34. Kapitel
Der Morgen zeichnete mit einem Pinsel erste erhellende Farbtupfer an den schwarzen Nachthimmel. Leise konnte man vernehmen, wie sich einige Gestalten bemühten, unbemerkt von einem Ort zum anderen zu kommen.
Doch auch ohne das Gehör eines Elbens hatte Linda die Zwerge bemerkt. Mit einem Leuchten in den Augen stürzte sie aus dem Zimmer, die Tür fiel hinter ihr zu.
Vierzehn Augenpaare starrten die reisefertige Abenteuerin an.
Dann zog Thorin die Augenbrauen zusammen. Seine Mundwinkel zuckten. „Zu spät seid ihr nicht, eher pünktlich, holde Maid."
Ach. Das also wieder. Die altbekannte Ehrfurcht, vermischt mit ein klein wenig Ironie; die bedingt durch den Respektverlust nach der Trollsequenz. Und die späte Stunde.
Da war auch der nervtötende Teufelskreis wieder. Leise seufzte Linda.
Blicke streiften sie, viele Blicke – woran sie sich besser gewöhnen sollte. Die Gemeinschaft betrachtete sie, als sie in ihren Räumen verschwanden.
Beinahe schien es ihr, als wären sie immer noch da, die schweigsamen Beobachter, wenngleich sie längst in ihren Gemächern die letzten Dinge zusammenpackten. Das hieß, Linda war ungestört.
Kurz frei, bevor wieder unausgesprochene Dinge die Beziehung zwischen ihren Kameraden und ihr erschwerten. Drückende, auf ihren Schultern lastende Steine – so hatte das Mädchen das Aufeinandertreffen eben wahrgenommen.
Der Morgen dämmerte über Bruchtal. Einzelne Vogelstimmen zirpten, zwitscherten und wurden immer mehr.
Ein Seufzer entkam der Reisenden. Damit musste sie sich jetzt also zurechtfinden.
Leichter Nebel schwebte in der Luft. Er war kühlend auf ihrer Haut, doch gleichzeitig erschwerte er ihr ihre Sicht. Also ziemlich äquivalent zu ihrer Situation: Alles war im Unklaren, die Vorwürfe der Khazâd immer präsent und diese ließen sich nicht loswerden.
Das Geräusch von sich öffnenden Türen unterbrach ihre deprimierenden Gedankengänge.
Linda sah sich um. Ja, die ersten Zwerge gesellten sich zu ihr, ohne ihr Gesellschaft zu leisten.
Ihre Mundwinkel zuckten leicht. Dieser Satz war wunderbar paradox.
Stören ließ sich die junge Frau von ihnen zwar schon, aber anmerken ließ sie sich nichts. Sie fuhr fort, Imladris in den frühen Morgenstunden zu beobachten.
Der Tau perlte von einem Blatt ab, um dann in ihrer ausgestreckten Hand zu landen. Fasziniert betrachtete Linda dieses Naturspektakel. Vermutlich, weil es so etwas auf der Erde selten zu bestaunen gab.
Auch das Mädchen war in einer Stadt aufgewachsen (und sie hatte Bücher meist den Abenteuern draußen vorgezogen). So gesehen waren sie und Bilbo sich gar nicht so unähnlich.
Dieser tippte gerade auf Lindas Schulter. Ihr Kopf fuhr herum.
Man musste schon einmal würdigen, dass die Zwerge es geschafft hatten, unbemerkt zu verschwinden. Fast – ganz um die Ecke waren sie noch nicht gegangen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen wisperte sie ein „Dankeschön" in Richtung des Hobbits, bevor sie sich der Prozession anschloss.
Die Khazâd hatten sich ihr Gepäck auf den Rücken geschnallt, Taschen, Waffen und Vorräte. Wegen der Metallteile wurden die heimlichen Wanderer von einem durchgehenden Geklirr begleitet, untermalt von den schweren Schritten der Kinder Aules.
Die weißen Wände wurden von ihren schemenhaften Schatten in ein besonderes Theater verwandelt. Eine ganz andere Geschichte war zu sehen als jene, die durch detaillierte Bilder auf ihnen dargestellt wurde. Beren und Lúthien? Vielleicht.
Gelegentlich war zusätzlich noch ein Geflüster zu erahnen – diese Geräusche alle behinderten ihre Mission, ungesehen aus Bruchtal zu kommen, theoretisch erheblich. Nun, nicht praktisch, wie die junge Frau bald feststellen würde, denn im Moment schlich sie beunruhigt durch die leeren Gänge der Stadt.
Denn niemand bemerkte die in den Schatten wandelnde Gesellschaft.
Erneut fiel Lindas Blick auf die Gepäckstücke der Zwerge. Dabei bemerkte sie zweierlei: Zum einen dachte sie nur noch über die Khazâd als eine feste Gruppe.
Woran das wohl lag? Hm, vielleicht daran, dass sie sie geschlossen mit Ignoranz bedachten?
Nun, bis auf Thorin. Der hatte sie vorhin angesprochen – vermutlich gezwungenermaßen, da sie eine Auserwählte (was für ein Quatsch eigentlich) und ein Teil der Unternehmung war. Und er hatte sich deutlich missachtend ihr gegenüber verhalten. Sofern man dies in einen Satz alles hineininterpretieren konnte.
Und der Zwergenkönig war auch das Zweite, was ihr aufgefallen war: Er trug keine Tasche.
Pff, hielt der sich für was Besseres? Der älteste Zwerg musste natürlich die Verantwortung als einzige Last tragen, ergänzte die junge Frau sich selbst spöttisch.
Der gepflasterte Weg ging nun über in einen steinigen Weg. Überrascht sah Linda sich um.
Sie hatten das Labyrinth von Bruchtal verlassen, ja, ganz. Imladris hatten sie verlassen.
Nur erahnen konnte das Mädchen, wo sie ihr Pfad entlangführte, gleichwohl war „bergauf" wohl die treffendste Beschreibung. Vor ihnen erhoben sich riesige Felsformationen. Riesig im Sinne von gewaltig, riesengleich, unglaublich und monströs zugleich. Staunend blickte sie empor.
Linda war kurz stehengeblieben, folgte aber jetzt schnell ihren Reisegefährten. Thorin stieg bereits in den Stein gehauene Stufen hoch. Diese schienen weiter oben in einen Gebirgspfad überzugehen, oder zumindest hoffte Linda das.
Endlos viele Stufen – ohne Geländer! Ihr deutsches Sicherheitsgefühl schlug bereits jetzt Alarm.
Aber diese Berge, die waren schon ziemlich groß. Das Bild eben hatte sich bei ihr eingebrannt. Riesige, monströse Steine, vielleicht hunderte Meter hoch – eine natürliche Schönheit.
Ob sie die Stufen zählen sollte, überlegte sich die junge Frau, bevor sie die Treppe in Angriff nahm. Sie entschied sich für Nein.
Denn sie war eben bei einem Thema stehengeblieben – beziehungsweise war ihr Gedanke, dass Thorin als einziger mit ihr gesprochen hatte, falsch.
Was hatte Fíli sich eigentlich dabei gedacht? So kurz nach ihrem „Verrat", wie ihr Anführer ihre Aktion bei den Trollen sicherlich ansah, - und dann noch als Thorins Erbe. Hatte er ihre Begegnung überhaupt jemandem erzählt?
Aber der Zwerg war doch zu ihr gekommen und hatte sich damit eindeutig der Gesinnung seines Onkels widersetzt. Vielleicht hatte sie den unausgesprochenen Vorwurf in den Augen ihres Freundes nicht gesehen. War Fíli mit ihr befreundet gewesen?
Wahrscheinlich waren die Durinprinzen auf dem besten Weg dahin gewesen. Jetzt nicht mehr.
Gedankenverloren beobachtete Linda den blonden Zwerg. Als hätte er ihre Blicke auf sich gespürt, verschwand er hinter einer Biegung. Die Abenteurerin selbst schnaufte gerade die letzten Stufen hoch.
Jetzt lief sie einen schätzungsweise einen Meter breiten Pfad entlang, der sich immer weiter nach oben schlängelte. Und mit oben meinte sie auch oben. Die letzten Ausläufer der Elbenstadt sah Linda, als sie rechts des Weges hinabsah. Ziemlich weit hinab.
Das Mädchen schluckte. Mit ihrer linken Hand berührte sie vorsichtshalber die massive Felswand. Geländer hatte hier niemand installiert.
Aber, so schalt sie sich, sie musste weitergehen. Irgendwie halt.
Im Angesicht der Gefahr, mit einem Schritt in den Tod stürzen zu können. Und von der Gemeinschaft abgehängt zu werden.
Wie Fíli eben verschwand nun auch Bilbo hinter der Biegung, sodass das Mädchen scheinbar allein auf weiter Flur war. Was war sie auch für ein Angsthase! Seufzend schritt sie weiter aus, damit sie zu ihren Kameraden aufschloss.
Regelmäßig hüpfte die Tasche, die sie sich über die Schulter geworfen hatte, hin und her. Hier oben war das Gezwitscher der Vögel in den Garten Bruchtals nicht mehr zu hören. Aber das allzeit rauschende Wasser war auch hier präsent.
Lindas Blick löste sich nicht von dem steinigen Pfad vor ihr. Auch ihre Schwertscheide spürte sie bei jedem Schritt.
Nein, zu Hause wäre diese Panoramastraße nicht zugelassen.
24.12.2020, 1150 Wörter
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