5. Kapitel
Inzwischen wusste das Mädchen, wie die Hallen unter dem Berge so hell erleuchtet wurden. Mit einem komplizierten System von sich bewegbaren und fest installierten Spiegeln sowie Schächten, die gleichzeitig zur Belüftung dienten, war es in den oberen Ebenen des Berges nie ganz dunkel.
So konnte sie mit dem ersten Sonnenstrahl aufstehen, wenn sie das denn wollte. Selbst nach einer Outdoor-Reise durch ganz Mittelerde innerhalb von mehreren Monaten hatte das Mädchen kaum Zeitgefühl, weswegen sie erst zum Frühstück kam, als Bombur alles abgeräumt hatte.
Doch der rothaarige Zwerg hatte mitgedacht und stellte ihr mit einem Augenzwinkern eine Schale voll Brot hin. „Iss nur in Ruhe! Balin ist gerade mit Thorin in die vorderen Hallen gegangen, er meinte, er würde dich dann hier abholen."
„Danke!" Nicht nur die – hoffentlich – bevorstehende Führung durch den Berg mit Balin stimmte Linda froh, sondern auch die Tatsache, dass er ihr versprochen hatte, ihr eine Beschäftigung zu beschaffen. Gleichsam durfte sie nicht, das war eine strikte Anweisung des Heilers gewesen, unbeaufsichtigt den Tag schweifen lassen.
Und das wiederum war etwas, was sie sowieso schon die letzten Tage zur Genüge getan hatte. Im Bett liegend. Zu Tode gelangweilt.
Wie gut, dass sie jetzt mit eigenen Ohren vernehmen konnte, auf welche furchtsame Art und Weise ihr Freund, der Küchenchef, die Hilfen aus Thal ausschimpfte. Anscheinend hatte ein Mädchen den Weg nicht gefunden und war deswegen gestern nicht zur Arbeit erschienen.
„Natürlich nicht, warum sollten wir uns auch Sorgen machen? Vielleicht, weil vor wenigen Tagen erst ein Großteil der Kinder in Berg verstecken gespielt hatte, wir sie dann nicht mehr gefunden haben, und nur mit Glück alle wieder heil angekommen sind? Der Berg ist groß, selbstverständlich, aber niemand verschwindet hier ohne Abmeldung!"
Die – durchaus berechtigte, wenn auch nicht ganz an dieser Lautstärke, das arme Kind – Tirade vernahm Linda, weil die Tür zu der Küche, welche sich direkt an diesen Speisesaal anschloss, geöffnet war. So hörte sie, wie der beleibte Zwerg seine Gehilfen umherscheuchte und sie die Vorräte ordnungsgemäß verstauten.
Es war immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich sich Bombur in den verschiedensten Situationen zeigte; kaum ein Wort hatte er mit Linda Anfang ihrer Reise gesprochen, allerdings in der Küche lag die Leitung fest in seiner Hand. Ein wenig amüsiert hörte die Frau dem Theater dort zu.
„Ah, Linda, da bist du ja!" Der weißhaarige Berater des Königs betrat die Halle von einer anderen Seite. Seine Stimme durchbrach energisch die Länge des Saals. „Komm, ich habe heute viel zu erledigen."
Er war schon wieder halb auf dem Gang, wo er mit Thorin diskutierte. Eilends stellte die Schwarzhaarige ihr Geschirr zusammen und folgte den beiden Zwergen.
Wenig später fand sich Linda im Arbeitszimmer des Königs wieder. Leider kein Rundgang, dasselbe alte Mobiliar wie gestern. Auch heute hatte sie die freundliche Anweisung bekommen, sich doch ein Buch zu nehmen und zu lesen.
Zwar hatte sie gelächelt und sich bedankt, doch innerlich sich gefragt, ob das wirklich das war, was er ihr versprochen hatte. Eine Aufgabe. Sie war nicht nutzlos.
Ihren Vormittag verbrachte sie unter dem Dach versunken in eine Lektüre. Der Gespräche unten verfolgte sie gar nicht, sie hörte kaum, wenn Besucher kamen und wieder gingen. Nicht einmal die hitzigen Diskussionen störten sie. Irgendwann wurde ihr selbst das zu langweilig.
Lesen, schön und gut, die Sonne stand im Zenit und der Tag lag vor ihr. Warum musste sie sich in einer verstaubten Kammer vergraben? Schon halb die Treppe herunter, hielt sie inne.
Sie wollte die Gastfreundschaft der Zwerge nicht beleidigen. Balin und Thorin versanken bis zu den Haarspitzen in Arbeit. Eigentlich wollte Linda sie nicht noch mehr belasten.
„Na, genug gestöbert?", riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken. Überrascht schaute das Mädchen nach unten. Kíli grinste sie an.
„Was machst du denn hier?" Linda hatte wirklich nicht registriert, was passiert war.
„Mir noch mehr Arbeit aufhalsen lassen." Der Zwerg verdrehte genervt die Augen. Er verdeutlichte seine Worte durch eine theatralisch an die Brust geworfene Hand.
„Ach, wenn du so viel hast, kannst du mir noch welche abgeben, oder?", rutschte es der Frau hinaus.
„Wie?" Kíli war verdutzt.
Linda versuchte, ihr Anliegen darzulegen. Sie wollte ihm nicht vor den Kopf stoßen, und, ja, nicht nach noch mehr fragen. „Ich bin euch allen unglaublich dankbar und so weiter, ich weiß, dass ich mich schonen soll, aber ich komme mir so nutzlos vor!" Sie beschrieb mit den Armen einen Kreis um sich herum.
„Überall sind Baustellen, jeder hat mehr zu tun, als er bewältigen kann. Und ich sitze hier rum und lese. Es ist nicht so, dass ich nichts tun kann. Ihr könnt doch sicher jede helfende Hand gebrauchen."
Nachdenklich betrachtete der Zwerg zunächst sie, dann die Arbeitsstube, dann wieder sie. „Ich glaube tatsächlich, du hast recht", meinte er ehrlich erstaunt.
Linda verkniff sich einen sarkastischen Kommentar.
„Uns allen wächst dieser Berg über den Kopf, Dáin und der Elbenkönig und die ganzen Menschen dort unten... Kannst du schreiben?"
„Ja, allerdings kein Khuzdul." Linda ahnte, worauf er hinauswollte... oder?
Der Braunhaarige schien eine Idee zu haben. Verschmitzt lächelnd verschwand er zu seinem Onkel, ihr mit einer Geste verdeutlichend, sie sollte wieder nach oben gehen. Die Frau hob eine Augenbraue. Aber dann trat sie doch wieder zurück ins Zwielicht der Bücherstube.
So saß die Abenteurerin wenig später am riesenhaften Arbeitstisch von Thorin und kritzelte ein verunglücktes Pergament voll – mit einer Gänsefeder. Zunächst lag das Schreibgerät ungewohnt in ihrer Hand, sie drückte zu sehr auf, dann zu wenig, Tintentropfen schmückten ihre Finger.
Aber je länger die Abendschatten wurden und je dunkler es in der Stube wurde, desto sinnvoller erschienen die geschwungenen Linien auf Papier. Sie begann, ersten Worte zu schreiben, dann Sätze, manche schnell dahingehuscht, manche kunstvoll gestaltet.
Balin warf einen Seitenblick auf ihre Übungen. „Nicht schlecht für das erste Mal."
Linda lächelte. Sie fand das hier gar nicht schlimm. Sie hatte heute nur so nebenbei einiges über die Politik des Erebors und Thorins persönliche Meinung über einige... Leute kennengelernt. Alles sehr aufschlussreich.
Langsam konnte sie kaum noch die Hand vor den Augen erkennen. Sie beobachtete gespannt, wie sich die beiden Zwerge emotional über die Restaurierung und die damit verbundenen Kosten unterhielten. Danach, so ihre Hoffnung, wartete Bombur mit dem Abendessen. Doch zuerst diese Diskussion.
„Thorin, ich kenne die Geschichten über den Schatz deines Großvaters. Aber alle Legenden werden ausgeschmückt! Wir werden jedes Goldstück brauchen!"
Der König seufzte entnervt. „So naiv bin ich nicht, natürlich nicht. Bitte, Balin, bedenke, dass wir auch in den Blauen Bergen einigen Wohlstand erwirtschaftet haben. Selbstverständlich stecke ich jedes Silberstück wohlüberlegt in diesen Berg."
„Und wenn wir in die Verhandlungen mit Thranduil und Bard gehen, werden wir eine Menge Gold brauchen. Bei Mahal, wir haben keine Vorräte mehr!" Balin wurde laut.
„Ich weiß, ich weiß! Sogar der Elbenkönig wäre nicht so bescheuert, nur auf Materialien zu pochen. Außerdem", Thorin schnaubte verächtlich, „liegt ihm sehr viel an diesen Juwelen – du weißt schon. Bündnisse und Verträge locken selbst den Waldlandherrscher."
„Das heißt, du willst ihm diese wirklich geben?" Balin schaute abwartend auf den Schwarzhaarigen.
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Fíli trat herein.
Der Berater kam ihm entgegen. „Gut, dass du da bist, mein Lieber. Dein Onkel und ich können uns nicht einigen, es waren sehr lange Tage. Aber wie sollen wir mit dem Schatzproblem umgehen?"
Der Prinz schien zu wissen, was Balin damit meinte. Sein Blick huschte kurz über Linda, die davon überrascht war, sie war doch eh nur ein Teil der Möbel, nicht anwesend und ganz sicher nicht die ganzen Staatsgeheimnisse mitkriegend, dann wandte sich Fíli den Streithähnen zu. „Zunächst einmal müssen wir wissen, wie viel es ist. Es bringt nichts, mit Hypothesen zu verhandeln."
Die verblüffte Stille zeigte Linda, dass die älteren Zwerge diese Lösung einerseits für gut hielten und sich andererseits fragten, weshalb sie nicht selbst darauf gekommen waren.
Thorin nickte anerkennend. „Ja, tu das. Ich denke, du benötigst dazu mindestens die Hilfe von zweien." Er starrte ins Dunkel und schien nachzudenken.
Das gab dem Mädchen Zeit, den Blonden unauffällig zu mustern. Seine Augenringe waren ebenso schwarz wie die aller anderen der Gemeinschaft, die Linda getroffen hatte. Eine oberflächige Wunde an der Hand war noch von der Schlacht zurückgeblieben, seine Klamotten hatte er seitdem auch nur sporadisch gewechselt.
„Allerdings", durchbrach der Anführer die Stille, „haben wir vor der Schlacht gesehen, was dieser immense Schatz mit einem Zwerg machen kann."
Drachenkrankheit. Linda schauderte.
Thorin richtete sich ein wenig auf und ließ seine Worte dadurch wie einen königlichen Beschluss wirken, was sie, nun ja, waren: „Niemand darf diesen Schatz alleine besichtigen, überhaupt ist der Zugang zu diesem Raum nur der Gemeinschaft vorbehalten. Du nimmst Bilbo mit, wenn er das möchte, und ja, Linda auch."
Alle Blicke fielen auf sie. Ihr Herz setzte einen Moment aus.
„Und benötigst du noch mehr Hilfe, sag Bescheid, dieses Zählen hat Priorität." Er betrachtete seinen Neffen mit einem durchdringlichen Blick, dieser nickte.
Immer noch hatte Fíli sie kaum mit den Augen gestreift, sie wusste nicht, was er von ihrer nun gemeinsamen Aufgabe hielt. Linda wartete, ob er es tun würde, als Thorin verkündete, dass der Prinz morgen anfangen sollte. Fíli tat es nicht.
1488 Wörter, 11.11.2022
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