43. Kapitel
„Unten in der Stadt der Orks!"
Der Goblinkönig schmetterte die letzte Zeile hinaus, während er sich (wahrscheinlich der Dramatik wegen) um sich selbst drehte und dabei alles, was in den Weg seines Zepters kam, in die Tiefe stürzen ließ.
Weil Linda nicht zu diesen Dingen gehören wollte, duckte sie sich gemeinsam mit ihren zwergischen Kumpanen. Das Lied des Großorks endete. Dem Mädchen wäre auch eine Strophe weniger recht gewesen. Allerdings hatten die entstellten Kreaturen sie während der „Musik" nicht belangt, begrapscht oder versucht, sie umzubringen. So hatte sie genügend Zeit gehabt, sich hinter Glóin und vor Balin zu verstecken – oder sich dort wenigstens in Sicherheit zu wägen.
Immer noch plagten sie Gedanken über den bevorstehenden Kampf. Sie musste es einfach überleben, sie musste.
Wie eine lästige Fliege schüttelte sie ihre Sorgen ab. Abgelenkt sein konnte sie im Moment gar nicht gebrauchen.
Sie hatte nachdenkend nur verpasst, wie der gigantische Fettklops zurück auf seinen Sitz getrampelt war. (Dies war ungefähr so spannend, wie einem riesigen Goblin bei einem Lied zuzuhören, das davon handelte, wie dieser sie malträtieren wollte.)
„Geht ins Ohr, nicht wahr? Eine meiner eigenen Kompositionen."
Das schien die Khazâd wenig zu beeindrucken. Wütend starrten sie den Großork an. Die junge Frau fand jedoch interessanter, die komplettes Szenerie zu betrachten – anstelle eines hässlichen, selbsternannten Königs.
„Das ist kein Lied, sondern eine Abscheulichkeit!", rief Balin zornig. Zustimmung erhielt er in Form von gemurmeltem Geschrei seiner Freunde.
„Abscheulichkeit? Gnadenlosigkeit! Grausamkeit! Das ist alles, was ihr hier unten findet", erläuterte der auf dem Thron Sitzende mit einem nichts Gutes verheißenden Lächeln. Er blickte die Gemeinschaft hämisch grinsend an, während er seinen Untertanen gestikulierte, ihm ihre Waffen auszuhändigen.
Der Ork, der sie hierhergeführt hatte, hatte Linda bereits am Anfang ihre Klinge entwendet. Samt ihrer Schwertscheide wurde diese nun auf einen Haufen mit den anderen Waffen geschmissen. Den Zwergen wurden noch ein paar mehr scharfe und zum Draufhauen gemachte Dinge entwendet, als die Goblins bereits gefunden hatten.
Auch wenn die Schwarzhaarige ahnte, dass zumindest Fíli nicht unbewaffnet war. Bei dem Waffenarsenal, das der Zwerg mit sich herumschleppte ...
Jedoch gefiel dem Großork die Menge an Klingen nicht, die vor seinem Sitz aufgestapelt lagen. „Wer hat es gewagt, bewaffnet in mein Königreich einzudringen? Spione? Diebe? Mordgesindel?"
„Zwerge, Euer Bosheit", antwortete ein Orkwächter.
Das Mädchen verdrehte bereits wieder innerlich die Augen. Als ob die Bezeichnung „Zwerge" in einer Reihe mit Dieben und Mordgesindel stünde! Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Außer man war ein Ork, denn das war gleichbedeutend mit allen drei Titulierungen. Aber das tat hier nichts zur Sache.
Man musste genau differenzieren zwischen solchen wertenden Bezeichnungen und sogenannten Rassenbezeichnungen – wenngleich ihre Einstellung zu Letzterem ... kompliziert war. Zwerge konnten nämlich auch Spione sein, aber das konnten Diebe auch. Ganz zu schweigen von Elben.
Um es kurz zu fassen, schweifte Linda schon wieder vom Thema ab, doch vor einem Exkurs in die Ecke des Elben-sind-manchmal-ziemlich-blöd-Denkens bewahrte sie ein erneuter Einwurf des unterwürfigen Goblins von zuvor.
„Sie waren in der vorderen Eingangshalle", erklärte er seinem Anführer. Hm, dachte sie. Melkors Brut sollte ein Schild aufstellen, damit solche Missverständnisse wie das, in das sie geraten waren, nicht mehr vorkommen würden. Denn ohne diesen Hinweis konnte man eine Eingangshalle leicht für eine verlassene Höhle halten. Und in ihr rasten. Völlig absurd, nicht wahr?
„Na, was steht ihr dann nur so rum? Durchsucht sie! Von oben bis unten, von allen Seiten!"
Oh, darauf hätte das Mädchen auch gerne verzichtet. Klauen strichen an ihren Armen entlang, an ihren Beinen, überall. Nicht, dass die Finger sie sanft berührten, im Gegenteil, grob und ohne Rücksicht wurde sie durchsucht.
Widerwärtige, mit Warzen übersäte, dreckige Greifer leerten ihre Manteltaschen und ihr schien es, als würde sie besonders gründlich abgetastet werden.
Sie fühlte sich unwohl. Wirklich, ungemein unwohl.
Nicht nur der Fakt, dass es Goblins waren, ließ sie schaudern. Niemandem hätte sie erlaubt, sie so anzufassen. Umso froher war sie, dass die Orks bald von ihr abwichen.
Der Großork, der wieder von seiner Sitzgelegenheit aufgestanden war, unterhielt sich mit einer anderen verabscheuungswürdigen Kreatur über etwas, was sie in den Säcken der Gemeinschaft gefunden hatten. Es war ein elbengemachter Kronleuchter, wie die beiden feststellten.
Die Zwerge betrachteten den unterirdischen König, während er seine Aufmerksamkeit auf das im zweiten Zeitalter gefertigte Teil konzentrierte. Sie schienen das Mädchen einmal mehr nicht wahrzunehmen.
Oh, nicht alle. Der blonde Prinz erwiderte ihren Blick, ihr schmales Lächeln jedoch fast nicht. Er schien beinahe besorgt. Worüber, konnte das Mädchen nicht sagen, doch als sie ihn ein zweites Mal betrachtete, beobachtete der sie immer noch. Oder wieder? Oder gar nicht? Was auch immer.
„Was hat euch in dieser Gegend geführt?"
Streng genommen eine Erinnerung, dachte Linda. Und die Zwerge ebenfalls das alte Bild ihrer Heimat. Den Hobbit hingegen, der nicht einmal mehr bei ihnen war, ein Versprechen eines alten Freundes. So gesehen hatte sie alle eine Erinnerung hierhergeführt.
Óin trat vor und hinderte gleichzeitig Thorin daran, sich vor den Goblinkönig zu stellen und damit seine Identität preiszugeben. „Keine Angst, Freunde, ich mach das schon!", meinte er.
„Keine Lügen! Ich will die Wahrheit, die reine Wahrheit!" Der Großork setzte sich mal wieder auf seinen Thron. Eine schwierige Sache, die er da verlangte. Denn von der Definition her konnte man Wahrheit ziemlich weit ausdehnen.
Der grauhaarige Zwerg sagte zu ihm: „Du musst schon noch ein bisschen lauter sprechen: Deine Brut hat meinen Trichter zertrampelt." Vermutlich versuchte er es mit einer plauderigen Taktik. Doch diese funktionierte nicht.
Eventuell hätte eine andere Strategie geholfen, nämlich mit dem Anführer über sein liedartiges Etwas zu reden. Doch leider fiel dies nur Linda ein – und dazu noch ziemlich spät. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die riesige Gestalt vor ihr.
Der unterirdische Herrscher hatte mal wieder beschlossen, dass sein Stuhl nicht ausreichend war, und stand auf, während er – versuchend, bedrohlich zu sein – ausrief: „Ich zertrampel' noch mehr als deinen Trichter!"
Wenngleich das fürchterliche Scheusal ziemlich furchterregend aussah. Linda versuchte einfach, sich nichts anmerken zu lassen. Die Ork-Zwerg-Menge um sie fing wieder an, sich gegenseitig zu schlagen und rumzuschreien und so weiter.
Bofur machte dem Ganzen ein Ende, indem er ein paar Schritte nach vorne trat und erklärte: „Wenn du noch mehr wissen willst, dann solltest du mit mir reden."
Die vielen Rufe verklangen einmal mehr. Der gigantische Großork schien zwar nicht begeistert, jedoch machte er dem Zwerg klar, dass er weiterreden dürfe.
Jetzt kam beinahe das Tollste an dieser ganzen Sache in der Orkstadt. Das Mädchen verkniff sich ein Grinsen. Sie war weiterhin relativ unbemerkt von den entstellten Bewachern geblieben. Es half, nicht herumzuschreien, wenn man die Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen wollte. Hier ist ein unauffälliger Seitenblick auf die Khazâd einzufügen.
Dennoch – sie spürte den schmierigen Atem der Kreaturen in ihrem Nacken und ihre grausamen Klauen auf ihrem Körper. Langsam fing sie an, sich nicht mehr vor dem bevorstehenden Kampf zu fürchten, sondern sich darauf zu freuen, diese Orks anzugreifen.
Also, mit der Erlaubnis des ortsansässigen Königs, erzählte Bofur: „Wir waren auf einer Straße. Es war eigentlich mehr Weg als Straße. Ach, was sage ich ‚Weg' – wenn ich recht überlege, war es sogar nur ein Pfad. Na, jedenfalls waren wir auf dieser Straße, also dem Weg oder Pfad, und plötzlich nicht mehr! Und das ist das Problem, ähm, weil wir schon letzten Dienstag..."
Der große Goblin sagte, ja, flüsterte: „Halt die Klappe."
Das Problem dabei war, dass niemand ihn gehört hatte.
1216 Wörter, 04.03.2021
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