48. Kapitel
Das Mädchen keuchte. Ihr Atem ging schwer, doch das durfte sie nicht aufhalten. Ihre Verfolger saßen ihnen im Nacken, könnten sie jederzeit überholen und in Stücke reißen. Azogs gewaltige Wargschar war dazu mehr als nur imstande, sie war zu diesem Zweck hier.
Einen Blick über die Schulter riskierte Linda nicht. Zu uneben der Boden, zu kurz die Sicht im Dämmerlicht. Neben, hinter und vor ihr stürzten ihre Kameraden den Hang hinab, hoffend, rennend schneller zu sein als die riesigen Wölfe.
Natürlich war dem nicht so.
Der jungen Frau kam es wie eine Ewigkeit vor, aber lang konnte es keineswegs gewesen sein, jedenfalls spürte die Gemeinschaft, wie der Boden von den schweren Tatzen erbebte. Sie waren direkt hinter ihnen. Das Ende des Waldes war doch schon dort vorne, warum musste die Meute sie jetzt einholen?
Im Laufen zogen die Zwerge ihre Waffen. Auch bei der Flucht waren sie todesbringende Krieger, und schon bald fiel das erste Untier, das gerade angesetzt hatte, über die fliehenden Freunde zu springen.
Linda rannte, schneller, so schnell es nur ging. Aber nicht stolpern! Rasant ging es abwärts, und um ein Haar wäre sie aus dem Gleichgewicht gekommen. Doch sie war noch auf den Beinen.
Schneller, schneller.
Ihre Hand suchte ihr Schwert, aber was nützte ihr eine Klinge gegen so viele Gegner?
Die einzige Rettung war, aus deren Reichweite zu kommen. Obwohl alles schmerzte, ihre Lunge nach Luft schrie und die Unebenheit des Bodens sie immer wieder aus dem Tritt brachte, erhöhte das Mädchen ihr Tempo. Dort, dort vorne!
Genau! Sie mussten in die Bäume.
Linda fiel wieder ein, was sie jetzt zu tun hatte: klettern. Die Bäume wurden weniger und die Gemeinschaft kam an der Stelle an, hinter der es meter-, kilometertief hinabging. Und dort mussten sie die Zweige erklimmen.
Ihre Schritte verlangsamten sich ein wenig. Die Abenteurerin war froh, dass sie sich gegen keinen der Warge wehren musste. Das hatten ihre Kameraden übernommen. So war sie eine der ersten, die an der Klippe ankam, und diejenige, die als erste einen Kletterversuch wagte.
Anders als im Film musste Gandalf so nichts sagen, die Zwerge folgten ihr in die Bäume.
Natürlich sah auch diese Tätigkeit einfacher aus als sie war. Besonders, wenn man vorher durch einen Goblinstollen gejagt worden war und alles schmerzte. Mehr schlecht als recht zog sich das Mädchen auf den ersten Ast hinauf.
Sie stöhnte. Klettern hatte sie noch nie gemocht.
Die raue Rinde riss ihre Hände auf, nach ein paar Mal Hinaufwuchten brannten ihre Arme und ihr Rücken schmerzte noch immer von den Peitschenhieben, kurz: Linda ging es bescheuert.
Als sie halbwegs weit genug vom Boden entfernt war, erlaubte das Mädchen sich eine Atempause. Ihr Puls raste und die Laute ihrer Umgebung dröhnten in den Ohren, hatte sie sie bis eben doch noch ausblenden können.
Die junge Frau schloss die Augen. Einatmen, ausatmen, ein, aus.
Dann waren die gigantischen Wölfe da. Ihr Jaulen und Knurren, ihr Heulen und Drohen übertönte die meisten Geräusche, nicht aber das Trampeln ihrer großen Tatzen. Sie liefen nun weit unter dem Mädchen hin und her, ihre Beute hoch oben nicht erreichen könnend.
Irgendwo neben Linda, die immer noch ihre Augen geschlossen hatte, fragte ein Zwerg: „Alles in Ordnung?"
„Hmpffgrr", machte sie. Dann schlug sie stöhnend und seufzend die Augen auf. „Schon irgendwie. Noch alles dran", erklärte sie dem Fragensteller.
Fíli sah sie skeptisch an.
Doch er erwiderte nichts mehr. Etwas anderes war dem blonden Zwerg aufgefallen. Erschrocken und erstaunt riss er die Augen auf. Konnte das sein?
Linda folgte dem Blick des Durins.
Ein weißer, mondesbleicher Ork auf einem schneereinem Reittier war angekommen. Unheimlich schien das Licht auf ihn, tauchte ihn in kalten Schein, baute ihm eine Bühne. Wie ein Redner stand Azog der Schänder da, blickte von einem kleinen Felsvorsprung hinab auf die Bäume und hinab auf seine Jagdmeute.
Dann sprach er.
Oh, diesen Teil ließ Linda aus. Sie wusste ja, wovon er sprach – seine Soldaten sollten die Gemeinschaft töten und dazwischen war noch von viel Blut die Rede – und die Schwarzhaarige musste sich auf andere Dinge konzentrieren.
Nicht auf das, woran sie zuerst dachte, der Zwerg starrte ungläubig wie all seine Verwandten auf ihren todgeglaubten Feind, sondern auf einen festen Stand.
Vorsichtig richtete Linda sich auf, hielt sich fest, tatsächlich, stand in der Krone.
Sicher war dies nicht, allerdings besser als gar keine Vorbereitung. Denn so konnte sie gut reagieren – war sie eigentlich hoch genug? Ja, der Boden war sehr, sehr, sehr weit entfernt.
Sie verfestigte ihren Griff, sah sich die Äste um sich an, blickte wartend auf den großen Ork. Abwarten mochte Linda nämlich gar nicht.
Doch da hatte Azog das Signal schon gegeben. Auf schwarzer Sprache rufend und seine Waffe schwingend, schickte er die Wargmeute los.
Die großen Tiere schlichen nicht mehr um die Stämme herum, nein, sie sprangen die Bäume hinauf, bissen Äste durch, versuchten, die Kameraden zu erreichen.
Überraschte Aufschreie waren kurz zu hören, dann stellten sich alle der Herausforderung. Die Idee mit dem Hinstellen, so fand Linda, war nicht ihre schlechteste gewesen, aber nun musste sie aufpassen, nicht herunterzufallen.
Die Warge nämlich rammten die Stämme, die, da sie sich in Nadelbäume geflüchtet hatten, nicht allzu stabil aussahen. Reflexartig krallte sich das Mädchen an die Borke. Ein einziges Tier hatte ausgereicht, um den Baum, auf dem sie saß, gehörig ins Wanken zu bringen.
Natürlich war das nicht alles.
Mehr Stöße durchfuhren den Stamm, immer schwieriger fanden die Zwerge und anderen Halt und immer höher sprangen die furchterregenden Warge. Die Tannen (oder Fichten, Kiefern oder was auch immer) knarzten- und sie fielen.
Linda dachte nur an eins: Springen!
Irgendwie schaffte sie es, von ihrem Baum auf einen weiteren zu kommen. Sie fragte nicht nach dem Wie. Die übrigen Gemeinschaftsmitglieder wählten denselben Weg wie sie, doch auch der Baum, auf dem die junge Frau nun saß, war dabei umzukippen.
Erneut kam Linda auf irgendeine Weise zum nächsten sicheren Ast. Und nochmal. Und nochmal?
Das Geschrei ihrer Freunde, das beständige Jaulen der Wölfe und das furchtbare Knarzen und Krachen der Bäume erfüllte den Klippenvorsprung. Wie Dominosteine fiel die eine Tanne nach der anderen, krachte in eine andere, fiel über den Abhang in die Tiefe.
Zum Glück hatte sich die komplette Reisegesellschaft auf den letzten stehenden Baum retten können. Dieser stand, als wäre es nicht anders gegangen, genau auf dem Rand des Felsvorsprungs. Nicht viel bewahrte sie alle davor, in den Abgrund zu stürzen.
Linda verkniff sich Schmerzenslaute. Die Kletter- und Sprungpartie war nicht sehr angenehm gewesen, aber zu Ende war ihr Treffen mit der Wargschar immer noch nicht. Zwar kamen sie nicht an die Kameraden heran, die weit oben in den Zweigen hingen, doch noch immer versuchten sie, sie zu erreichen.
Knurrend fletschten die Ungeheuer ihre Zähne, sie setzten zum Sprung an, verfehlten, und versuchten es erneut. Lange würde auch dieser Baum den Angriffen nicht mehr standhalten können – und dann würden sie in die Tiefe fallen.
Hervorragende Aussichten.
Die Abenteurerin suchte sich einen neuen Halt in den Ästen der Krone. Immer festhalten, Linda, sagte sie sich. Ansonsten würde sie – huuuiii – hinunterplumpsen.
Der Zauberer schien zu einer ähnlichen Lageeinschätzung gekommen zu sein – es sah sehr, sehr schlecht um Thorins Kompanie aus – und beschloss, zu handeln. Gandalfs Blick fiel auf die riesigen Zapfen, die überall in der Tanne – oder Fichte oder Kiefer oder was auch immer, waldkundigere Leute als Linda würden sicher anhand dieser Zapfen die Baumart erkennen, was jetzt allerdings nichts zur Sache tat – hingen.
So wie die Zwerge.
Also, zurück zu Gandalfs grandioser Idee: Er pustete die Zapfen an.
1252 Wörter, 08.04.2021
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Linda gerade ziemlich albern ist. Aber, naja, ich glaube, sie leidet unter Reizüberflutung, akuter dauerhafter Lebensgefahr und Übermüdung. Was meint ihr?
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