21. Kapitel
Linda hatte viel über Zwerge gelernt, über ihre Essgewohnheiten, wie zäh sie im Kampf oder auf einer schier endlosen und hoffnungslosen Reise im verregneten Gebirge waren, und stückchenhaft über ihre Kultur. Doch das Wichtigste hatten sie alle ausgeblendet, denn immer waren andere Prioritäten gesetzt worden. Noch nie hatte das Mädchen eine wirkliche zwergische Party miterlebt.
Oh nein, ein gewöhnliches Herumsitzen mit ein wenig Alkohol und viel Essen war es keineswegs, zunächst gab es ein mehrgängiges Festmahl samt Trinkspiele, die ersten beiden Bierfässer wurden geleert. Deswegen war die Stimmung umso besser, als es endlich hieß „Musik!" und der Tanzboden eröffnet wurde.
Zu Bofurs Flöte stimmte Dwalin einen dröhnenden Gesang ein, die anderen begannen zunächst zu stampfen, dann herumzutanzen. Ja, alle, keiner setzte sich in eine Ecke und sah zu. Wenn wir von Linda absahen. Ihr war das ein wenig suspekt.
Sie freute sich, dass ihre Freunde ihre Freude hatten. Nur blieb sie höchst skeptisch und das hier sollte garantiert nicht ihre erste Begegnung mit Alkohol werden. Es gab sicher noch weitere Feiern, denen sie aktiv beiwohnen konnte. Nur nicht unbedingt... jetzt.
Also grinste sie vor sich hin, klatschte eifrig mit und versuchte, einen Sinn in den Tanzbewegungen zu finden. Die Zwerge machten das tatsächlich sehr gut, sehr talentiert. Kíli schien (unter recht viel Einfluss der gereichten Flüssigkeiten) der Engagierteste zu sein, er zerrte nach und nach Unbegeisterte zu sich heran und verwickelte sie in komplizierte Schrittgefolgen.
Das Lachen dröhnte und ließ den Berg erbeben. Stundenlang hätte die Abenteurerin dieser lustigen Meute zusehen können, doch auch ein Bofur wurde einmal müde. Irgendwann verlegten sich die Zwerge nur noch auf das Trinken, dem sie vorher bereits ausdauernd zugesprochen hatten. Es sei an dieser Stelle noch einmal gesagt, dass es sehr viel Bier brauchte, um einen Zwerg in einen betrunkenen Zustand zu versetzen.
Linda saß also zwischen Dori und Balin, welche sich auf Khuzdul unterhielten und von Zeit zu Zeit in Kicheranfälle verfielen. Bombur ihr gegenüber ratterte wie ein Wasserfall Rezepte hinunter, damit „Liin-a" auch kochen lernen konnte. Sie musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Und für den Report, sie fühlte sich nicht unbehaglich zwischen all den höchst besoffenen Khazâd. Es war einfach nur extrem lustig.
Thorin und Kíli, beispielsweise. Sie diskutierten gerade sehr ernsthaft, warum sie nicht alle Statuen im Berg durch Abbilder von Bilbo ersetzen sollten. Wer dafür und wer dagegen war, änderte sich allerdings andauernd.
„Über-, überlech doch ma- hicks-, dass niemand ihn kennt! Wir könn' ihn noch nich mal deiner Ma vorstelln, denn er is nich mehr daaa!" Thorin nahm noch einen Schluck aus dem Becher.
Kíli hob einen Finger, zeigte mit ihm schwankend auf die Tür. „Daur, Ta-u-rie-hl hat gesagt, dass ihn niemand kennt! Und wenn überall Stautaen, Stuteen, Stati-dings rumstehn von ihm, dann wern alle fragen, wer des is! Hicks."
Der mächtige Zwergenkönig nickte, sah sich im Raum um, nickte weiter. Sein Neffe fuhr fort: „Ach, meine Taurel! Is leider nich hier. Wollt ned. Hat gesacht, sie erkundigt den Berg nach weiteren Elben, hihi, als ob sich die Leute von Thraendilue, Thra- ach, dem blassen Idioten hier verstecken würn!"
Thorin, Kíli und Dwalin brachen in kollektives Gelächter aus, das die anderen ansteckte. Linda lächelte ebenfalls, doch in ihrer Magengegend breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Ihr hatte die Elbin ausgerichtet, sie würde sich hinlegen. Sie hatte es als ein Versprechen angenommen. Natürlich Schwachsinn, hatte die Rothaarige doch während Thranduils Aufenthalt die meiste Zeit genau dort verbracht, nach der niederschmetternden Diagnose umso mehr. Sie brauchte nicht noch mehr Schlaf. Und als die Feier begonnen hatte, war die Sonne gerade an ihrem Zenit angekommen, was ihr mehr als genügend Zeit zum Spazierengehen einbrachte.
Linda hatte ihre Freundin in Ruhe gelassen. Ein Fehler? Tauriel hatte (auf Deutsch gesagt) beschissen ausgesehen. Und jetzt wanderte sie vielleicht alleine durch den Erebor? Die Frau gähnte verhalten. Ja, ins Bett könnte sie auch mal gehen, ihr Schlafdefizit ausmerzen. Bombur hatte nämlich zu schnarchen begonnen und freiwillig würde sie sich diesem Geräusch nicht länger aussetzen wollen.
Also griff sie ein paar leere Krüge und tat so, als wolle sie sie auffüllen (anders hätte Bofur sie nicht gehen lassen), jedoch stellte sie das schmutzige Geschirr an der Spüle ab und schlich sich heraus. Auf dem Gang angekommen, versuchte sie die Ereignisse zu verarbeiten. Unzählige Anekdoten konnte sie mitnehmen, unzählige Geschichten, die ohne den Alkoholeinfluss niemals die Oberfläche des Gesprächflusses erblickt hätten.
Verschmitzt lächelnd schüttelte sie noch einmal den Kopf über ihre Freunde. Sie schlug den kürzesten Weg in Richtung der Schlafkammern ein, der nachmittägliche Erebor wurde durch eine schüchterne Sonne erleuchtet. Es war ungewöhnlich still, lediglich die Sauflieder der Zwerge tönten durch die Gänge.
Nein, die Menschen hörte sie hier nicht. Zum einen feierten diese wahrscheinlich gerade auch kein sausendes Fest und zum anderen besaß der Einsame Berg tatsächlich eine verhältnismäßig gute Schalldämmung. Bei ihren Zimmer angekommen vernahm sie nämlich kein Geräusch mehr außer das ihres eigenen Atmens.
Vorsichtig klopfte Linda an ihre Nachbartür. „Tauriel?" Keine Reaktion. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass ihre Freundin zumindest ein wenig vernünftig war und inzwischen zurückgekehrt war.
Noch einmal: „Tauriel, bist du wach?"
Einige Sekunden verstrichen, dann schob die Abenteurerin die Tür langsam auf. Die Schatten im abgedunkelten Raum wichen, während sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnten. Routiniert scannte die junge Frau alle Ecken ab, keine Tauriel, die zusammengesunken auf einem Stuhl schlief. Auch in ihrem Bett lag sie nicht, das waren lediglich die Decken.
Linda biss sich auf die Lippen. Keiner der Zwerge befand sich in einem Zustand, in welchem er auf die Suche nach der Elbin gehen könnte, geschweige denn wollte. Ebenso die Menschen, die Tauriel anscheinend noch weniger leiden konnten.
Also musste sie das alleine tun. Wie war auch ihre Kameradin so unvernünftig gewesen, auf eigene Faust losziehen zu wollen? Die Elbin konnte kaum laufen, kannte sich nicht im Berg aus, hatte keine zwergischen Instinkte. Bei Mahal, der Gros des Erebors war einsturzgefährdet!
Sie riss sich aus der eigenen Starre. Also, doofe Idee von Tauriel. Wie fand sie sie am schnellsten? Mit einer Karte, denn auch Linda besaß wenig Ortskenntnis. Der kürzeste Weg zu Thorins Büro? Schon eilte das Mädchen wieder die Gänge entlang.
Ein wenig außer Atem und mit Staub in den Atemwegen (hatte sie doch durchwegs nach Tauriel gerufen) kramte die Schwarzhaarige in Balins Akten herum. Sollte sich ihre Geldzählaktion doch noch auszahlen? Tatsache, sie fand die gesuchten Karten auf Anhieb.
Mehr Zeit durfte sie nicht verschwenden. Wohin würde die Kriegerin eher gegangen sein? Sie suchte laut Kíli nach Zurückgebliebenen aus dem Düsterwald. Doch das konnte auch nur ein vorgeschobener Grund sein. Ihre Freundin war eine Elbin, und diese sehnten sich nach Licht, Natur, Wind. Hätte sie nur...
Also nach oben, nicht nach unten. Nach einem kurzen Blick auf die verfügbaren Treppen machte Linda sich an den Aufstieg. „Tauriel!", echote es durch die verstaubten Säle.
„Tauriel", murmelte Linda und stöhnte auf. Ihre Füße schmerzten, ihre Kehle war trocken und sie hatte sich verirrt.
Ja, sie war dumm gewesen. Getrieben von der Angst um ihre Freundin hatte sie nichts vernünftig durchdacht, hatte weder Essen noch Trinken noch eine Lampe mitgenommen. Geschweige denn jemanden Bescheid gesagt, dass sie sich auf den Weg machte.
Sie befand sich schätzungsweise drei bis vier Stockwerke über dem Eingangsbereich und kam zum fünften Mal an derselben Statue eines Zwergs vorbei. So bescheuert von ihr! Hätte sie nicht einfach logisch handeln können? So wie immer?
Linda versank also in Selbstzweifeln, als sie beschloss, zunächst eine Pause zu machen. Sie lehnte sich gegen besagtes Ebenbild eines berühmten Schmieds oder so, spürte den harten, kühlen Fels in ihrem Rücken. Das Abendlicht ertrank ebenfalls, weshalb sie die Pergamente jetzt nutzlos mit sich herumschleppte.
Nach einer Weile voller innerlicher Vorwürfe seufzte die Schwarzhaarige erneut und rappelte sich auf. Wenn sie nämlich die Nacht hier verbringen sollte (worauf der logisch denkende Part ihres Gehirns sie schließlich rationalerweise gebracht hatte), benötigte sie einen bequemeren Platz. Dieser hier war höchst... nicht bequem.
Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Hier war sie eben nicht gewesen, doch diese Richtung schien vertrauensweckend. Bedachtsam schlich sie voran, denn vorhin hätte einmal beinahe der Holzboden unter ihr nachgegeben, dieser Raum hingegen bestand den Test.
Linda erkundete den Flügel weiter. Im nächsten Saal fand sie Schimmel vor, in dem darauf ein Skelett. Die Tür voller Spinnenweben mied sie, die nächste jedoch war lediglich angelehnt. Langsam schob die Schwarzhaarige sie auf, ein unangenehmes Quietschen ertönte.
„Wer ist da?"
Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Dass noch andere Lebewesen im Berg mit ihr lebten, ließ sich auf den Streifzügen durch unbewohntes, jahrelang vernachlässigtes Terrain gerne vergessen.
„Fíli?" Linda räusperte sich. „Ich bin's, Linda."
„Mh." Zwei blaue Augen starrten sie aus der Dunkelheit an.
Warum- Sie hinterfragte das Ganze hier am besten nicht mehr. Das Mädchen atmete einmal tief durch.
„Weißt du den Weg zurück?" Ihre Stimme blieb ruhig, kalt, emotionsbefreit.
„Nein, aber du hast eine Karte bei dir. Kannst du sie nicht lesen?"
Danke auch, Herr Ach-so-freundlicher-Zwerg. „Ich konnte sie lesen, als ich noch die Hand vor meinen Augen gesehen habe. Jetzt nicht mehr."
Fíli schwieg kurz. Dann antwortete er: „Wir Khazâd können recht gut in der Nacht sehen, notwendig für das Leben unter Tage. Aber wenn du nichts erkennst... es wäre zu gefährlich, jetzt noch auszuprobieren, uns nach unten durchzuschlagen. Morgen beim ersten Sonnenstrahl geht es los."
„Also hast du auch nichts zu essen bei dir." Lindas Kommentar verhallte ungehört im Nichts. Sie konnte ja mal probieren, die Stimmung aufzulockern, aber nein, ihr Begleiter schien heute noch schlechter gelaunt als sonst.
„Ich habe keinerlei Material gefunden, was als Nachtlager dienen könnte. Hier in diesem Zimmer ist es am wärmsten", meinte Fíli knapp.
Sie hoffte, dass er ihr überraschtes Gesicht nicht bemerkt hatte. Wow, Anzeichen von anständigem Verhalten ihr gegenüber. Sie war, in der Tat, doch nicht unsichtbar.
Die Abenteurerin ging sehr langsam und extrem vorsichtig zum anderen Ende des Raumes. Inzwischen hatte der allerletzte Lichtstrahl den Erebor verlassen und die Nacht hatte jegliche Farbe verloren. Alles, was Linda sah, war Dunkelheit.
Sie tastete den Boden ab, legte sich behutsam auf den Stein. Ihr Rücken wurde jetzt schon steif von dem harten Untergrund, obwohl sie von der Reise hierher einige Unangenehmlichkeiten gewohnt war, bildete nackter Fels eine neue Kategorie des Antibettes.
Halblaut seufzte Linda. Das konnten lange Stunden werden.
1671 Wörter, 03.02.2024
Wir kommen dem Finale des ersten Teils immer näher...
Was, denkt ihr, passiert noch alles? 👀
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