Kapitel 10: Das wäre fast schiefgegangen
Kapitel 10: Das wäre fast schiefgegangen
Matty
Noch zwei Tage bis zum Köningstag. Ganz Amsterdam hatte sich schon vor Wochen in die Vorbereitungen gestürzt, und das sah man auch. An den meisten Häusern hing eine niederländische Flagge, zusammen mit einem schmalen, orangefarbenen Wimpel. Die Straßen waren sauberer als normal, in den Schaufenstern hingen Dekorationen, Blumenkästen waren bestückt worden und die Restaurants und Bars warben mit dem „Koningsdag Special". Am Feiertag selber würde es vor Besuchern nur so wimmeln. Die Grachten wären voll von Boten jeder Art. Von traditionellen Holzboten, über kleine Flitzer, bis hin zu aufblasbaren Planschbecken, in denen sich Feierwütige treiben lassen würden, egal wie das Wetter war. Einfach jeder würde auf den Beinen sein. Die Leute würden essen, feiern und jede Menge trinken. Dazu gab es in der ganzen Stadt Straßenkünstler, Festivals, Musik und Flohmärkte.
Matty liebte den Feiertag. Als Kind hatte er schulfrei gehabt und hatte mit seinen Freunden den ganzen Tag draußen spielen dürfen. Sie hatten Würstchen von einer Wäscheleine gehangelt, Kuchen gegessen und wenn das Wetter mitspielte, abends im Park gegrillt. Seine Mutter hatte ihm immer ein wenig Geld gegeben und davon hatte er sich Spielzeug oder Süßigkeiten gekauft.
Als er dann älter wurde, hatte er sich mit seinen Freunden ins Feiergetümmel geworfen. Sie waren stundenlang durch die Straßen gezogen, hatten gelacht und getrunken, getanzt, Leute kennengelernt und das Leben gefeiert. Dabei war er einmal sogar in eine Gracht gefallen, unter dem lauten Gelächter seiner Freunde in ein Boot geklettert und damit dann weitergefahren, als sei nichts gewesen. Damals war es ihm unendlich peinlich gewesen ins Wasser gefallen zu sein, aber heute erzählte er die Geschichte gerne.
Seit er und Mark zusammen waren, hatten sie es am Feiertag ruhiger angehen lassen. Mark konnte mit Mattys Freunden nicht so viel anfangen, und irgendwie hatte es sich eingebürgert, dass Matty den Tag mit Mark und dessen Freunden verbrachte. Marks Freunde feierten zwar auch gerne, aber sie waren eher der Typ Feiernder, die sich am frühen Nachmittag einen „kroeg", ein Café, aussuchten und dann dort bis nach Mitternacht nicht mehr weggingen. Marks Freunde waren Banker, Steuerberater oder auch Anwälte. Sie tranken Unmengen und benahmen sich, als ob das bunte Treiben um sie herum nicht ihr Stil war. Zu gewöhnlich, zu bürgerlich. Dabei waren sie nicht gemein oder herablassend. Es klang eher unterschwellig an.
Bei ihrem ersten gemeinsamen Koningsdag hatte Matty nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was erzählt wurde. Er hatte sich einfach gefreut, dass Mark ihn eingeladen hatte und seine Nähe und Aufmerksamkeit genossen. Seitdem sie ein Paar waren, schien Mark es für selbstverständlich zu halten, dass Matty ihn und seine Freunde begleitete. Das war okay für Matty, denn durch ihre Arbeit hatten er und Mark wenig Zeit um auszugehen, und Matty genoss es, Mark einen ganzen Tag für sich zu haben. Das hieß aber nicht, dass er das bunte Treiben in den schmalen Straßen und seine eigenen Freunde nicht manchmal vermisste.
Und an diesem Koningsdag wäre wieder alles anders. Zum ersten Mal würde Matty am Feiertag arbeiten. Mark war nicht begeistert gewesen, als Matty ihm davon erzählt hatte.
„Aber wir feiern immer mit unseren Freunden", hatte er gesagt und im Binden seiner Krawatte innegehalten. „Jedes Jahr. Das wird von uns erwartet."
„Aber jetzt habe ich ein Geschäft", hatte Matty geantwortet. „Und es werden bestimmt viele Leute kommen. Du weißt, dass ich das Geld brauche. Außerdem ist es gute Werbung."
Und ja, das wusste Mark, aber deshalb gefiel es ihm trotzdem nicht, dass er sich alleine mit seinen Freunden würde treffen müssen.
„Und was soll ich meinen Freunden sagen, wo du bist?"
Matty hatte verwundert mit den Schultern gezuckt. „Na, dass ich bei der Arbeit bin."
Mark hatte das Gesicht verzogen. „Wenn es nicht anders geht", gemurmelt und war dann zur Arbeit gegangen.
Neben dem Umsatz, den Matty hoffte zu machen, freute er sich insgeheim auch darauf, endlich einmal wieder richtig „dabei" zu sein beim Köningstag. Nicht in irgendeinem Café zu sitzen, Bier zu trinken und Marks Freunden dabei zuzuhören, wie sie über ihre Arbeit sprachen, über Kollegen die er nicht kannte und Insider Jokes, die ihm niemand erklärte.
Nein, dieses Jahr wäre er mitten im Geschehen! Na gut, nicht ganz mittendrin, seine Bäckerei lag schließlich nicht im Zentrum von Amsterdam. Das hätte er sich niemals leisten können. Aber sie lag an einer schönen Straße, an einer Gracht, nicht weit weg von Hotels und Touristen Hot Spots. Matty war sich sicher, dass in seiner Straße Einiges los sein würde. Und er wäre dabei. Schon seit Wochen freute er sich darauf. Er musste nur noch seine Bäckerei schmücken.
Im Keller seiner Bäckerei hatte er bei der Renovierung eine alte Holzleiter gefunden. Als er das Namensschild der Bäckerei aufgehängt hatte, hatte er sich auf dem Ding fast den Hals gebrochen. Er wusste, dass er sie ersetzen musste, und irgendwann würde er das auch machen. Aber jetzt brauchte er sie noch mal. Mit Flos Hilfe hatte er sie aus dem Keller geholt und jetzt lehnte sie an der Außenwand des Gebäudes. Matty stand auf einer der obersten Sprossen.
„Habs gleich", rief er hinunter zu Flo, die die Leiter festhielt. Matty bemühte sich, eine Girlande mit orangenen Wimpeln zu entwirren, die er an einem Haken an der Wand festmachen wollte. Die anderen Häuser in der Straße waren schon geschmückt und Matty wollte seine Bäckerei auch herausputzen.
„Sei vorsichtig, ja? Das alte Ding hier hat schon bessere Tage gesehen", rief Flo von unten.
„Ja, ja", murmelte Matty und schüttelte die Girlande, bis die Wimpel frei herunterhingen. „Ha-ha!" rief er triumphierend und beugte sich dann vor, um das Ende der Girlande an dem Haken zu befestigen.
„Hallo!" rief da eine Stimme von unten. „Ihr seid also auch schon in Festtagsstimmung."
Matty sah hinunter. Pearl stand auf der Straße und sah zu ihm hinauf. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Heute trug sie schwarze Stiefel zu einer schwarzen Hose, dazu ein knallpinkes Oberteil, auf dem ein Peace-Zeichen prangte. Zusammen mit ihrem bunten Haar sah sie sehr stylisch aus.
„Klar! Den Feiertag lassen wir uns doch nicht entgehen", sagte Flo und grinste. „Macht ihr auch was?"
Pearl zuckte mit den Schultern. „Wolf findet, dass orange sich mit dem Schwarz der Fassade beißt." Sie machte mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft und ließ ihre Stimme tiefer klingen. „Es ist nicht Halloween, Pearl."
„Aber ihr müsst was machen!" Flo sah entsetzt aus. „Es ist Koningsdag!"
„Wir machen ja auch was, nur keine Deko." Pearl erklärte Flo, was ein Flash-Tattoo-Tag war und Flo stellte jede Menge Fragen. Also würde das Legendary am Feiertag auch geöffnet haben. Mattys Laune verschlechterte sich schlagartig. Anstelle von feiernden, fröhlichen Leuten würden stinkende, laute Motorräder durch die Straße donnern. Typen mit Biker Tattoos die vermutlich entweder volltrunken oder bekifft waren würden grölend und fluchend seine Kundschaft vertreiben. Na bravo. Wenn Mark doch nur eine Lösung wegen der Motorräder gefunden hätte.
Er zog den Knoten der Girlande stramm und drehte sich hinunter zu Flo. „Bin fertig." Doch Flo war nicht mehr da. Matty sah von links nach rechts, doch Flo und Pearl waren verschwunden. Er hatte gar nicht gehört, dass sie weggegangen waren. „Flo?" rief er, doch er bekam keine Antwort.
Das andere Ende der Girlande kringelte sich auf der kopfsteingepflasterten Straße und Matty sah zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite, wo er die Girlande befestigen wollte. „Flo?" rief er nochmal, doch auch diesmal hörte sie ihn nicht. Na schön, dann eben nicht.
Matty stieg langsam die alte Holzleiter hinunter. Mit jedem Schritt knarzte es und sie wackelte bedenklich. Das Ding musste über hundert Jahre alt sein. Dann hörte er ein schabendes Geräusch. Er sah nach oben. Die Leiter erzitterte, dann rutsche sie von der Hausmauer ab. Matty hatte keine Zeit zu schreien. Mitsamt Leiter fiel er nach unten. Er sah sich schon auf dem harten Pflaster aufschlagen, meinte den Schmerz von gebrochenen Knochen zu spüren. Matty kniff die Augen zusammen und klammerte sich fest.
Er rutschte nach unten... dann prallte er auf etwas Weiches. Ein Grunzen ertönte, dann ein leiser Fluch. Matty öffnete die Augen. Er sah schwarzes Leder, dunkle Haare.
„Alles okay?" fragte eine tiefe Stimme.
„Uh..." Matty sah auf zu Wolf, in dessen Armen er lag. Wolf stand unter der Leiter an die Hausmauer gelehnt. Er hatte ihn mitsamt Leiter aufgefangen. Er sah mit großen Augen durch die Sprossen zu Matty, den er immer noch fest umklammert hielt.
„Bist du verletzt?" Wolfs Stimme klang atemlos. Matty starrte auf seinen Retter. Seine Augen waren grau, wie ein sturmumtostes Meer. Er schien darin zu ertrinken.
„Matty?"
Wolf lehnte sich vor, seine Stirn sorgenvoll gerunzelt. Erschrocken zuckte Matty zurück. Oh nein! Er hatte seinen Nachbarn angestarrt!
„Äh, nein, nein", beeilte sich Matty herauszubringen, dann löste er sich hastig aus Wolf Armen, kletterte von der Leiter und trat ein paar Schritte zurück. „Uhm, danke, dass du mich aufgefangen hast." Sein Herz schlug wie wild. Ein frisches, maskulines Aftershave drang in seine Nase und Matty zog unwillkürlich den Duft ein. Als er realisierte, was er tat, trat er schnell einen Schritt zurück. Wärme breitete sich auf seinen Wangen aus.
„Kein Problem." Meinte das Matty nur, oder sah sein Nachbar so aus, als wäre es ihm unangenehm, hier zu sein? Jedenfalls sah er ihm nicht in die Augen. Keiner von beiden sagte etwas, und dann schien Wolf aufzufallen, dass er noch die Leiter in der Hand hielt.
„Hier", sagte er und reichte sie an Matty. Dieser griff automatisch danach.
„Danke." Matty wollte etwas sagen, sich vielleicht noch einmal bedanken, aber in dem Moment flog die Tür zur Bäckerei auf.
„Hey Wolf", begrüßte Flo seinen Retter fröhlich. „Ich habe Pearl gerade die Bäckerei gezeigt. Willst du auch eine Tour? Matty hat bestimmt nichts dagegen."
Sie hatte von seinem beinahe Unfall gar nichts mitbekommen. Bei dem Gedanken, Wolf seine Bäckerei zu zeigen, wurde Matty ganz warm. Sein Laden war sein Heiligtum, da sollte nicht einfach jeder so reinlatschen. Außerdem würde sich Wolf bestimmt lustig machen. Er war so ganz anders als Matty. Dunkel und männlich und Macho. Und seine Bäckerei war....Pastel.
Doch zu seiner Erleichterung lehnte Wolf ab. „Ich muss zurück in mein Studio." Und damit drehte er sich um und ließ sie stehen. Pearl sah ihm mit einem irgendwie verschmitzten Lächeln hinterher. Dann winkte sie Flo und Matty zum Abschied, bevor auch sie im Nachbarhaus verschwand.
Flo klatschte in die Hände. „Wollen wir die Girlande fertig machen?"
Matty nickte und zusammen befestigten sie das andere Ende der Girlande an einem Baum. Und als Flo fragte, ob er sich nett mit Wolf unterhalten hatte, gab er ihr nur eine nichtssagende Antwort. Er konnte es nicht beschreiben, aber irgendwie hatte er ein komisches Gefühl im Bauch, wenn er an Wolf dachte. So als ob er eine Treppenstufe ausgelassen hatte. Als er zurück in die Bäckerei ging, roch er immer noch Wolfs aromatisches Aftershave.
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