o2. Vielleicht
Cherbourg, Frankreich, 10. April 1912
Die Sonne senkte sich langsam dem Horizont entgegen und tauchte die Titanic in ein goldenes Licht.
Am Abend hatte das Schiff in Frankreich angelegt, um dort weitere Passagiere zusteigen zu lassen. Unter ihnen waren namenhafte Persönlichkeiten wie John Jacob Astor IV mit seiner Frau Madeleine, und Benjamin Guggenheim.
Zu diesem Zeitpunkt fand auch das erste Dinner im Speisesaal der ersten Klasse statt.
Die ersten Stunden auf See hatten die Passagiere bereits in Reisestimmung versetzt, und der Luxus der Titanic spiegelte sich in den eleganten Salons und opulenten Speisesälen wider.
Louis trug einen eleganten, maßgeschneiderten Anzug, der seinen Status und guten Geschmack widerspiegelte.
Er war aus feinstem, tiefblauem Material gefertigt, das im Licht leicht schimmerte und ihm eine elegante Ausstrahlung verlieh.
Das Jackett war eng anliegend, während die Schultern weich gefüttert waren, um einen edlen Schnitt zu gewährleisten. Die Knöpfe waren aus poliertem Silber und glänzten im Schein der Kerzen.
Unter dem Anzug trug Louis ein weißes Hemd aus feiner Baumwolle mit einem perfekt gebügelten Kragen, der sich harmonisch mit der schmalen, dunkelblauen Krawatte ergänzte. Die Krawatte war aus Seide und hatte einen dezenten Glanz, der dem Gesamtbild eine zusätzliche Note von Raffinesse verlieh. Die Hosen des Anzugs waren ebenfalls maßgeschneidert, perfekt geschnitten und endeten in einer eleganten Faltung über dem Schaft seiner polierten schwarzen Lackschuhe.
Der junge Mann sah sich neugierig um.
Der Speisesaal der ersten Klasse war eine beeindruckende Darstellung von purem Luxus.
Die Wände waren mit kunstvollen Verzierungen aus dunklem Mahagoni und feinstem Gold geschmückt.
Über dem Raum schwebten Kristallleuchter, deren Licht die goldenen Verzierungen und die polierten Oberflächen des Raumes zum Strahlen brachte.
Die Böden waren mit tiefrotem Teppich ausgelegt, der weich unter seinen Füßen nachgab und eine ruhige, einladende Atmosphäre schuf.
Die Tische waren prächtig gedeckt, mit feinstem Porzellan, das in zarten Blau- und Goldtönen gehalten war, und glitzerndem Silberbesteck, das kunstvoll poliert worden war.
Jeder Tisch war mit weißen Damasttischdecken dekoriert, die das sanfte Licht der Kerzen auffingen.
Der Raum war in sanften, warmen Farben gehalten und mit edlen Stoffen wie Samt und Seite ausgestattet.
Louis bewegte sich mit der Sicherheit und Anmut eines Mannes durch den Raum, der sich seiner Umgebung bewusst war und sich in dieser Welt des Luxus und der Eleganz wohlfühlte.
Zusammen mit Liam setzte er sich an einen der festlich gedeckten Tische und ließ neugierig den Blick umherschweifen.
Dann mischte sich plötzlich Aufregung in seinen Gesichtsausdruck. „Siehst du den Mann dort hinten?"
Liam folgte Louis' Blick.
Am Rand des Speisesaals stand ein hochgewachsener Mann mit freundlicher, offener Mimik, der nach dem Rechten zu sehen schien.
„Wer ist das?", erkundigte Liam sich bei seinem Freund.
„Thomas Andrews", antwortete Louis. „Der Schiffskonstrukteur der Titanic."
„Oh ja, ich habe gehört, dass er an Bord sein soll", erinnerte Liam sich an einen Zeitungsartikel, den er vor kurzem erst gelesen hatte. Wenn er sich recht erinnerte, war er für jemand anderen eingesprungen, der aus irgendeinem Grund verhindert war, an der Jungfernfahrt teilzunehmen.
Obwohl Thomas Andrews als Ehrengast in der ersten Klasse reiste, war er zwar sehr gepflegt, aber dennoch schlicht und bescheiden gekleidet.
Er war bekannt für seine ruhige, zuvorkommende Art, sowie für seine unermüdliche Arbeitsmoral.
Louis war sich nicht sicher, was er erwartet hatte - aber dieses Schiff schien etwas Magisches an sich zu haben.
Nicht nur wegen der ganzen schillernden Persönlichkeiten in der ersten Klasse oder den mehrgängigen Speisen, die dort serviert wurden.
Es war etwas anderes. Etwas, das tiefer ging.
Der Klang von Besteck und Gesprächen erfüllte den Raum, doch Louis wurde von einer Klaviermelodie abgelenkt, die von dem Flügel in der Ecke des Raumes kam.
Er erkannte das Stück sofort - Eine Nocturne von Chopin in E-Dur passte perfekt zu der eleganten Atmosphäre des Speisesaals.
Es war ein ruhiges, und doch aufgeladenes Stück.
Als die sanften, träumerischen Melodien den Raum erfüllten, ließ Louis neugierig seinen Blick zu dem Pianisten am Flügel wandern.
Da war er wieder - dieser Mann, der ihm schon früher am Tag aufgefallen war, als er vom Deck aus beobachtet hatte, wie die dritte Klasse in das Schiff gelassen wurde.
Im Gegensatz zur Mittagszeit waren seine Harre jetzt ordentlich gekämmt und fielen in glänzenden, braunen Wellen über die schmalen, und doch gleichzeitig kräftigen Schultern.
Er trug einen einfachen, gepflegten Anzug, der ihn im Vergleich zum heutigen Mittag deutlich aus der Menge der Passagiere der dritten Klasse heraushob, ohne jedoch die Eleganz der ersten Klasse zu erreichen.
Der wohl auffälligste Akzent an ihm war allerdings die rote Krawatte, die sauber gebunden Hemd und Kragen zierte.
Ein Hauch von Individualität in einer ansonsten so geordneten Welt.
Sein Auftreten war ruhig und konzentriert, fast bescheiden, und doch konnte Louis kaum die Augen von ihm nehmen.
Seine Hände bewegten sich. Mit einer Stillen, aber zielgerichteten Sicherheit über die Tasten, als würde er Geschichten über die Musik ausdrücken wollen, die er nicht in Worte fassen konnte.
Der unbekannte Pianist legte etwas Persönliches in Chopin's Nocturne - etwas, das Louis noch nie gehört hatte.
Bevor er sich darüber allerdings weitere Gedanken machen konnte, stieß Liam ihn unter dem Tisch unsanft mit dem Bein an.
Louis zuckte erschrocken zusammen, und Liam nickte in Richtung des Platzes neben ihm, wo eine Dame ihn bittend ansah. „Hätten Sie vielleicht Feuer für mich?"
Erst jetzt sah Louis die Zigarette in ihrer Hand und wunderte sich darüber. Hatte ihr Mann denn nichts dagegen, wenn sie rauchte - und auch noch einen anderen Mann nach Feuer fragte?
„Selbstverständlich", antwortete der junge Geschäftsmann und reichte ihr seine Packung Streichhölzer, ohne seinen Blick so wirklich vom Flügel nehmen zu können.
Liam verdrehte beschämt die Augen. „Sie müssen ihn entschuldigen", sagte er und rückte seine Krawatte zurecht. „Sobald er einen guten Musiker spielen hört, ist seine Sprechstunde vorbei."
Die Unbekannte lachte. „Spielen Sie auch selbst?"
Louis schüttelte schmunzelnd den Kopf und nahm einen Schluck aus seinem Whiskey-Glas. „Sie glauben gar nicht, wie gerne ich jetzt Ja sagen würde."
Die junge Frau strich sich eine Strähne des blonden Haares aus der Stirn. „Er spielt aber auch wirklich atemberaubend."
Etwas später am Abend ruhten Harry's Finger einen Moment lang auf den Tasten, bevor er die ersten, leisen Noten von Beethoven's Mondsonate anschlug.
Er wollte nur den ersten Satz spielen, um die Passagiere im Speisesaal nicht in eine Trauergemeinde zu verwandeln.
Und doch erfüllte der vertraute Klang den Raum. Sofort spürte er, wie die Melodie ihn in eine Welt jenseits des prachtvollen Speisesaals zog.
Die ersten Takte waren sanft, fast zerbrechlich, als würden sie auf der Oberfläche des Ozeans treiben.
Es war ein Stück, das er oft spielte - doch heute fühlte er sich anders an.
Während seine Hände über die Tasten glitten, schloss Harry die Augen für einen Moment.
Jeder Ton schien von einer Traurigkeit durchzogen zu sein, die er nicht erklären konnte, und doch tief in sich spürte.
Er war jemand, die Gefühle wahrnahm, die zwischen den Noten steckten.
Er war nur ein einfacher Musiker, jemand, der die Welt der ersten Klasse nur von außen betrachten durfte.
Doch heute Abend spürte er etwas anderes - eine Verbindung, die er nicht ignorieren konnte.
Er öffnete die Augen und riskierte einen kurzen Blick in sein Publikum.
Die meisten Passagiere waren zu sehr in ihre Gespräche vertieft, um Notiz von ihm zu nehmen.
Dann allerdings bemerkte er einen jungen Mann, der ihm aufmerksam und bewusst zuhörte.
Einen Moment lang erfüllt ein erfreutes Kribbeln seinen Brustkorb, als er realisierte, dass da jemand war, der ihn nicht nur im Hintergrund wahrnahm.
Ein unbewusstes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, und Louis schenkte ihm eins zurück.
Harry spürte, wie die Musik sich veränderte, als er seinen Blick wieder abwandte.
Ihr Klang wurde weicher, persönlicher.
Als er die letzten Noten der Sonate spielte, blieb ein Gefühl der Leere zurück.
Der Pianist spürte, wie der Zauber des Augenblicks verblasste, doch seine Finger lagen noch immer auf den Tasten, als wolle er die Verbindung und das Kribbeln noch nicht loslassen.
Eine Stunde später beendete Harry sein Spiel mit Claire de Lune von Debussy.
Die Klänge waren romantisch und zart, wie das Mondlicht, das das Schiff umgab.
Mittlerweile hatten sie den Hafen von Cherbourg wieder verlassen und nahmen jetzt Kurs auf Queenstown in Irland.
Jede Phrase des Stücks war mit einer gefühlvollen Langsamkeit gespielt, die Louis zum Nachdenken anregte, auch, wenn er das jetzt noch nicht wusste.
Als das Stück endete, sammelte Louis seinen Mut und ging zu dem imposanten Holzflügel, wo Harry seine Notenblätter ordnete.
Er hob den Kopf, als der junge Geschäftsmann näher kam, und ihre Blicke trafen sich.
Blau und Grün vermischten sich ineinander.
„Sie haben wirklich wunderschön gespielt", begann Louis und seine Stimme war warm, aber zögerlich.
Der Pianist spürte, dass das mehr als nur eine höfliche Floskel war.
Er lächelte kurz, fast schüchtern. „Danke. Ich hoffe immer, den Geschmack des Publikums zu treffen."
Nun war Louis neugierig geworden. „Und was spielen Sie, wenn Sie nur für sich selbst spielen?"
Es war eine spontane Frage, entsprungen aus dem tiefen Wunsch, mehr über diesen Mann zu erfahren.
Harry sah ihn einen Moment lang an, als würde er überlegen, ob er ehrlich antworten sollte.
Dann allerdings entschied er sich dafür. „Ich spiele oft, was zu meiner Stimmung passt - manchmal auch Melodien, die mir im Kopf herumschwirren. Aber hier muss ich mich an Regeln halten."
Louis ließ sich auf einem Stuhl neben dem Klavier nieder und sah Harry einen Moment lang an. „Es muss schwierig sein, so viel Talent zu haben und es ständig an die Wünsche anderer anzupassen."
Harry lächelte, und seine Wangen verfärbten sich leicht rötlich.
Er zuckte die Schultern, aber er wirkte nicht unhöflich. „Es ist meine Arbeit, und ich bin dankbar, dass ich hier spielen darf", antwortete er. „Aber ja, manchmal wäre es schön, etwas freier spielen zu können."
Louis' Augen begannen, zu funkeln. „Würden Sie etwas für mich spielen?", fragte er vorsichtig. „Etwas, das Sie wirklich spielen wollen?"
Es war ein riskantes Angebot, fast ein Test.
Harry sah ihn überrascht an, in den smaragdfarbenen Augen blitzte etwas auf, das Louis nicht ganz deuten konnte.
Und doch schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist."
„Ich bin mir sicher, niemand wird es merken", zwinkerte Louis. „Außerdem - wer könnte es Ihnen verbieten?"
Seine Stimme hatte einen so lockeren Ton, dass Harry ihn beinahe um seine Gelassenheit beneidete.
Er sah sich in dem prunkvollen Raum um - außer ihnen war mittlerweile niemand mehr hier.
Harry schien kurz zu zögern, doch dann legte er die Finger auf die Tasten und begann, ein leises, melancholisches Stück zu spielen.
Es war etwas eigenes, tief persönliches - das konnte Louis sofort spüren.
Die Melodie war sanft, fast schwer, als sie den leeren Raum zwischen ihnen füllte.
Harry's Finger glitten über die Tastatur, als hätten sie ihr Leben lang noch nie etwas anderes getan - als wären dieser Mann regelrecht dafür geboren worden, zu spielen.
Die Musik riss Louis für einen Moment lang sanft aus der Realität und beruhigte seine Gedanken.
Und als die letzten Noten verklangen, schwiegen beide einen Moment lang.
Louis war bewegt. Mehr, als er erwartet hatte.
„Was für ein wunderschönes Stück", sagte er irgendwann leise. „Ich kannte es noch gar nicht."
Harry lächelte. „Ich habe es selbst geschrieben", erklärte er, seine Stimme nun ein wenig offener. „Aber ich spiele es selten. Es ist nicht das, was die Leute hören wollen."
„Aber es ist das, was ich hören wollte", erwiderte Louis, und Harry suchte für einen Moment lang in seinen Augen nach einem Hinweis auf Unehrlichkeit, aber er fand keinen.
„Danke", gab er also leise zur Antwort. „Mich hat noch nie jemand gefragt, was ich wirklich spielen möchte."
Die Stille zwischen den Männern war dieses Mal voller unausgesprochener Gedanken.
Harry spürte, dass dies nicht nur eine zufällige Begegnung war.
Es war, als hätten sie in diesem Moment etwas sehr intimes geteilt, obwohl sie kaum etwas voneinander wussten.
„Vielleicht ... Sollten wir diesen Moment nicht einfach so enden lassen?", deutete Louis an, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
Harry war sichtlich überrascht von Louis' Direktheit, doch da war auch ein Hauch von Neugier in seinem Blick. „Was schlagen Sie vor?"
„Nun, ich habe den ganzen Abend lang mit Menschen geredet, die mich nicht wirklich interessieren", gestand Louis. „Ich habe irgendwie das Gefühl, dass Sie interessanter sind."
Harry lachte, ein warmer Klang, der Louis seltsam vertraut vorkam. „Vielleicht sollten Sie vorsichtig sein mit Ihren Annahmen."
Louis grinste, das Herz schlug ihm bis zum Hals. „Vielleicht."
Der junge Pianist grinste. „Vielleicht verraten Sie mir auch erst einmal Ihren Namen."
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Einen schönen Sonntagabend wünsche ich euch!🤍
Na, was sagt ihr zu den ersten Kapiteln? Bin gespannt auf eure Meinungen!🫶
All the love,
Helena xx
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