gutes Omen." Thorin wandte sich zu Bilbo. Auch ihr Anführer hatte ein Lächeln in den Augen.
Frohen Mutes meinte der Halbling: „Zurecht. Das Schlimmste liegt hinter uns, würde ich sagen."
Linda verfolgte dieses Gespräch nur aus der Ferne, doch kannte die Worte. Sie wusste, die Hoffnungen des Hobbits würden sich nicht erfüllen. Zu viel lag noch vor ihnen, zu viel trennte Erebor noch von den Zwergen.
Schier endlos erstreckten sich Wälder zwischen der Spitze und ihnen. Tannenwipfel wogen hin und her, ein Meer aus Grün und Braun, was nur versteckte, was es in sich hielt. Die Nebelschlieren waren noch immer nicht ganz verschwunden.
Passend zur Atmosphäre des Düsterwaldes waren sie. Dieser unheimliche Teil des Weges wartete noch auf sie, war schwerer als alle zuvor. Natürlich war auch das nicht alles.
Mit sorgenvoller Miene blickte Linda auf den Pfad, der vor ihnen lag. Die Gesichter ihrer Kameraden waren voller Zuversicht.
„Kommt. Lasst uns das Tageslicht nutzen", sagte Gandalf nach einer endlosen Weile. Die Zwerge hatten immer noch gebannt auf den fernen Berg gestarrt, aber der Zauberer hatte Recht. Durinstag war nicht mehr weit, sie mussten weiterreisen.
Ein einzelner Trampelpfad führte vom Carrock hinunter. Steil fielen die Wände des Felsen ab und gefährlich war auch dieser Weg. Das Mädchen jedoch verweilte noch immer in ihren besorgten Gedanken.
Was wäre, wenn? Ihre Reise war noch lang und die Gefahren wurden immer mehr, mit jedem Tag, mit jedem Schritt.
Eine besinnliche Stille legte sich über die Gemeinschaft.
Doch für Linda brachte sie keinen Frieden.
1243 Wörter, 29.04.2021
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