44. Kapitel
„Weil wir schon letzten Dienstag in Dunland sein sollten", erläuterte Bofur noch immer. Er hatte auf die Frage, wer sie waren, eine sehr lange Antwort gegeben. Was nicht hieß, dass sie der Wahrheit entsprach.
Da der Zwerg kurz eine Pause machte, fügte Dori hinzu: „Um entfernte Verwandte zu besuchen."
„... ein paar Inzuchtgeschwister meiner Mutter", hatte der Spielzeugmacher den Faden wieder gefunden. Einen sehr durchsichtigen Faden, überlegte Linda, wenn sie bei dem Bild der Unwahrheit blieb. Jedoch war dem Orkkönig inzwischen klargeworden, dass diese Erzählung nicht stimmen konnte.
„Halt die Klappe!"
Weise war es nicht gewesen, den Großork zu unterschätzen. Er hatte die Macht über Scharen von Goblins, so ermahnte sich das Mädchen selbst, während der Wutschrei des weißen Riesen durch die Halle echote.
Nun hatte sie endgültig den Pfad der Diplomatie und des Humors verlassen. Die junge Frau befahl sich, bis sie aus den Höhlen hinaus waren, alles ernst zu nehmen und ernst zu bleiben. (Wenn das mal gut gehen konnte ...)
Denn jetzt kam der Kampfteil. Ihre erste wirkliche Prüfung in Mittelerde, wenn man das so wollte.
„Für das Schweigen müsst ihr zahlen mit unendlichen Qualen!", durchbrach die Stimme des gewaltigen Ungeheuers die Stille.
Gar nicht gut, gar nicht gut. Die Goblins fingen wieder an, freudig zu rufen und zu kreischen. In ihren Augen schien dieselbe Grausamkeit wie zuvor. Sie würden sich an den Schreien und Qualen der Gemeinschaft laben, bis sie diesen den auf Knien erbettelten Tod brachten.
Vereinzelt versuchten die Khazâd erneut, den Fängen der Orks zu entkommen. Zu verlieren hatten sie nichts mehr, oder? Alles war besser, als den unbarmherzigen Folterern ausgeliefert zu sein, sogar der Tod.
„Bring den Zerfleischer, bringt den Knochenbrecher!", grölte der König. „Fangt an mit dem Jüngsten!"
Sein Blick fiel auf Ori. Der schmächtige Jungzwerg sah ängstlich nach oben.
„Wartet!"
Einer der Zwerge hatte noch eine Idee. Thorin trat aus dem Schutz der Gemeinschaft vor, als er registrierte, was die Kobolde vorhatten.
Niemals, nie würde er einen aus seiner Gemeinschaft zu Schaden kommen lassen. Eher würde er sterben. Ihm war bewusst, dass der Großork ihn möglicherweise erkennen würde, doch vielleicht lag dies auch in Thorins Absicht.
Ihr Anführer stand nun schützend vor seinen Leuten.
„Wen haben wir denn da? Seht euch das an! Thorin, Sohn des Thráin, Sohn des Thrór, König unter dem Berge." Zur Unterstreichung seiner Worte verbeugte sich der Großork verächtlich. „Oh! Aber ich vergaß, ihr habt gar keinen Berg mehr."
Unbeweglich und ohne Regung in ihrer Miene standen die Zwerge da, wie der Stein, der sie umgab. Sie ließen sich nicht anmerken, ob, und wenn ja, wie tief sie sein Spott traf.
„Und du bist auch kein König, was dich im Grunde zu einem Niemand macht", stellte die widerliche Kreatur fest.
Damit war er wirklich zu weit gegangen. Thorin seinen Königstitel abzuerkennen! Dies war nicht nur falsch, sondern schlug in genau diese Kerbe, wegen der sie hier standen. Erebor war nicht im Zwergenhänden, das wussten sie, da brauchten sie keine Erinnerung.
Die Blicke ihres Anführers und des weißen Orks kreuzten sich. Keiner von beiden würde nachgeben und wegsehen. Sich gegenseitig niederstarrend, fochten sie ein Blickduell aus.
Der gigantische Fettklops fuhr fort: „Ich kenne jemanden, der einen hübschen Preis für deinen Kopf zahlen würde. Und nur für den. Ohne noch etwas dran."
Leises, hämisches Gelächter schwoll an. Die Orks, die nur eine Statistenrolle in der Theaterschau ihres Königs hatten, verbargen ihre Schadenfreude nicht länger. Töten und morden, das war alles, wofür sie lebten.
„Vielleicht weißt du ja, von wem ich spreche. Es ist ein guter alter Feind von dir."
Als der Goblin einen Schritt zurücktrat, klapperten die Steine und Knochenstücke, die an seinem Stab befestigt waren, gegen das Holz.
Thorins Maske der Gleichgültigkeit war durch eine schauerliche Grimasse ersetzt worden, er verbarg seine Abscheu nicht mehr. Ob es an den Erinnerungen oder den vehementen Schmähungen lag, konnte wohl selbst er nicht sagen.
Seinem Gegenspieler machte es Freude, ihn so hinzuhalten zu können. „Ein bleicher Ork auf einem weißen Warg!"
Ungläubige Stille der Khazâd. Nein, sie wollten es nicht wahrhaben.
„Azog der Schänder wurde vernichtet", presste der Zwergenkönig hervor. „Er wurde im Kampf getötet, vor langer Zeit!" In einer Schlacht, in der er selbst mitgekämpft hatte, in der er selbst dem Schänder tiefe Wunden zugefügt hatte.
„Du denkst also, seine Zeit als Schänder ist zu Ende, ist das so?" Der König des Orkreichs suchte einmal mehr den Blick ihres Anführers. Dann lachte er leise.
Schwerfällig machte er zwei Schritte zur Seite und wandte sich an einen kleinen Goblin.
„Benachrichtige den bleichen Ork. Sag ihm, ich habe gefunden, wonach er sucht!"
Nach wie vor starrten die Zwerge den Giganten grimmig an. Der unterirdische Höhlenaufenthalt war weder nach ihrem Wohlwollen verlaufen noch war er freiwillig. Wäre dies ein Hotel, dem man eine Bewertung geben musste, dann hätte die Gemeinschaft sicher nach Minus-Sternen gefragt.
Nun allerdings wurden die Pläne des Großorks konkreter. Er schickte einige Goblins los, um etwas zu holen, was, seinen Gesichtsausdruck nach, nur ein Folterinstrument sein konnte. Der Gemeinschaft verriet er allerdings noch nicht, was er vorhatte.
Linda wollte es nicht wissen. Sie wollte in diesem Moment sehr gerne unten bei Bilbo in den weitläufigen Höhlen von Gollum sein. Wer auch immer die Idee gehabt hatte, dass sie auf keinen Fall die beiden stören durfte – oh, Moment. Das war sie gewesen.
Jedenfalls würde sie gerade sehr viel lieber woanders sein.
Die Kreaturen schienen zu warten, ja, sie warteten auf etwas. Ihre Kameraden unterdessen sahen sich entweder nach Fluchtmöglichkeiten um (die waren nicht zu sehen), murmelten mit ihrem Nachbarn und wurden daraufhin auseinandergetrieben oder starrten grimmig in der Gegend herum.
Neben ihr gehörte Fíli eindeutig letzterer Fraktion an. Er besah sich das, was die Orks herbeischleppten: gigantische, aus Holz und Metall bestehende, furchterregende, grausige Konstruktionen.
Folterinstrumente.
Passend dazu fing der Orkkönig ein weiteres Lied an: „Knochen werden brechen, Hälse umgedreht. Es wird alles zertrümmert, erschlagen und gequält. Hier, wo jeder euch heut grausam sterben sieht, so wie's in Orkstadt gern geschieht!"
Dabei fingen die Goblins an, sie in Richtung der Gestelle zu schieben und zu ziehen. Das Mädchen war darauf nicht vorbereitet. Sie verlor den blonden Zwerg aus den Augen, als der orkische Kämpfer sie wegzerrte.
Doch auch sie konnte Widerstand leisten. Zwar nicht effektiv, doch da ihr Wächter nicht damit gerechnet hatte, blieben sie erst einmal in der Zwerg-Ork-Menge stecken.
Lindas Augen huschten unruhig hin und her. Es war doch eine Rettung vorgesehen, nicht wahr?
Sie hätte nichts dagegen, wenn die etwas früher käme. Doch was, falls niemand sie rettete und sie alle hier in dem dreckigen Loch sterben mussten? Energisch wehrte sie sich gegen den harten Griff des Untiers.
Plötzlich kreischte ein Ork.
Er hatte die Schwerter der Gemeinschaft inspiziert und war bei dem ihres Anführers angekommen: Orcrist, geschmiedet in den Elbenessen des Ersten Zeitalters.
„Ich kenne dieses Schwert! Das ist der furchtbare Orkspalter!", schrie der Großork auf. Entsetzen stand in seinen Augen und auch seine Untertanen wurden schier wahnsinnig vor Furcht.
Nein, nein, nein, das war nicht gut.
Die junge Frau riss sich aus den Klauen ihres Bewachers los. Doch kaum hatte sie einen Schritt gemacht, wurde sie zurückgetrieben. Die Goblins wüteten, sie schlugen und sie schrien.
Und sie peitschten.
Lange, schreckliche Peitschen hatten sie hervorgeholt, um ihre Gefangenen zu geißeln.
Kaum hatte Linda dies realisiert, traf sie der erste Schlag.
Es brannte, es schoss durch ihren ganzen Körper. Es schmerzte, sobald der Ork erneut ausholte.
Sie tat das Einzige, was ihr in den Sinn kam: Sie kauerte sich auf den Boden, hoffend, sich irgendwie verbergen zu können.
„Tötet sie! Tötet sie alle!"
1240 Wörter, 11.03.2021
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