14. Kapitel
Ori beugte sich über eine der ausgebreiteten Karten, die Balin heute Morgen erst mit Tusche skizziert hatte. „Diese hier kann uns weiterhelfen, sie zeigt alles an, was im Moment betretbar ist."
Linda trat an den Tisch. Und tatsächlich, dieses Pergament war hilfreicher als die alten Karten auf Alt-Khuzdul, die selbst der ausgebildete Schreiber nur mühsam hatte entziffern können. Außerdem waren die Baumeister damals so misstrauisch gewesen, dass sie nicht die detaillierte Realität, nicht einmal alle öffentlichen Wege im Erebor abgebildet hatten – beziehungsweise sogar absichtlich Fehler eingebaut hatten, wie die zwei Buchwälzenden bald bemerkten.
Also hatten sie sich mit Erlaubnis die frisch getrockneten Verzeichnisse der restaurierten und inspizierten sowie für gut befundenen Pfade geholt, die Balin eigentlich zum Zwecke der Dokumentation des Baufortschritt gezeichnet hatte. Nun also durften sie (der Zwerg, Linda nicht) nach genauer Anweisung markieren, welche Wege die Menschen nicht betreten durften, und danach dementsprechend Schilder anbringen.
Für die besaß das Mädchen die Verantwortung. In Großbuchstaben malte sie seit Stunden die Worte „VERBOTEN" und „DURCHGEHEN ERLAUBT" auf Holzstückchen, die als nicht wertvoll erachtet worden waren und deshalb ihrer Aktion zum Opfer fallen durften. Natürlich hatte die genaue Formulierung der Worte zunächst Thorins strenge Ohren passieren müssen, er wollte über alles genau Bescheid wissen.
So lief es auch nicht zufällig so, dass Balin unter ihnen arbeitete und gelegentlich vorbeischaute, um „ein Buch zu holen". Pfft. So häufig war er nicht hier oben gewesen, als Linda die Bibliothek geordnet hatte, und das waren Tage gewesen.
Immerhin genossen die beiden ungleichen Gestalten so viel Vertrauensvorschuss, dass sie alleine die mühsam bepinselten Holzscheiben anbringen durften. Das erforderte viel Kreativität, wie Linda bald merkte, da sich im Erebor schlecht Nägel in die Wände schlagen ließen, welche nämlich allesamt aus Stein bestanden.
Schweigend reichte Linda Ori das Seil, das sie sich über die Schulter geschlungen hatte, er säbelte ein Stück ab, um ein weiteres „VERBOTEN" aufzuhängen. Wussten die Menschen überhaupt, was da stand, ja, konnten sie überhaupt lesen? So schoss es der jungen Frau durch den Kopf.
Ihr Begleiter hatte in der Zeit, die sie heute seit der Besprechung im Saal verbracht hatten, noch nicht viel mit ihr kommuniziert. Das Hinzuholen im Arbeitszimmer vorhin war fast schon ein Wunder gewesen. Langsam sank die Sonne, langsam wurde der Sack mit den Holzplättchen immer kleiner.
Das Abendessen bereitete Bombur wahrscheinlich bereits zu, sicher klapperten in der Küche die Töpfe und ein wunderbarer Duft durchzog die Luft. Das Wichtigste jedoch fehlte. Bilbo, der jede Kochstunde zu einer lustigen gemacht hatte, zog mit Gandalf durch die Weiten Mittelerdes.
Jetzt erst erlaubte sich Linda, diesen Fakt zu realisieren. Ihr Freund war weg. Und sie hatte keine Ahnung, wann sie ihn wiedersehen würde, keine Ahnung, wohin sie jetzt mit all ihren Problemen gehen sollte. Er war ihr wirklich ans Herz gewachsen, der kleine Halbling.
Eine Leerstelle blieb bereits jetzt. Das Mädchen ließ ihren Blick in der Ferne schweifen.
Halt, da war jemand. Und kam auf sie zu. Linda legte den Kopf schief.
Auch Ori hatte seine Arbeit unterbrochen, wortlos warteten die beiden, bis die Person sie erreicht hatte. Dass es Kíli war, realisierte die junge Frau erst spät.
Der Bogenschütze kam gleich zum Punkt: „Entschuldige, Linda, aber du musst Tauriel jetzt holen. Bard besteht darauf." Ihr entgingen nicht die unruhigen Wanderungen seiner Augen bei dieser Aussage.
Sofort nickte Linda und überreichte Ori das Seil samt weiterer Werkzeuge, die sie bei sich hatte. „Tut mir leid, dass ich jetzt schon gehen muss und du das allein fertig machen musst", meinte sie verlegen.
Der Schreiber schüttelte den Kopf. „Alles gut", sagte er leise.
Als Linda Kíli im Laufschritt hinterhereilte, kam sie nicht umhin, sich um Ori zu wundern. „Ist er immer so zurückhaltend? Ich dachte, wir kennen uns, schließlich sind wir alle durch halb Mittelerde gestolpert", keuchte sie mehr zu sich als zu dem Zwerg neben ihr.
Der aber antwortete. „Das frage ich mich ehrlicherweise auch. Irgendetwas muss seit der Schlacht geschehen sein..." Der Braunhaarige klang allerdings nicht so, als wüsste er, was dieses Etwas war. Vielmehr beschleunigte er nochmals und murmelte unverständliche Worte in Lindas Richtung.
Die Abenteurerin verdrehte die Augen. Bei Durin, die Elbin war allein erwachsen! Sie hielt es sicher auch drei Minuten länger zwischen den Seemenschen aus – oder hatten sich die beiden Anführer schon wieder in die Haare bekommen und Kíli wollte den Streit schlichten? Sie konnte nur raten, ihr wurden ja nie Hintergründe gegeben.
Das Gute war, dass ihr Rätselraten bezüglich der geistigen Abwesenheit ihres Begleiters bald beendet war. Sie durchquerten die vielen aneinandergereihten Hallen, dann einen nicht ganz so lichtdurchfluteten und geschmückten Saal, eine große Tür, noch einen Raum, zwei weitere Türen – und standen schließlich vor einem gewaltigen Tor. Bofur zwinkerte ihnen zu, er hielt die Position vor dem Saal und öffnete die enormen Türflügel auf Kílis Worte auf Khuzdul.
Kurz musste sich Linda vergewissern, dass das hier wirklich existierte und sie gerade mitten im Erebor stand. Es war atemberaubend. Vor ihnen lag die Halle der Vorväter. Goldener Boden, Säulen rechts und links – dazwischen in Lumpen gekleidete Kinder und Alte, Männer und Frauen saßen teils auf dem bloßen Felsen.
Es war die pure Ironie. All dieser Reichtum konnte – wollte? – nichts gegen das Elend tun, zwar konnten die bemitleidenswerten Seelen von einem goldenen Boden essen, doch eine Decke zum Schlafen besaßen sie nicht. Lindas Gesichtszüge versteinerten.
Links von ihnen, auf den Stufen, die hinab zu der unglaublich glänzenden Fläche führten, saß eine Gestalt, ein wenig größer als die anderen und von stolzem Habitus. Sie blickte, genauso wie die Neuankömmlinge, hinab auf die behelfsmäßigen Unterkünfte, wandte sich dann ihnen beiden zu, als hätte sie die suchenden Augen Lindas gespürt. Tauriel.
Ihre Haare strahlten längst nicht so prächtig wie einst in der Schlacht oder davor, im Waldlandreich, wo sie zunächst die Gemeinschaft in Zellen eingesperrt und anschließend vor einer Orkmeute gerettet hatte. Die Miene der Elbin verriet absolut nichts, als sie sich aufrichtete, sie zeigte keinen Schmerz, obwohl sie sich auf einem Stock abstützte.
Die Kriegerin reagierte nicht auf das Geflüster und die unziemlichen Rufe, die sich hinter ihr im Saal breit machten. Sie hatte nur das Mädchen und ihren Begleiter im Blick. Wobei, wer wusste das schon so genau? Wer kannte die Gedanken der ehemaligen Wache oder die des Zwergenprinzen? Wer wusste schon, was oder besser wer ihnen Tag und Nacht im Kopf herumspukte?
Als ob die beiden ihr was vormachen könnten. Ein kleines Lächeln umspielte Lindas Lippen. „Habt Ihr noch etwas hier, was mitkommen soll? Gepäck?"
Die Rothaarige schüttelte den Kopf. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, humpelte sie zu der Tür, wartete nicht auf Kíli und das Mädchen. Die Elbin machte sich daran, eigenhändig die Flügel aufzustemmen. Nun, vermutlich hätte sie das nicht mal in gesundem Zustand zustandegebracht, die Abenteurerin hatte eine gewisse Ahnung, dass für das Öffnen dieser Tür zwergische Kräfte und Kenntnisse von Nöten waren.
Bofur half Tauriel, ungesehen, von außen. Die Elbin nahm die Schultern zurück und stolzierte mit dem kerzengeraden Rücken einer perfekten Kreatur aus den Wäldern durch das Tor, blickte nicht zurück.
Ihr zwergischer Freund eilte der Kriegerin hinterher, sodass auch die Schwarzhaarige sich sputen musste. Warum nochmal war die Wache auch mit einem verletzten Bein schneller als sie selbst?
Schweigend folgte Linda den beiden, die sich sehr leise angeregt unterhielten. Zu leise, um irgendetwas zu verstehen, wenngleich die Beobachterin aus dem Spiel ihrer Mienen einiges herauszulesen glaubte. Sie hatten sich schließlich seit der Schlacht nicht mehr gesehen.
Tauriel war eindeutig nicht mehr dieselbe, welche Linda einst durch die Ruinen des Rabenbergs getragen hatte. Die Schatten auf ihrem Gesicht umzeichneten die Schrammen und die unordentlichen Haare voller Dreck, ihre Kleidung passte nicht wie die angegossene Wachenuniform, schlackerte locker um ihren sehnigen Körper – und trotzdem hatte die Kriegerin immer noch etwas, das von ihrer inneren Stärke kündete.
Vielleicht das Spiel ihrer Augen, vielleicht die Weigerung, ihre anmutige Haltung aufzugeben, oder auch einfach die Aura einer Elbin.
Sie liefen jetzt schon eine Weile durch den Erebor – dies war sicher nicht der kürzeste Weg zurück, so dumm war das Mädchen dann doch wieder nicht. Wollten die beiden Zeit schinden, damit sie ungestört reden konnten?
Das durchaus süße Paar blieb stehen (Linda auch), sie diskutierten flüsternd. Kílis harte Züge wurden weich.
Das Mädchen hatte einfach keine Geduld mehr. „Hallo, äh, ich bin auch noch da." Die Angesprochenen drehten sich abrupt zu ihr um und starrten die junge Frau an.
„Ja, danke für eure Aufmerksamkeit. Also, keine Ahnung, was ihr da ausbaldowert, aber Kíli, mein Lieber, welchen Aspekt von meiner Rede namens „Ich habe euch alle angelogen" hast du nicht verstanden? Außerdem bin ich nicht so blöd zu glauben, dass Tauriel allein wegen der hervorragenden Infrastruktur im Erebor verweilt und nicht in den Düsterwald zurückgekehrt ist. Und dass das der kürzeste Weg zurück ist."
Sie bemerkte ihren eigenen Sarkasmus. Ups. Linda atmete einmal durch. „Was auch immer ihr gerade diskutiert, könnt ihr mir auch gerne anvertrauen, ich kann Geheimnisse recht gut für mich behalten. Angesichts dessen, dass Thorin mich zur verantwortlichen Person in Sachen Tauriel gemacht hat, wäre es auch nicht mal so blöd, mich miteinzubeziehen. Nur so als Randinformation."
Da hatte Linda wohl leicht übertrieben. Sie registrierte die recht verwirrte Mimik der Elbin, aber auch Kílis zunehmend krampfhaft aufrechterhaltene ernste Maskerade. Der Zwerg musste grinsen. „Haben wir kapiert. Das war übrigens das, was ich eben mit „geradeheraus", „vertrauensvoll" und „ungeduldig" meinte, Tauriel."
War das eine amüsierte Regung auf dem Gesicht der vor Schmerz grau angelaufenen Rothaarigen? Jedenfalls räusperte Besagte sich nun. „Ich habe verstanden. Wir beide sehen uns auch nicht zum ersten Mal, Kíli, ich habe nie gesagt, dass ich ihr nicht vertraue."
Das Mädchen zog lächelnd eine Augenbraue hoch. Das war doch mal ein Anfang.
1584 Wörter, 31.03.2023
Na, wer von euch hat auch heute Ferien bekommen? ^^ Ich jedenfalls weiß, was ich neben Schule in der freien Zeit noch machen werde - TdF! Storyplanung und Vorschreiben für die bald anstehende Klausurenphase, yaaay...
btw: Vergesst nicht, morgen ist der erste April! Ich garantiere für nix...👀👀
LG!
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