15. Unsinkbar
Atlantischer Ozean, 14. April 1912
Die Morgensonne brach durch die dünnen Wolken über dem Nordatlantik und ließ die Titanic wie einen strahlenden Palast auf dem Ozean glitzern. Die See war ungewöhnlich ruhig, fast spiegelglatt, was vielen Passagieren aufgefallen war. Der Sonntag begann für die erste Klasse wie gewohnt mit einer Mischung aus Andacht und Gesellschaftlichkeit. Louis und Liam hatten sich nach dem Frühstück in die Kapelle auf Deck A begeben, um dem Gottesdienst beizuwohnen, der von Reverend Ernest Carter gehalten wurde.
Der Raum war mit seinen polierten Holzwänden und den kunstvoll geschnitzten Verzierungen eine Oase der Ruhe, erfüllt vom leisen Summen der Orgel. Die Passagiere,
In der ersten Klasse war der Sonntagsgottesdienst für viele Passagiere ein fester Bestandteil des Tages, eine Gelegenheit, sich vornehm zu zeigen und sich mit den anderen Reisenden zu verbinden.
Louis und Liam saßen nebeneinander in der prachtvollen Lounge der ersten Klasse, wo der Gottesdienst abgehalten wurde. Die hohen, kunstvoll geschnitzten Holzverkleidungen des Raumes schienen in den Sonnenstrahlen zu leuchten, die durch die großen Fenster fielen. Die Stimmen der Passagiere und der Schiffscrew vereinten sich zu einem feierlichen Chor, während der Geistliche die Lesung des Tages sprach.
Louis' Aufmerksamkeit glitt jedoch immer wieder ab. Seine Gedanken kehrten zu den Ereignissen des Vorabends zurück – den Momenten im Saloon, der ausgelassenen Party in der dritten Klasse, und vor allem, dem Spaziergang mit Harry. Die Erinnerung an den Kuss, der sie mitten in der Nacht an Deck zueinander gezogen hatte, ließ ihn immer noch den Hauch von Adrenalin spüren.
„Du bist ja ungewöhnlich still heute", flüsterte Liam, während der Chor gerade das nächste Kirchenlied anstimmte.
Louis wandte sich ihm zu, ein wenig ertappt. „Ich höre zu, Liam."
„Natürlich tust du das", entgegnete sein Gegenüber mit einem belustigten Grinsen. „Ich kenne diesen Blick. Du denkst an gestern Abend."
Louis stieß ihn sanft mit dem Ellbogen in die Seite, um Liam zum Schweigen zu bringen, doch der konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Er kannte Louis besser als sich selbst. Natürlich dachte er an den gestrigen Abend - und er wusste auch, dass das nicht nur an dem guten Whiskey lag, den sie im Saloon getrunken hatten.
Nach dem Gottesdienst drängten sich die Passagiere auf das Promenadendeck. Es war ein kühler, aber angenehmer Vormittag, und viele genossen die Bewegung an der frischen Luft. Louis und Liam schlenderten langsam entlang der Reling, und Liam zog sich seinen Mantel enger um die Schultern.
„Also", begann er schließlich, während er einen Seitenblick auf Louis warf, „möchtest du mir jetzt erzählen, was genau gestern Nacht passiert ist?"
Louis tat so, als würde er den Blick auf das Wasser richten, doch Liam ließ nicht locker. „Komm schon, Louis. Du warst anders, seit wir gestern Abend die Party verlassen haben. Und ich rede nicht von der typischen Müdigkeit nach zu viel Wein. Du warst – wie soll ich sagen? – nachdenklich, aber nicht auf die schlechte Art. Weißt du, was ich meine?"
„Du übertreibst maßlos", sagte Louis, konnte jedoch ein Lächeln nicht unterdrücken.
„Oh, wirklich?" Liam verschränkte die Arme. „Ich wette, du hast eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wovon ich rede. Oder irre ich mich?"
Louis blieb stehen und wandte sich Liam zu. „Es war eben ... besonders", gab er schließlich zu.
Liam zog eine Augenbraue hoch. „Besonders? Das ist alles, was du mir sagen kannst?"
Louis zögerte. Er wusste, dass er Liam vertrauen konnte, doch Worte schienen nicht auszureichen, um zu beschreiben, was er eigentlich sagen wollte. „Das ist nicht so einfach", erklärte er also. „Hattest du schon einmal das Gefühl, als würdest du jemanden schon dein ganzes Leben lang kennen? Jemanden, den du eigentlich erst seit ein paar Tagen kennst?"
Liam nickte und legte dann die hand an sein Kinn. „Erzählst du mir gerade, dass du dich in den Pianisten aus der dritten Klasse verschossen hast?"
Louis zog die Augenbrauen zusammen. „Sag das nicht so."
„Aber du weißt, wie die Dinge sind", entgegnete Liam. „Er kommt aus einer anderen Welt als du. Ganz abgesehen davon, dass du ruiniert bist, wenn jemand herausfindet, dass du heimlich mit anderen Männern zusammen bist."
„Darum geht es doch gar nicht", murmelte Louis und wich seinem Blick aus.
Liam packte seinen Freund bei den Schultern und schüttelte ihn sanft durch. „Natürlich geht es das", antwortete er. „Es geht nur darum. Die ganze Welt dreht sich nur um Geld und den guten Ruf. Du und ich, wir hatten einfach nur mehr Glück, was das angeht - aber im Endeffekt sind wir deshalb keine besseren Leute. Das weißt du, und das weiß ich, aber die meisten anderen wissen genau das eben nicht. Und das wird dir zum Verhängnis werden, wenn du nicht aufpasst."
„Es gibt aber Dinge, die man mit Geld nicht bezahlen kann", sagte Louis. „Und das ist so eine Sache. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber das hier ist anders."
Liam nickte langsam. „Das stimmt. Anders leichtsinnig und anders unklug."
Obwohl er wusste, dass sein Freund in allen Punkten und ausnahmslos Recht hatte, weigerte Louis sich noch immer, ihm auch Recht zu geben. Er wusste, dass er sich auf gefährlichem Boden bewegte, und vermutlich hatte Harry gestern genau das selbe Gespräch auch mit Niall geführt. Und vermutlich waren sie auch zu dem selben Schluss gekommen. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass die Vernunft letztlich über ihre Gefühle siegen würde. Das wusste Liam genauso gut wie Louis selbst; ohne die emotionale Komponente wäre diese Situation schließlich einfach zu lösen gewesen.
Louis hatte das Gefühl, als hätte der gestrige Abend so viel verändert; als hätten sie es mit einem Mal mit einer ganz anderen emotionalen Tiefe zu tun. Er hatte die gesamte Nacht kein Auge zugemacht; keine einzige Sekunde hatte er schlafen können, weil er keine Ahnung hatte, was zur Hölle er jetzt tun sollte. Jede verfügbare Alternative würde ihn Kopf und Kragen kosten.
„Was ist denn gestern passiert, das dich so aus dem Konzept gebracht hat?", fragte Liam mit einer gewissen Vorahnung im Hinterkopf. Er war schließlich nicht blind - und er kannte seinen Freund, von Kindesbeinen an.
Louis seufzte. „Ich habe ihn geküsst", gab er schließlich kleinlaut zur Antwort, in dem Wissen, dass er keinen Sinn hatte, um die Wahrheit herumzureden - und trotzdem fühlte er sich dabei, als hätte er seinem Freund gerade einen Mord gestanden.
Liam sah ihn einen Moment lang an. Er war nicht überrascht über die Tatsache an sich. Er war viel mehr Überrascht über Louis' schelle Ehrlichkeit und darüber, dass er ihm nicht erst jegliche Informationen aus der Nase ziehen musste.
„Verdammt, Louis", murmelte Liam also und fuhr sich mit der linken Haar durchs Haar. „Wenn irgendjemand davon Wind bekommt, kannst du dein Testament aufsetzen."
„Ich weiß", entgegnete Louis und warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand hinter ihnen lief, der ihr Gespräch hätte mithören können. „Ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen."
Liam seufzte. „Das habe ich auch nie behauptet. Es geht doch viel mehr darum, dass du dich selbst in Gefahr bringst - und die Gefahr, alles zu verlieren, ist nicht gerade klein, wenn du dich auf solche Dinge einlässt."
Die beiden Männer gingen weiter, als plötzlich ein vertrautes Gesicht auf sie zukam und ihr Gespräch unwissentlich unterbrach. Thomas Andrews, der Chefkonstrukteur der Titanic, hielt gerade mit einem anderen Mitglied der Crew ein Gespräch, als er Louis und Liam bemerkte.
„Ah, Mr. Tomlinson und Mr. Payne! Guten Morgen", grüßte Andrews mit einem warmen Lächeln und trat auf sie zu.
„Mr. Andrews, ein schöner Morgen, nicht wahr?" Louis ergriff die Hand des Schiffskonstrukteurs und versuchte, sich möglichst wenig anmerken zu lassen.
„Das ist er in der Tat. Ich hoffe, Sie genießen die Überfahrt?" fragte Andrews freundlich.
„Oh, sehr. Das Schiff ist wahrlich beeindruckend", antwortete Liam. „Es fühlt sich an, als würden wir auf einem schwimmenden Palast reisen."
Andrews' Gesicht hellte sich auf. „Vielen Dank, das höre ich gern. Es war unser Ziel, das Beste vom Besten zu schaffen – und ich glaube, wir haben es geschafft."
Louis nickte anerkennend. „Das haben Sie zweifellos", antwortete Louis, zeigte dann allerdings auf die Rettungsboote, die sich neben ihnen am Rand des Decks befanden. „Aber die Rettungsboote scheinen nicht gerade zahlreich zu sein."
Andrews lächelte leicht, als hätte er diese Frage schon oft gehört. „Ah, die Rettungsboote. Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich glaube nicht, dass wir sie jemals brauchen werden - die Titanic ist ein sehr sicheres Schiff, auch in Notsituationen. Sie ist unsinkbar."
Liam zog eine Augenbraue hoch. „Unsinkbar?"
„Ja", fuhr Andrews fort, mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. „Die Titanic ist mit wasserdichten Schotten ausgestattet, die das Schiff in mehrere Abteilungen unterteilen. Selbst wenn vier dieser Abteilungen überflutet würden, könnte das Schiff sich weiterhin über Wasser halten. Es ist eine technische Gewissheit, dass dieses Schiff jeden Sturm und jede Herausforderung meistern kann."
Louis nickte, aber ein Hauch von Skepsis schwang in seinem Ton mit. „Was, wenn fünf der Schotten volllaufen?"
Andrews lachte leise. „Ich verstehe Ihre Bedenken, Mr. Tomlinson. Aber in welchem Szenario würde das Wasser schon fünf Schotten fluten? Die Wahrscheinlichkeit, dass wir die Rettungsboote überhaupt brauchen, ist verschwindend gering. Und die Titanic ist so sicher, dass wir nicht mehr Boote brauchten."
„Ich hoffe, Sie haben recht, Mr. Andrews", sagte Liam schließlich.
„Machen Sie sich keine Sorgen", antwortete Andrews mit einem festen Nicken. „Nun, ich muss weiter. Es gibt immer etwas zu tun auf einem Schiff dieser Größe."
Die Männer verabschiedeten sich, und Louis und Liam setzten ihren Weg fort.
„Unsinkbar", wiederholte Liam, als sie allein waren. „Ein großes Wort, findest du nicht?"
Louis zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ich muss zugeben, dass Andrews ein Mann ist, der Vertrauen ausstrahlt."
„Das mag sein", murmelte Liam. „Aber ich werde mich besser nicht auf technische Wunder verlassen, wenn ich auf dem offenen Ozean bin."
Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick aus, bevor sie weitergingen. Der strahlende Tag schien ihre Bedenken jedoch schnell zu zerstreuen, und bald wandten sie ihre Gedanken wieder angenehmeren Themen zu.
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Hallo meine Lieben,
Na, hattet ihr eine schöne Woche? :) Ich bin jedenfalls froh, dass wir es ins Wochenende geschafft haben.✨
Dass die Titanic definitiv nicht unsinkbar ist, wissen wir heute mit absoluter Sicherheit - damals allerdings haben die meisten diese Aussage nicht angezweifelt. Der technische Fortschritt war noch nicht auf dem gleichen Stand wie heute.😅
Wusstet ihr, dass die Schwesternschiffe der RMS Titanic (HMHS Britannic + RMS Olympic) ebenfalls nicht gerade die angenehmsten Schicksale hatten? Die HMHS Britannic wurde wurde 1916 durch eine Seemine eines deutschen U-Boots versenkt und war das mit Abstand größte versenkte Schiff im Ersten Weltkrieg. Die RMS Olympic wurde vor allem aufgrund ihres Kriegsdienstes als die "alte Zuverlässige (The Old Reliable)" bezeichnet, weil sie dort zahlreiche gefährliche Situationen überstanden und tausende Soldaten an die Front gebracht hat. Die Weltwirtschaftskrise und die sinkende Nachfrage nach Transatlantikreisen führten dazu, dass die Olympic 1935 ausgemustert wurde. Im selben Jahr wurde sie verkauft und ab 1937 verschrottet.
Ich hoffe, der kleine Geschichtsexkurs hat euch nicht zum Einschlafen gebracht :p
All the love,
Helena xx
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