41. Kapitel
Um gleich auf den Punkt zu kommen: Nein, Linda schaffte es nicht, sehr lange zu schlafen. Sie wurde geweckt vom angeregten Gespräch zweier Kameraden.
„Du hast Heimweh. Das verstehe ich. "
„Nein, das verstehst du eben gerade nicht! Das versteht keiner von euch, ihr seid Zwerge."
Oh, da hätte sie doch lieber weitergeschlafen. Bofur und Bilbo unterhielten sich flüsterschreiend darüber, ob Zwerge Heimweh haben konnten. Besser gesagt, verhielt sich der Halbling gerade etwas rassistisch.
Obwohl man in Mittelerde mit „Rassen" etwas anderes meinte als das, was das Mädchen gewohnt war. Sie fragte sich, ob sie überhaupt dieses diskriminierende Wort in den Mund nehmen wollte. Ihre Historie, ihre Welt hatte sie etwas anderes gelehrt.
„Verzeih, ich wollte nicht ...", meinte Bilbo. Er und der Zwerg hatten geschwiegen, nachdem der Hobbit den Khazâd im Allgemeinen unterstellt hatte, nirgendwo sesshaft zu sein und nirgendwo hinzugehören.
Mittelerdehistorisch betrachtet fühlten diese sich wohl wirklich etwas fehl am Platz. Doch – was kümmerte sie das? Jetzt waren die Zwerge ja da.
Das Mädchen überlegte, wo wohl die Verwandten von Durins Volk lebten. Denn Bilbo hatte mit seiner These, dass diese Zwerge, dass das Volk der Langbärte kein Zuhause hatte, recht. Der einsame Berg gehörte ihnen nicht – nicht mehr, im Moment nicht, noch nicht.
Langsam gewöhnten sich die Augen des Mädchens an das Dämmerlicht in der Höhle. Der Zwerg und der Hobbit standen nahe dem Ausgang. Eine beunruhigende, nicht angenehme Stille hatte ihr Gespräch unterbrochen.
Doch Bofur beendete diese: „Du hast ja recht." Er drehte sich um, ließ seinen Blick über die schlafende Gemeinschaft schweifen. „Wir gehören nirgendwo hin."
Die junge Frau hoffte, dass der Hutträger nicht bemerkt hatte, dass sie bereits wach war. Das würde ihr nämlich einige unangenehme Fragen einbringen.
Andererseits schlief ihr Anführer ebenfalls nicht mehr. Thorin lag, genau wie sie, wach und wartete darauf, dass etwas passierte. Doch im Gegensatz zu ihm wusste sie, dass wirklich etwas geschehen würde.
Der schwarzhaarige Zwerg hatte nur ein Gefühl – ein Gefühl, dass irgendetwas in dieser Höhle nicht richtig war. Beziehungsweise dachte Linda, dass Thorin ahnte, dass etwas nicht stimmte.
Also, sie vermutete in diesen Momenten ziemlich viel. Das alles aufzuzählen wäre nun sinnfrei, denn Bofur wandte sich erneut an Bilbo: „Ich wünsche dir alles Glück auf der Welt. Ganz ehrlich."
Es lag Wärme in seiner Stimme. Der Zwerg meinte es so. Wenn Bilbo wirklich zurück nach Bruchtal und dann nach Beutelsend gehen wollte – es war seine Entscheidung. Doch die Zwerge waren seine Freunde geworden.
Der Hobbit drehte sich um, um mit einem letzten Blick endgültig die Gemeinschaft zu verlassen. Doch – was war das? Nur Bofur war dies aufgefallen.
„Was ist das?"
Langsam zog Bilbo die Klinge aus der Schwertscheide. Ja, seine Waffe war regelrecht durchdrungen von dem bläulich-schimmernden Licht.
Keiner der beiden hatte eine Ahnung. Doch etwas Gutes könnte das auch nicht sein.
Jetzt müsste im Film die spannungsaufbauende Musik kommen. Dramatisch und so.
Linda verdrehte die Augen und stand auf. Jetzt war es egal, ob sie die Einzige war, die dies tat, weil nun auch ihr Anführer bemerkt hatte, dass hier etwas wirklich nicht stimmte.
Die Zwerge und der Hobbit suchten immer noch nach des Rätsels Lösung. Was passierte hier?
Plötzlich knarzte etwas.
Es knarzte ganz fürchterlich, als würde tief unter ihnen eine alte Holztür geöffnet. Aber – sie waren doch in einem Berg?
Leise, fast unhörbar rieselte Sand durch eine Fuge. Immer schneller werdend verschwand der Staub vom Höhlenboden und gab eine Ritze frei.
Ein Spalt zu ihren Füßen? Wohin führte der?
Zu nichts Gutem, wie Thorin befand.
„Wacht auf. Wacht auf!"
Es rumpelte, es knarzte, es knirschte. Eine Sekunde lang schauten die Zwerge ihren Anführer fragend an. Dann öffnete sich der Boden.
Riesige Steinplatten wurden von einem unsichtbaren Mechanismus aufgeklappt, sodass dies, was ihnen eben noch als sicherer Untergrund erschienen war, seine wahre Natur offenbarte: Sie hatten die Nacht auf einer gewaltigen Falltür verbracht.
Der erste Fall war kurz, dann prallten sie an den steinernen Wänden ab. Linda war selbst etwas überrumpelt, das Wissen darüber, was geschehen würde, hatte ihr nicht geholfen, die plötzliche Bodenlosigkeit besser aufzufangen. So rein psychologisch gesehen. Praktisch taten auch ihr bei dieser Rutschpartie durch das Felslabyrinth alle Knochen weh.
Sie schrien. Sie fielen und sie rutschten und sie rollten, diese – scheinbar angelegte – Bahn entlang.
Sie stießen sich die Köpfe, Hände, Beine und alles weitere an dem Gestein.
Die wilde Rutschfahrt endete in einem grob gezimmerten Auffangkorb. Das wusste das Mädchen, ohne hinzusehen. Ihre Augen hielt sie lieber geschlossen, hoffend, dass dies doch alles nur ihren Kopf entsprang.
Natürlich war dies nicht so. Dennoch – in diesen Sekunden, in denen sie dort aufeinandergestapelt lagen (was wirklich nicht erfreulich war), schickte sie ein Stoßgebet an Mahal und alle Valar, die ihr sonst noch irgendwie zuhörten. Es sollte doch in ihrem Sinne sein, dass sie das hier überlebte, oder?
Weil ein Zwerg neben ihr sich eindeutig mehr bewegen wollte und sie deshalb sich anstrengen sollte aufzustehen, versuchte sie genau dies. In dem Zwergenkuddelmuddel, welches mit heruntergefallenen Waffen durchsetzt war, wollte jeder auf die eigenen Beine kommen.
Nein, es war wirklich nicht viel Zeit vergangen zwischen dem Ende ihre Rutschpartie und dem Anfang vom Ende.
Irgendwie musste sie doch dramatische Stimmung hier reinbringen, wenn schon die Hintergrundmusik fehlte.
Irgendwo schrie ein Zwerg: „Bombur, geh von mir runter!" Ein anderer warf einem weiteren dessen Schwert zu, welches er beim Hinabfallen verloren hatte. Noch mehr Rufe schallten durch die unterirdische Höhle, in der sie gelandet waren.
Doch sie alle handelten nicht von ihrem größten Problem: ihren Gastgebern.
Von dem Geschrei der Gemeinschaft angelockt kamen sie alle: schauerliche, den Albträumen von Kindern entsprungene, grausige, widerliche, hinterlistige, entstellte, blutdürstige, grausame, mordlustige Orks.
Die Goblins kamen mit begeistertem Gekreische, freudig, ihre Opfer nach Lust und Laune zu misshandeln.
„Achtung!"
Der Warnruf kam zu spät. Die Kreaturen hatten sie bereits erreicht und der ungleiche Kampf begann.
Also, soweit man das einen Kampf nennen konnte. Die Orks hatten nämlich nicht im Sinn, sie zu töten, sondern sie als Gefangene mitzunehmen. Nichtsdestotrotz hatte die Gemeinschaft keine große Lust darauf, in die Gefängnisse der Goblins verschleppt zu werden.
Sie wehrten sich mit Händen und Füßen, mit Waffen, wenn sie sie erreichen konnten. Dori versuchte, während er aufstand, mit Tritten und Schlägen die Kreaturen, die es auf ihn abgesehen hatten, zu vertreiben.
Ja, immer mehrere gingen auf einen der Zwerge. Linda wusste nicht, wie ihr geschah. Mit einem Mal waren die Kobolde überall gewesen und wehren konnte sie sich nur schlecht. Also beschränkte sie ihre Kräfte darauf, gierige Hände wegzuschlagen.
Es reichte, die Goblins anzusehen, da musste sie nicht durch deren widerliche Greifwerkzeuge die ganze Zeit an deren Präsenz erinnert werden. Oh, das taten die Schreie auch.
Die Orks waren außer sich vor Begeisterung, dass jemand als Eindringling gefangengenommen wurde (oder sie waren ziemlich wütend auf die Gemeinschaft, dass sie ohne Erlaubnis in ihr Reich gekommen waren). Sie grunzten und kreischten und fabrizierten noch andere Geräusche, die zu hören ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Die Reisenden wurden, nachdem die Zwerge gehörig Widerstand geleistet hatten, inmitten der Orkmassen mitgeschleift und mitgezogen. Das Mädchen sah rundherum nur Goblins. Sie waren einfach überall und sie waren sehr viele. Sehr, sehr viele.
„Lass mich los!" – „Dreckiges Pack!"
Geschlagen gaben sich die Zwerge noch nicht. Doch sie ließen sich widerwillig abführen, sehr widerwillig. Vielleicht aber auch hofften sie auf Diplomatie - die sie in den dunklen Orktunneln garantiert nicht finden würden.
1221 Wörter, 18.02.2021
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