6. Kapitel
Es wäre ein Wunder gewesen, wenn dieser Plan aufgegangen wäre. Sie wären entspannt zur Schatzkammer hinuntergestiegen und hätten in aller Ruhe Goldstücke gezählt. Aber nein, alle ihre Vorbereitungen mussten durcheinandergeworfen werden.
Denn Dáin hatte an diesem Tag das Gefühl verspürt, dass er gerne innerhalb von drei Tagen aus dem Erebor aufbrechen wollte. Nach Thorins weithin zu vernehmenden Worten war das zum einen viel zu wenig Zeit zur Vorbereitung und zum anderen aus heiterem Himmel gekommen.
Linda hatte sich ihren Teil gedacht, als sie im Arbeitszimmer des Königs von einem ganz und gar nicht herrschaftlichen Zwerg in Rage begrüßt worden war. Das Schimpfen war halb Westron, halb Khuzdul, was ihr das Verstehen schwer machte. Balin stand ein wenig hilflos daneben.
Nach einer Minute hatte das Mädchen genug. Ihre Anwesenheit war nicht gebraucht, eher behinderte sie die nun notwendigen Vorgänge, also verzog sie sich zu dem einzigen Ort, den sie in diesem Berg einigermaßen kannte: Der Dachboden.
Zwei Tage später war dieser aufgeräumt, sie hatte das Schreiben mit der Feder verbessert, viel über den Erebor aus alten Zeiten gelernt und alle Zwerge waren wesentlich entspannter. Linda? Nun, die... auch. Gewissermaßen.
Sie hatte versucht, so wenig Zwischenfälle wie möglich zu verursachen und war den Gemeinschaftsmitgliedern aus dem Weg gegangen. Kaum hatte sie die anderen gesehen, nur zum Essen ab und zu ein paar.
Was nicht dazu beigetragen hatte, dass sie sich besser gefühlt hatte. Klar, Kíli war ausgesprochen nett zu ihr gewesen, Thorin und Balin ebenfalls (in ihren Möglichkeiten), um gar nicht erst von Óin anzufangen. Bofur, Bombur, Bilbo, alles so wie immer. Vor dieser neuen Stresssituation, natürlich.
Und dann Fíli.
Linda würde lügen, wenn sie sagte, dass sie nicht alle ihre Gedanken an ihn verschwendet hätte, nicht andauernd durchgespielt hätte, was bitte sie falsch gemacht hatte, dass sie nicht geweint hätte in der Einsamkeit des Abends im Einsamen Berges.
Was war mit ihm los?
Die Frau war der Meinung gewesen, dass sie sich mit ihm weitaus besser verstanden hatte als mit all den anderen. Sie hatten sich so oft unterhalten, so gut verstanden, mit Worten, ohne Worte. Und jetzt ignorierte er sie?
Solchen Herzschmerz hatte Linda noch nie erlebt. Es brach in ihrer Brust, sie spürte das Messer, die scharfe Klinge, wenn sie ihn sah. So konnte es doch nicht weitergehen! Vor allem jetzt, da sie mit ihm zusammenarbeiten sollte. Anweisung von ganz oben.
Schließlich also stand das Mädchen am Tag nach der Abreise der Eisenbergzwerge in ihrem Zimmer und sprach sich Mut zu. Laut, aber auf Englisch, damit sie niemand verstehen konnte.
„Ok, girl, gonna do this step by step. If this idiot can ignore you, you can do so as well." Interessant, dass sie die Sprache immer noch so gut beherrschte. Immerhin war es ein ganzes Jahr seit ihrem Verlassen der Erde gewesen, ganz zu schweigen von ihrer letzten Englischstunde im Klassenzimmer.
Sie atmete tief durch. „He is making no sense at all. But you have given him enough time, by now he must.... just say something!"
Es half tatsächlich, trotz der grauenvollen Grammatik. Sie spürte wieder Selbstvertrauen, genug, es mit einem Durin aufzunehmen.
Dieses allerdings hatte sie wieder verlassen, als sie ihrem Aufpasser für die nächsten Tage gegenübersaß. Fíli würdigte sie keines Blickes, obwohl sein Bruder zunächst mit Linda, dann mit ihm ein Gespräch geführt hatte.
Köstliches Essen. Ach, und wie interessant, die Tischplatte. So... braun, holzig!
Der Braunhaarige verzweifelte sichtlich. Er nahm einen letzten Happs und stand auf. „Euch beiden", er starrte auch sie nieder, warum?, „einen wunderbaren Tag." Dann war er fort.
Zu Lindas großem Glück hatte sich Bilbo bereiterklärt, ihr beizustehen (oder vielmehr mit ihnen zusammen den Schatz zu durchforsten). Der Hobbit beendete sein Frühstück als Letzter, wie üblich.
Das Mädchen griff nach dem Geschirr des Halblings und brachte es zu Bombur, froh, endlich irgendetwas tun zu können. Ihre eigene Schale hatte sie längst, nachdem zwanzigmal ausgekratzt, auf die Ablage gestellt.
Nun also sollte es losgehen. Linda vermied Augenkontakt, Fíli auch.
„Folgt mir", brummte der Zwerg thorinlike. Er stapfte los.
Mit hochgezogenen Augenbrauen folgte die Frau.
Tatsächlich wusste Fíli, wo er entlanggehen musste. Bei all ihren Streifzügen vor der Schlacht war Linda nie in die Nähe des gewaltigen Schatzes geraten – vielleicht, weil sie das nicht gewollt hatte, da Smaugs Hort die Konfrontation mit dem drachenkranken Anführer bedeutet hätte.
Er führte sie tief in den Erebor. Sie durchquerten die Küchen, dann die Schmieden, und das Mädchen wurde den Gedanken nicht los, dass dies nicht der kürzeste Weg zur Kammer war. Wenn es die Absicht des Durins war, Bilbo und sie orientierungslos herumirren zu lassen, hatte er dies nach der dritten Treppe geschafft.
Der Halbling und die Frau warfen sich gelegentlich bedeutungsvolle und schmerzerfüllte Blicke zu, warum hatte dieser Berg auch so viele Stufen? Fíli schien das nicht zu stören, er trug einen Sack mit unergründlichem Inhalt über der Schulter und wurde trotzdem immer schneller, je näher sie dem Ziel kamen.
Auf einmal waren sie da. Der gewaltige, unglaubliche, nie erfasste Schatz Thrórs schüttete sich vor ihnen aus, Gold, so weit das Auge reichte, ein unermesslicher Haufen Zeugs. Wertvollen Zeugs.
Stumm staunte das Mädchen. Wie konnte nur irgendjemand solche Mengen Schmuck, Metalle, Edelsteine anhäufen? Das hier war doch nicht mehr real.
Allerdings war es das, und das merkte sie, als Fíli sie hinab auf den Goldhügel leitete. Sie sollten hochkraxeln, den sich unter ihnen bewegenden Berg besteigen. Der Zwerg suchte sich den höchsten Punkt des Schatzes aus, um alles zu überblicken.
Dort angekommen, ließ sich Linda schnaufend in die Münzen fallen. Das hier war auch noch im Sitzen unglaublich, nur nicht mehr so anstrengend.
Sie schwiegen allesamt, ließen den Anblick auf sich wirken. Ein wenig verunsichert schaute sich die Frau das erste Mal an diesem Tag Fíli genauer an. War es die Drachenkrankheit, die in seinen Irden das gierige Feuer anschürte?
Nein. Noch nicht. Linda war erleichtert, ohne dass sie gewusst hatte, dass sie diese unterschwellige Angst zuvor begleitet hatte.
„Also", meldete sich Bilbo zu Wort. Er verschränkte die Arme und zog die Nase kraus. „Irgendeine Idee, wie man das hier vermessen könnte?"
Linda hatte sie nicht, genauso wenig Fíli.
Der Halbling fuhr fort, als hätte er das vorher einstudiert. „Wir müssen die Maße des Goldes und der Halle miteinander vergleichen, dann haben wir das Volumen. Und damit eine grobe Abschätzung, was für unsere Zwecke reichen wird."
Verblüfft blinzelte die Abenteurerin. Das war die absolut richtige Idee.
„Aber wie? Sind diese alten Karten etwa erhalten?" Der Durin hielt den Vorschlag noch nicht gut, wenngleich auch nicht schlecht.
Verschmitzt lächelnd nickte der Hobbit. „Allerdings. Ich habe Balin heute gefragt. Morgen hat er sie hervorgekramt, er muss noch Ordnung schaffen in seinem Arbeitszimmer."
„Muss er gar nicht, das hab ich erledigt. Und ja, Bilbo hat recht, da gibt es ein ganzes Regalbrett an Karten, ich hab sie gestern erst entstaubt." Dass ihr das nicht früher eingefallen war! Jetzt sorgte sich Linda allerdings, was Balin zu ihrem Buch-Sortierungs-System sagen würde.
Ihr war irgendwann so langweilig gewesen, dass sie die Papiere und Abschriften nach ihrem Gutdünken geordnet hatte. Das, was sie sich traute zu berühren, und außerdem die, die sie identifizieren konnte. Also Lektüren mit der ihrigen Schrift beziehungsweise solche mit eindeutigen Grafiken.
Schließlich hatte sie noch eine Skizze mit ihren Änderungen und Vorschlägen bereitgelegt, aber dem Berater keine Silbe verraten. Ehrlicherweise hatte sie sich ein wenig vor seiner Reaktion gefürchtet – und tat es immer noch. Nun denn.
„Heute", riss der Prinz sie wieder in die Realität zurück, „sollten wir die besonderen Stücke heraussuchen und protokollieren. Die größte Mehrheit dieser Masse hier sind alle Arten von Gold- und Silbermünzen sowie die Edelmetalle in Reinform, doch die Edelsteine und verarbeiteten Dinge sind unbedingt herauszusieben."
Die Frau nickte. Das klang nach einem Plan.
Allmählich wurde der Stapel an Dingen, die irgendetwas Besonderes waren, immer größer, und Lindas Liste immer länger. Während Bilbo und Fíli unermüdlich Gegenstände heranschafften, schrieb sie das auf, was der Zwerg ihr diktierte.
Er hatte ihr delegiert, dass sie sich nicht bewegen und die Spalten auf dem Pergament füllen sollte, da sie ja noch verletzt war. Die Frau hatte diese Übervorsichtigkeit nicht kommentiert, gleichzeitig aber registriert, dass er ihr immer noch nicht in die Augen gesehen hatte. Kein direkter Blickkontakt, kein Wort mehr als nötig.
Wieso? Was war bloß los mit ihm? Die drei schwiegen zwar die meiste Zeit in normaler Arbeitsatmospähre, doch alsbald die Abenteurerin einen Kommentar abließ oder ein Gespräch anfing, reagierte der Zwerg nie darauf. Mit dem Halbling kam die Schwarzhaarige weitaus besser zurecht.
Innerlich seufzte Linda. Ihre Feder schmückte die nächste Zeile mit „Diadem aus Silber mit 21 Edelsteinen, vermutl. von Kgin Rín" und vermerkte den Zustand – ausgezeichnet, nur etwas angelaufen. Allmählich leerte sich das zweite Tintenfass.
Es war interessant, was Zwerge alles aus Edelmetallen fertigten. Sie hatten ein ganzes Geschirrset aus Gold gefunden, bei dem Fíli meinte, es war wohl für Dís' Aussteuer bestimmt gewesen, und eine Mithrilkette, die vielleicht älter war als alles andere, die Zwergenstadt eingeschlossen.
Das nächste Teil war ein riesiger, roter Edelstein, der aus einer noch ungefundenen Fassung gebrochen war. Gerade setzte Linda die Feder an, als ein gewaltiges Beben den Berg durchzog.
Linda warf sich reflexartig auf den Boden, schützte ihren Kopf mit den Händen, spürte, wie das Tintenfass neben ihr zerbrach. Durch das enorme Getöse hörte sie gerade noch, wie Fíli rief: „Bleibt um alles in der Welt hier!"
Dann war der Zwerg weg.
Augenblicke später verstummte der ohrenbetäubende Lärm. Es folgte eine ebenso schwere Stille.
Blinzelnd blickte das Mädchen auf von ihrem Platz neben dem Haufen wertvoller Dinge. Ihr Herz pochte laut. Ein paar Juwelen waren heruntergerollt, das Zeugs hatte sich über die gesamte Plattform verteilt. Fíli war weggerannt, aber wo war Bilbo?
Der kauerte neben einer Säule noch mitten in Thrórs Schatz. Wenn sie das auf die Entfernung richtig sah, zitterte der Hobbit am ganzen Körper.
Vorsichtig richtete sich Linda auf. Die klebrige Flüssigkeit, die ihren Körper hinunterlief, war Tinte, kein Blut. Ein paar Scherben hatten ihren Arm verletzt, aber nichts Schlimmes.
„Alles gut?", rief sie besorgt. Sie zitterte innerlich und äußerlich.
Der Halbling antworte mit schwacher Stimme: „Alles gut. Bin nicht verletzt."
1637 Wörter, 25.11.2022
Alles gut, ich habe euch nicht vergessen. :3
Tja... böser Cliffhanger, oh, ich weiß.
Nichtsdestotrotz kündigt sich bald die Adventszeit an, und damit auch mein dazu passender Kalender! Freut euch auf... TdA!!
Und ja, insbesondere ihr TdM-TdF-Lesende und eh schon Mittelerdekundige dürft besonders gespannt sein...👀👀
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